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Erstabstieg durch die Obergabelhorn-Westwand

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Fr. Schmid

Mit 1 Bild ( 87Döttingen ) Es ist abends 5 Uhr, als mein Bruder Toni, Hans Wirth und ich am 27. August 1946 auf dem Obergabelhorn, 4073 m ü. M., stehen, wohl etwas spät für diese Jahreszeit. Der tiefe Neuschnee ist schuld daran. Im Gegensatz dazu hatte es Blankeis im Aufstieg zum grossen Gendarm. Während einer Stunde habe ich dort meine steifen Glieder mit Hacken erwärmen können. In tollen Sprüngen sind die Eisstücke die äusserst steile Nordflanke hinuntergeklirrt. Diesem Schauspiel zuzusehen ist ein kleiner Zeitvertreib meiner wartenden, bald « blau gefrorenen » Kollegen gewesen.

Auf eine ausgiebige Gipfelrast mit allen Bequemlichkeiten freuen wir uns vergebens. Das Wetter ist sehr zweifelhaft. Jede Nacht fast hat es in diesem Monat Neuschnee gegeben, zum Leidwesen der Zermatter Bergführer. So wird die kommende wohl keine Ausnahme machen.

Also nochmals einen kurzen Blick in den « Klubführer ». Arbengrat kommt nicht mehr in Frage. So wählen wir den Direktabstieg durch die Westwand. Es ist dies der « nächste Weg » zur Mountethütte, die uns im Aufstieg schon verlockend nahe schien! In unserem « Ratgeber » suchen wir indessen vergebens nach dieser Route.

Vom Gipfel aus kann nur das obere Wanddrittel überblickt werden. Es ist wohl steil, im übrigen aber ohne besondere Schwierigkeiten. Tief zu unseren Füssen, ca. 700 m entfernt, läuft die Wand in einen namenlosen Gletscher aus. Dieses Ziel wollen wir noch vor Nachteinbruch erreichen. Also los ans Werk!

Wir tauschen unsere Rollen und Toni geht voran. Auf leicht abfallenden Fels- und Schuttbändern tasten wir uns vorwärts. Es braucht etwas Vorsicht, da auch hier Neuschnee liegt. Mehr oder weniger in der Fallinie kommen wir mit einigen Quergängen rasch vorwärts. Eng aufgeschlossen sind bereits nach einer Viertelstunde 200 m Höhendifferenz zurückgelegt. Dann und wann scheint ein Stein in tollen Sprüngen mit uns wetteifern zu wollen. Dass dieser dann erst nach 500 m wieder sichtbar wird, macht uns aber etwas stutzig.

Doch die nächsten paar Meter klären uns bald auf: Jäh nimmt nun die Steilheit zu. Wir schätzen sie ca. 60 Grad. Wie emsige Dachdecker beim Schneeräumen auf einem riesigen Scheunendach kommen wir uns vor. Wenn wenigstens nur der Fels schneefrei wäre! Mit unserer Eile ist es nun aus! Einzeln und gut gesichert machen wir uns an den Weiterabstieg. Zu der zunehmenden Steilheit gesellt sich trügerisches Eis unter dem Neuschnee. Unsere Zehnzacker kommen uns sehr zustatten. Nur Hans, unser Mittelmann, scheint mit diesen Eisen wenig vertraut zu sein. Wenigstens habe ich Gelegenheit, mich nützlich zu machen und etliches Ausrutschen zu parieren.

öfter als notwendig schaue ich verstohlen auf meinen Chronometer. Dabei muss ich kleinlaut einsehen, dass wir in der Wand wohl noch von der Nacht überrascht werden. Aber ein Biwak bei diesen Wetterverhältnissen! Wir dürfen nicht daran denken.Von unten ertönt auf churerisch: « Noch-koo! » — Wir schalten eine kurze Pause ein, da die Wand nun bis zum Fuss überblickt werden kann. Was sich da uns aber zeigt, ist wenig ermutigend: Die Wand mündet direkt in eine 6 m breite Randspalte, die sich gegen 200 m nach Norden hinzieht. Ein Übergang ist nirgends sichtbar, und eine Umgehung wird wohl kaum in Frage kommen, da unser Ausweg nach links von einem 50 m hohen und teilweise überhängenden Eisblock versperrt ist.

