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Engelhörner — ein Sonntag in der Getrudspitze-Westwand

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in der Getrudspitze-Westwand

Chlaus Lötscher, Littau

Die ersten Jauchzer und Jodler am Sonntagmorgen in den Engelhörnern erschallen meist vom kleinen Simelistock her, und ihr Echo rennt über die Kingspitzwand rundherum durchs Ochsen tal, streift so die verschiedenen Hörner und die Kletterer, die auf unterschiedlich schwierigen Routen aufwärts steigen. Lange bleiben sie jedoch nicht allein, jene Glücklichen vom Simelistock, die schon bald den Gipfel erreichen, während sich andere noch weit unten auf schwierigeren Wegen abmühen, denn gegenüber vom Rosenlauistock und vom Gemssattel nehmen andere ihre Rufe auf.

Fast beneide ich sie ein wenig, diese fröhlichen Leute, so hoch oben, während ich auf einem kleinen schiefen Standplatz stehe und mein Gefährte Kari über mir sorgfältig die spärlichen Griffe abtastet. Schon länger als ein Jahr hat er nun von der Gertrudspitze-Westwand geschwärmt; heute, an diesem sonnigen Herbsttag, haben wir sie in Angriff genommen. Es war ein wenig ein Gehetze heute morgen: Um vier Uhr rasselte der Wecker; es folgten ein schnelles Morgenessen, eine Autofahrt von Littau zur Rosenlaui, darauf zwei Stunden Marsch bis zum Einstieg. Jetzt aber gibt es nichts mehr zu hasten; die Seillängen sind schwierig genug, so dass man auch mehr als genug Zeit hat, sich am gleichen Standplatz die Füsse zu « vertreten » und in aller Ruhe andere Seilschaften rund ums Ochsental ausfindig zu machen.

In der Kingspitz-Nordostwand klettern zwei Seilschaften, deren Rufe und Seilkommandos nicht zu überhören sind. Beide haben die Schlüsselstelle bereits hinter sich und können auf breiten Bändern gemütlich rasten. Bald werden auch von der Kingspitze herab die ersten Berggänger, welche die Normalroute gewählt haben, das Echo herausfordern.

Gleich neben uns sind zwei stille Männer am Werk; sie sprechen kaum, turnen dafür um so zügiger den luftigen Westgrat zur Ulrichspitze hinauf. Auf der anderen Seite, an der Vorder-spitz-Westkante, scheinen ebenfalls zwei Seilschaften am Werk zu sein; sehen kann ich sie zwar nicht, aber ihre Rufe verraten sie. Beinahe hätte ich über dieser Betrachtung einen anderen Ruf überhört, nämlich jenen von Kari, der mich nachsteigen heisst.

Die Wand wird mit jeder Seillänge ärmer an Griffen, die vielen Quergänge werden immer fei- ner, und noch stehen wir seitwärts und unterhalb jenes Wandteiles, der von weitem so glatt und poliert aussieht, dass man sich nur schwerlich eine Führe darin vorstellen kann; oben werden wir jedoch hineinqueren müssen.

Ich steige nach, klinke die wenigen Karabinerhaken aus; feingriffig zieht sich die Seillänge schräg rechts aufwärts, wo Kari auf einem kleinen Absatz steht, direkt unterhalb der senkrechten Gipfelwand, in der kein Griff und kein Tritt sichtbar ist. Wie soll das dort nur weitergehen? Doch Kari hat den Weg bereits ausgekundschaftet. Kaum bin ich bei ihm angelangt, da schickt er mich nach links. Wieder ein Quergang! Ich taste mich etwa fünf Meter hinüber, dann durch eine Verschneidung gerade hinauf. Standplatz. Ich richte mich ein und lasse Kari nachsteigen.

Nun habe ich wieder etwas Zeit, dem sonntäglichen Treiben im Ochsental zuzuschauen: Von der Ulrichspitze seilen sich mehrere Seilschaften ab und setzen die Überschreitung der Mittelgruppe mit dem Aufstieg zur Gertrudspitze fort. Kühn heben sich zwei Kletterer von der schmalen und luftigen Ulrichtspitz-Westkante ab. Jene an der Vorderspitze kann ich noch nicht sehen, und die Seilschaften in der Kingspitzwand sind bald beim Wandbuch.