Langsam, aber stetig kriecht unterdessen der Nachtschatten immer weiter herauf. In der Mountethütte brennt bereits Licht. Eine empfindliche Kälte macht sich bemerkbar. Mit steifen und fast gefühllosen Beinen flüchten wir endlich aus den untersten Felsen. Es folgt eine heikle Traverse des steil in die Randspalte abfallenden Eishanges. Unermüdlich suchen wir nach einer Brücke über den Schrund, leuchten mit unsern Laternen dahin, dorthin, doch ohne Erfolg. Es muss nicht sein, zu unserem Glück, wie wir anderntags feststellen können.

Wohl oder übel kommt nur noch ein Biwak in Frage. Bei dieser beissenden Kälte, bei unsicherem Wetter und ohne Schlafsack in einer Höhe von ca. 3600 m! Wir bereiten uns auf allerhand vor!

Am meisten Bedenken machen uns die vom Schneewaten fast gefühllos gewordenen Beine. Doch der alte Wahrspruch: « Unkraut verdirbt nicht » wird uns wohl auch diesmal vor dem Schlimmsten behüten!

Wir suchen nach einem Sicherungsblock und beziehen in den untersten Felsen der Westwand unsern « Horst ». Mit vereinten Kräften hacken wir eine Sitzgelegenheit zurecht und sind verwundert, dass das abgetragene Geröll von Steinen und Eisstücken fast lautlos unter uns verschwindet. Es ist die Randspalte, die senkrecht unter uns aus der Finsternis heraufgähnt und alles verschluckt. Nach langem Mühen können wir uns « häuslich » einrichten, nehmen unsere « Logenplätze » ein und hängen die Beine über den Abgrund. Nachdem die letzte Kerze ihr Leben ausgehaucht hat, sind wir in völliges Dunkel gehüllt. Eine Laterne ist längst schon im Bergschrund verschwunden.

Zu allem Unbehagen macht sich nach und nach der Durst als neuer Plaggeist bemerkbar. Trotzdem wir von Eis und Schnee umgeben sind, wagen wir nicht, damit den Durst zu stillen, denn wir wissen um deren Nachteil Immer deutlicher wird uns, dass die Sitzkur auf die Länge unseren Beinen gar nicht zuträglich ist. So verbringen wir den Rest der Nacht stehend. « Treten an Ort » ist neben ausgiebigem Zähneklappern der Hauptzeitvertreib. Aber es ist erst 23 Uhr. Die Petrollampe in der Mountethütte zündet immer noch zu uns herauf. Es sind wohl sesshafte Jassbrüder, die heute länger als üblich dem Hüttenwart Gesellschaft leisten, oder erwarten sie gar noch unser EintreffenWir verspüren immer mehr, dass wir schon 20 Stunden ununterbrochen auf den Beinen sind und dass das Schlafmanko uns zu schaffen macht. Stehend zu schlafen, ist bestimmt nicht bequem, und trotzdem müssen wir uns alle Mühe geben, nicht stehend einzunicken Immer wieder stossen wir uns wach, denn ein durch Einschlafen verursachter Sturz würde zum Verhängnis aller. Hans scheint sich um diese Wahrheit am wenigsten zu kümmern und muss deshalb von Toni wiederholt mit derben Püffen in die graue Wirklichkeit zurückversetzt werden. Immer noch nicht Mitternacht! Noch volle sechs Stunden bis zum MorgengrauenPlötzlich ein Heulen und Pfeifen 1 Instinktiv pressen wir uns an den Felsen, und schon sausen Schnee und Eisstücke über unsere Köpfe hinweg. Minuten-bruchteile scheinen eine Ewigkeit zu dauern. Und wieder ist alles still, und mühsam schälen und klopfen wir uns aus dem Schneestaub, der uns in Kleider und Schuhe gepresst wurde. Eine nicht leichte Arbeit auf unserm engen Standplatz. Und kaum sind wir fertig, wiederholt sich dieses « Intermezzo ». Und dies dreimal innert einer Stunde! Uns ist zumut, als sei uns lediglich noch eine Galgenfrist gewährt. Wie wir anderntags feststellten, handelte es sich um Gwächtenabbrüche am Gipfelgrat, ca. 500 m über uns. Sie sammelten sich in einem Couloir, das just in die Richtung unseres Biwaks ausmündete.

Eisabbrüche an der Dent Blanche, die mit Gepolter die Ostwand hinunterstürzen, wecken uns aus unserem Dahindösen. Schaurig ertönt das vielfache Echo in den Wänden der Walliser Viertausender. Wie weggeblasen ist der Schlaf bei solch entfesselten Naturgewalten, und recht klein und hilflos kommen wir uns vor.Mit der ersten Tageshelle recken wir unsere Glieder und machen uns sogleich an den Abstieg. Der nicht besonders bezeichnete Hängegletscher, am Fuss der Westwand, wird in nordwestlicher Richtung überquert. Nach 200 m jedoch stehen wir vor einem senkrechten Eisabbruch von ca. 50 m Höhe. Wie wäre es wohl ausgegangen, wenn wir nachts an dieser Stelle angelangt wären!

Zurück und wieder in die Felsen der Westwand ist der einzige Ausweg aus diesen haushohen Eisbrüchen. Zwei Felshindernisse von 25 m Höhe müssen mit Abseilen überwunden werden, und dann stehen wir morgens 10 Uhr endlich auf dem Glacier Durand, und in einer knappen Stunde ist die Mountethütte erreicht, wo wir nach 33 Stunden Marsch unsere Pickel in den Rechen stellen.

In Zermatt zurück vernehmen wir, dass die Obergabelhorn-Westwand im Abstieg bisher noch nie begangen worden sei. Das stimmt uns froh und stolz und lässt die Strapazen der Nacht vergessen!

Als Sitztourist und längs Pisten ins Gebirge

Mit 2 Bildern ( 88, 89Von Max Oechslin Wir waren das Urner Reusstal hinaufgefahren, hatten diese Fahrt mit dem Zug gekostet, in dieser Talschaft, in der man immer wieder so viel Ursprüngliches und Schönes findet. Und oft sieht es just so aus, als fahre man in einen tiefen Felsgraben hinein und als müsse der Zug schon am Fuss der Bristenstockpyramide im Berginnern verschwinden, weil das Tal da sein Ende finde und es für den Schienenweg kein Weiter mehr gebe. Dann aber steigt auch der Zug auf seiner Slalomlinie hinauf, lässt Amsteg in der Tiefe liegen, das sich immer mehr als ein Häuserhaufen zeigt, von dem die Kraft-leitungsstränge talab und talauf weggehen. Wo das enden wird, wenn der Mensch seine Verindustrialisierung der Landschaft aus den Ebenen des Mittellandes noch weiter hineinträgt in die Gebirgstäler? Da und dort werden Lawinen und Felsstürze ein Ausweichen fordern. Aber, wer weiss, was der « technische Mensch » noch alles herausfinden wird? Nicht nur höhere Gitter-masten, die kurzweg die Leitungsdrähte ( Seile !) über die Lawinencouloirs und Felssturzhänge hinwegheben 1 — Der Zug fährt durch Tunnels, überfährt auf kühnen Brücken die Tobel, wechselt auf die Talseiten, je nachdem sich bessere Spur ergab, als vor acht Jahrzehnten die Gotthardbahn erbaut wurde. Selten trifft man ein Werk, das in gemeinsamer Arbeit von Ingenieuren und Talleuten so gründlich projektiert wurde, wobei die letzteren auf die Naturgewalten hinwiesen und die ersteren im weisen Beachten dieser Dinge eine Trasse wählten, die nicht besser gefunden werden konnte. Kehrtunnels helfen mit, die grosse Talstufe Amsteg-Göschenen zu überwinden. Oberhalb Wiler liegt beim Pfaffensprung der Stausee, der das grosse Kraftwerk bei Amsteg speist; daneben steht das Maschinenhaus des Kraftwerkes, das seine Wasser aus dem Staubecken in Gesehenen und aus der Meienreuss erhält. Das Dorf Wassen sieht man dreimal, so windet sich der Zug hier in einem S durch Tal und Berg hinauf. Die Berggipfel zeigen sich beim Blick talauswärts wie Pyramiden und Dachfirste, talaufwärts als Türme und Grate des Granits. Fuhr man im Talgebiet von Urnersee–Erstfeld durch Kalkgebirge und breite Täler, deren Querschnitt einem U gleicht, da und dort durch Hangterrassen und Moränenablagerungen umgeformt, so erinnerte das Tal zwischen Amsteg und Göschenen und die Gräben, die seitlich einmünden: Maderanertal und Fell einerseits, Gornern, Meiental und Göschener Alptal anderseits, an Täler von V-Form, die in der Schöllenenschlucht ihre ausgeprägte Fortsetzung erfährt bis zur Urserntahnulde, wo die Schotter der Gletscher und Bäche den Talboden auffüllten, so dass nur noch der obere Teil des V sichtbar ist.