Die Sonne brennt heiss, und Kari erreicht mich schwitzend und durstig; doch unermüdlich, wie er ist, steigt er gleich weiter. Wir können den angenagelten Steigbügel sehen, die schwierigste Stelle der nächsten Seillänge. Kari hat einige Mühe, bis er ihn fassen kann, steigt dann in die oberste Sprosse, pendelt nach rechts und muss sich weit ausstrecken, um einen Haken zu fassen zu kriegen. An kleinen, spärlichen Tritten und Griffen schiebt er sich weiter und erreicht den zweitletzten Standplatz. Ich wage noch nicht darüber nachzudenken, wie es dort weitergehen wird, denn der Fels scheint aalglatt, ohne jede brauchbare Unebenheit zu sein. Vorerst jedoch muss ich noch zu Kari hinauf! Schweiss tropft unterm Helm hervor. Ich habe einen Riesendurst, denn es ist schon spät am Nachmittag, 1Rosenlauistock-Gipfel. Über dem Rosenlauigletscher ragen das Rosenhorn, das Mittelhorn und die beiden Wellhörner auf 2Quergang im mittleren Wandteil Photos Chlaus Lötscher, Littau und seit morgens um vier haben wir weder etwas gegessen noch getrunken. Sorgfältig klettere ich -jetzt das Leiterchen... pendeln... strecken... ein Haken... kleine Griffe... Standplatz. Doch nun?

Es gelingt mir, Kari zu überreden, wenigstens einen Schluck zu trinken, denn im Rucksack lockt ein halber Liter Tee.

Inzwischen ist es ruhiger geworden im Ochsental; die Seilschaften sind auf dem Abstieg, und nur vereinzelte Rufe dringen von der Talsohle zu uns herauf. Noch zwei Seillängen bis zum Gipfel, die schwierigsten der Wand, liegen vor uns.

Kari brennt darauf, die nächste Seillänge in Angriff zu nehmen, und ich überlasse ihm gerne den Vortritt. Auf einem fussbreiten Bändchen quert er hinaus in die glatte Wand. Vorsichtig tasten seine Hände nach winzigen Griffen, von denen nicht einer überflüssig ist; von Auswahl keine Rede! Schliesslich verschmälert sich das Band bis auf wenige Zentimeter, um dann ganz aufzuhören. Die linke Hand an einem winzigen Griff, die Schuhspitzen auf dem kleinen Leistchen, versucht Kari nun einen Strick zu erreichen, welcher fix in der Wand hängt und mit Schlaufenknoten versehen ist, in die der Steigbügel gehängt werden kann. Durch kräftiges Ziehen prüft er das Seil auf seine Festigkeit, hängt den Bügel ein, steht in die unterste Sprosse, löst die Hand und - pendelt hinaus in die Wand. Ich bin aufs äusserste gespannt; doch Kari steigt seelenruhig den Bügel hinauf, hängt in neue Knoten ein, bis ein Dach den Weiterweg versperrt. Ein weiteres fixes Seil ermöglicht ihm, zwei Meter quer hinüberzuhangeln, wo auf einem kleinen schiefen Plateau der letzte Standplatz liegt. Nun beginnt die Akrobatik für mich. Bestimmt wirke ich nicht so elegant wie Kari, aber ich schaffe es auch.

Die letzte Seillänge muss mit Steigbügeln geklettert werden. Ein überdachter Riss führt abdrängend schräg hinauf. Diese letzte Länge fordert noch einmal das Letzte an Kraft; doch dann verkündet Karis Jauchzer, der mehr übermütig als schön tönt, dass er den Gipfel erreicht hat. Mit neuem Elan arbeite auch ich mich den Riss hinauf, froh, den unbequemen Standplatz verlassen zu können, bei dem das Dach ein aufrechtes Stehen unmöglich macht. Fast jedesmal, wenn ich mich nach einem Haken ausstrecke, um den Bügel einzuhängen, schlage ich mit dem Helm an den Überhang oder es drückt mich rückwärts aus der Wand. Nach einigen kurzen Verschnaufpausen überwinde auch ich diesen Riss und stemme mich zu Kari auf den Gipfel hinauf.

Unterdessen ist es sechs Uhr geworden; die Sonne steht schon tief. Zufrieden reichen wir einander die Hand, und dann werden Hunger und Durst vertrieben. Es ist ruhig geworden rund um uns herum. Bergdohlen umschweben uns; sie hatten uns mehrmals in der Wand besucht und begleitet. Wir teilen mit ihnen unser Essen. Von der Rosenlaui her schallt ein Posthorn, die Parkplätze haben sich geleert. Doch was wollen wir eilen! Die Stimmung ist vollkommen. Die sinkende Sonne beleuchtet die Wetterhörner, während es unten im Ochsental immer düsterer wird.

Erst bevor die Nacht einbricht, steigen wir ab. Der Weg ist uns ja gut bekannt: Über die Vorderspitze und den Simelisattel führt er talwärts. Von der Engelhornhütte her flimmert Licht. Zwei Stunden später kühlen wir die brennenden Füsse im kleinen Bach, unten auf der Rosenlaui.

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