Im U-Tal, um nur eine Folge derartiger Talbildungen für den Menschen zu erwähnen, kann die Alpwirtschaft in der Regel mit grossen Weideflächen rechnen, die auf wenig Stafel verteilt sind und deshalb bei der Alpung nur einen kleinen Stafelwechsel verlangen: der Bauer steigt im Vorsommer vom Talbodengut mit seinem Vieh auf den Unterstafel, verbleibt hier drei bis vier Wochen, steigt dann um Mitte Juli auf den Oberstafel und sommert hier sein Vieh bis gegen Mitte-Ende August, um dann wieder zum Unterstafel für die Endsömmerung zurückzukehren, da hier mittlerweile das Weidegras wieder nachgewachsen ist. In der zweiten Septemberhälfte erfolgt die Alpabfahrt ins Talbodengut. Die Zahl des Stafelwechselns ist gering. Ganz anders im V-Tal. Hier breiten sich keine grossen Weidgebiete. Im schmalen Talgrund, auf kleinen Terrassen und bis nahe an die Gletscher liegen die Weideplätze, zu denen oft nur steile Viehwege führen. Die Sömmerungszeit gleicht hier deshalb einem steten Wandern, einem Nomadenleben der Älpler, die mit ihrem Vieh oft nur wenige Tage auf einem Stafel verbleiben können und dann wieder weiterziehen müssen, damit die Kühe und Rinder genügend Nahrung finden. Deshalb fehlen hier vielfach gute Alphütten und Ställe. Mit dem einfachsten Unterschlupf muss der Bergbauer zufrieden sein, und das Vieh bleibt meistens während der ganzen Sömmerungszeit Tag und Nacht im Freien, bei gutem und schlechtem Wetter, während in den U-Tälern mit dem kleinen Stafelwechsel der Bauer mit der ganzen Familie zur Alp zieht, Stall und Sennhütte mit Stübli und Kammer erstellt und die Alphütten sich oft zu eigentlichen Weilern zusammenscharen.

Wir hatten Göschenen erreicht und standen auf dem Platz vor dem Bahnhof — oder hinter dem Bahnhof? Es ist nicht immer leicht zu bezeichnen, was bei diesen Gebäuden vorn oder hinten ist. Der Dorfbewohner wird die seiner Ortschaft zugekehrte Seite als die Hauptfassade bezeichnen, der Bähnler aber die andere Seite. In Göschenen aber war noch vor vier Jahrzehnten der grosse, dreieckige Platz der Vorplatz, auf dem Dutzende von Pferdefuhrwerken standen: Lastwagen mit gewichtigen Rädern, Karren, Droschken und die gelbe Gotthardpost, wie man sie nach dem Gemälde Rudolf Kollers noch in Erinnerung hat. Kutscher und Knechte standen herum, Portiers und andere Gasthofleute, Fremde waren zu treffen, und ein emsiges Leben herrschte, Rufen, Reden und Pferdegewieher. Und selbst die Buben mit der Handschaufel und dem Korb fehlten nicht und waren als eine Art Berufsleute da, um die Rossbollen laufend aufzunehmen und weg-zutragen. Der alte Gebhard habe sogar ein Vermögen damit gemacht. Eine kleine Sonderlichkeit, diese Rossbollenknechte! Aber der Stadtleser aus Zürich möge sich einmal zurückdenken in die Zeit des Rösslitrams. Sie endete Anno 1898. Da waren auch noch derlei Berufsleute nötig, um die Stadtreinlichkeit erhalten zu können. Nur ward das da viel berufsmässiger erledigt, mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und mit einem langgestielten Reisigbesen, der mit einem Schwung geführt wurde und durch die regelmässige Benützung eine bestimmte Form angenommen hatte. Hier aber, auf dem Bahnhofplatz zu Göschenen, war damit aber noch eine gewisse Poesie verbunden: den Jungen gehörten die Bollen, und die Buben verstanden es, ab und zu einen schönen, runden über alle Köpfe hinweg, über Pferde und Menschen und Wagen, bis zur Oberstrasse zu werfen, wo eben der Bäbeler vorüberschritt, dieser Dorfweibel, der immer wieder diesen Buben nachstellte. Auch Sonnenschirme waren ab und zu prächtige Zielscheiben... Heute? Ja — heute ist der Göschener Bahnhofplatz meistens leer. Fast vermag Gras zwischen den Pflastersteinen zu wachsen. Die Pferdefuhrwerke haben den Autos weichen müssen, und diese fahren durchs Dorf und am Platz vorbei. Nur wenn Schnee den Gotthardpass sperrt, kommen sie noch zum Platz und überqueren ihn zur Verladerampe. Dem Bahnhof gegenüber steht einer der feldgrauen Schuppen. Feldgrau, diese Militär-farbe, die seit dem letzten Weltkrieg so viel erfasst und zugedeckt hat oder wenigstens zu tarnen suchte... Ab und zu stehen die Wagen der Schöllenenbahn davor, eben diese Bergbahn, die nach Urseren hinaufführt und die Verbindung mit Oberalpbahn und Graubünden und mit der Furkabahn und dem Wallis herstellt und wohl mit den Autos zum Hauptschuldigen wurde, der den Schöllenenpferdefuhrwerken den Fahrboden sauer machte.

Zur Saisonzeit — eigentlich ein komischer Begriff, spricht doch ein jedes Gewerbe von einer Saison, wobei nach einem alten Wörterbuch das heissen soll: « günstiger Zeitpunkt zu etwas » — also zur Saisonzeit der sommerlichen Fremdenindustrie stehen auf diesem Bahnhofplatz die neuen P. T. T.-Postwagen, die Cars ( es tönt schöner und heutiger ), bereit, die Reisenden nach Wassen und durch das Meiental zur Sustenpasshöhe zu führen und durch das Gadmental hinaus nach Meiringen, wo ein eigentlicher P. T. T.-Wagenpark steht und nach allen Richtungen weiterführt. Die Fremdenindustrie ist daran, ganzjährig zu werden, zumal da, wo sie mit Musik und Tanz und andern Unterhaltungen verbunden ist. Die kurzen Unterbrüche sind nur noch Pausen, die einen neuen Schlager einleiten.

Mit diesen P. T. T. Wagen mit der Dreiklanghupe fahren heute auch die Touristen. Deshalb begann für uns der Begriff Sitztourismus zu einer besondern Angelegenheit zu werden. Beim Bergsteigen hat sich eine neue Form ergeben, neben derjenigen, die Seilzug, Karabiner, Haken und Hammer benötigt und vielfach an eine Art Schlosserei erinnert, der Sitztourismus. Ein prominenter Verkehrsmann hat darüber einmal geschrieben: Man setzt sich in die Eisenbahn und sitzt nach Ferienbad, setzt sich in die Bergbahn und sitzt auf das Bergdorf hinauf, man sitzt in die Sesselbahn und sitzt... Aber wir wollen unserer Schilderung nicht vorgreifen! Für alle Fälle: mit dem Sitztourismus kann man heute auf einen Berg hinaufsitzen und wieder von der Bergeshöhe nach Hause sitzen, ohne grosse Beinbewegungen machen zu müssen. Die Anstrengung kann höchstens anderswo sich bemerkbar machen.

Also: auf dem Bahnhofplatz von Göschenen setzten wir uns in das Postauto, mit Stock und Rucksack. Der Reihe nach las der Posthalter die Namen der Mitfahrenden ab seinem eidgenössischen Postpersonen-beförderungsformular. Er stülpt sich jeweils für diese Prozedur eine besondere Mütze mit Hauptmannsgrad auf, die auf seinem gesunden Gesicht sich nicht übel ausmacht. Zwei Einheimische erhielten noch Stehplätze. In Wassen gesellten sich noch drei hinzu. Sie fuhren nur bis Husen und Fernigen, teils wegen Wildheus, teils wegen Kälbern. Im übrigen setzte sich die Gesellschaft aus lauter Schweizern zusammen, denn um Mitte September fehlt das « fremde Element », das sich erst im Winter wieder zu den Stadt-eidgenossen gesellt, die ihr verlängertes Weekend zum Skifahren benützen. Mein Botanikprofessor weiland Carl Schröter sprach jeweils von der Weekente als einem verwandten Vogel zum Storch, nur weniger achtbar. Item: wir fuhren mit Dreiklanggehupe durch Göschenen, längs dessen Strasse verschiedene Wirtshäuser stehen, aber immerhin nicht so viele wie zu Wassen, dessen Dorfplatz — der viereckig ist — geradezu von Gaststätten umstellt ist. Sie scheinen, die Urner nämlich, noch sehr durstige Kehlen gehabt zu haben, als sie noch die Säumerei über den Gotthard ins Ennet-birgische und zurück besorgten. Vielleicht stammt der Ausspruch der alten Eidgenossen aus diesem Tal und dieser Zeit: « Sie tranken noch eins, eh'sie gingen. » — Andere behaupten allerdings, die Gaststätten habe man von wegen der Fremden errichtet. Immerhin scheint mir Wassen ein typischeres Passwegdorf zu sein als Göschenen, dessen vorderer Teil aus der Bahnbau-zeit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts stammt. Das alte Göschenen, der untere Teil, bei der Zollbrücke mit den Torbogen dagegen, ist recht schön. Leider sehen so wenig Touristen dieses « Geschinen » von Anno dazumal. Wer zu Fuss wandert, sollte abseitsliegende Wege gehen; er sieht in der Regel viel mehr und viel schönere Dinge als längs der Autostrassen. Unterhalb Göschenen steht zur Rechten der Strasse der Teufelsstein, der noch heute einen Farbton von Schokoladebraun zeigt, denn er diente einmal als Reklameblock einer Firma, die solche Süssigkeit in Braun herstellt. Keine leichte Sache, denn es gab Jahre, die gar nicht weit zurückliegen, die'sehr viel « in Braun » getätigt haben und unbekömmlich waren.Der Teufelsstein ist heute als ein « Sagenstein » geschützt. Sonst wäre er schon lange zu Pflastersteinen verarbeitet worden. Mit diesem Stein hängt nämlich folgendes Geschehen zusammen: Als die Urner vor unzähligen Jahren, es mögen wohl viele Jahrhunderte gewesen sein, in der Schöllenen zwischen den Steilwänden mit kühnem Bogen eine Brücke gemauert hatten, da sei der leibhaftige Satan erschienen, um die Seele des ersten Lebewesens zu fordern, das über die fertige Brücke schreite. Der Bauherr sagte zu und erschien zur festgesetzten Mitternachtsstunde, begleitet von altem und jungem Volk, mit einem Ziegenbock, dessen Gehörn wahrhaftig eine-fürchter-liche Ähnlichkeit mit der Haupteszierde des Herrn der Unterwelt aufwies. Mit einem grinsenden Gesicht hockte der Erdenallgewaltige ( denn er soll noch heute mit der Sünde weit mehr auf unserm Himmelsgestirn zu walten und zu verwalten vermögen, als Tausende von Engeln erreichen ) auf der Felsbank, wo vor Jahrzehnten das Suworowdenkmal in die Granitwand gehauen worden ist. Der Baumeister stellte sich an das untere Brückenende, stellte den Ziegenbock vor sich hin. Und als dieser gegenüber das sonderliche Ebenbild bemerkte, nahm er vorerst die stutzige Stellung ein, die Böcke immer einnehmen, wenn ihnen eine gewisse Gleichheit begegnet, setzte die Hinterbeine fest ein und stob mit einem scharfen Sprung über die Brücke hinweg, Kopf nach unten, Hörner zum Anhieb bereit, direkt auf den Teufel zu — derweil der Baumeister mit lauter Stimme rief: « Da hast du deine erste Seele! » Der Satan war im selben Augenblick verschwunden. Wo er gehockt habe, sei der Felsen eine Weile rotglühend gewesen und dann schwarz geworden. Den Ziegenbock habe man auch nicht mehr gesehen. Im Dunkel der Nacht sei lediglich ein sprühendes Feuer talaus gefahren. Aber anderntags, als der Morgen über dem Rienzenstock mit erstem Dämmern begann, da sei von Gurtnellen her der Teufel in schrecklicher Menschgestalt den Saumweg hinaufgeschritten, auf dem Nacken einen hausgrossen Felsblock, so dass er bisweilen an den Tannen anstiess und diese wie Zündhölzer brach oder wie Grashalme zur Seite bog. In Wassen sei er glücklicherweise über Dieden und Urschlaui geschritten — wohl weil er beim Pfaffensprung nicht über den Fluss wollte, denn er meidet Orte, die mit diesem Herrennamen gezeichnet sind —, sonst hätte er in Wassen eine ganze Häuserreihe umgelegt. Er hatte vor, den Felsblock in die Schöllenen zu tragen, die Brücke einzuschlagen und den Block an deren Stelle zu setzen, um damit zu sagen: « Seht nur, ihr Menschlein! Tausend Quader braucht ihr, wo ich einen einzigen Block hinlege, um eine Brücke zu bauen. » So hatte er Göschenen erreicht, setzte den Felsen ab, um eine Weile zu rasten und ihn gehöriger aufzusetzen, ehe er in diese tiefe Felsschlucht stieg. Diesen Augenblick aber benützte die alte Grit aus dem Rien, die allein auf dem Hof zurückgeblieben war, da sie ein halblahmes Bein am Fliehen verhindert hatte ( derweil alle Gesunden in den Wald sich verbergen gegangen waren ), um ein Kreuzlein auf den Felsblock zu zeichnen und dem Teufel zuzurufen, dass auch dem Satan alle Last zu gross werden könne, wenn sie im Kreuz sitze. Da sah sich der sonst All-gewaltige überlistet. Mit lautem Fluchen stob er davon und liess die Leute am Schöllenenweg in Ruhe. Aber er hat dann Anno eintausendneunhundert-° vierzig und fünf allerorten eine Unzahl von Brücken zerschlagen, als wolle er um einer Ziegenbockseele willen bittere Rache üben. Denn auch dem Ziegenbock in der Schöllenen sei eine Lockensträhne in die Stirn gehangen...

Seither steht dieser Felsblock neben der Gotthardstrasse unterhalb Göschenen, vom Volksmund « Teufelsstein » geheissen.

Wir hatten Wassen erreicht und fuhren nach kurzem Halt ins Meiental hinein auf der neuen Sustenstrasse, die wahrhaftig ein wahres Kunstwerk bedeutet und dem unbekannt gebliebenen Studenten, der diesen Strassenzug in seiner Diplomarbeit in dieser einfachen und glänzenden Weise zu lösen verstand, alle Ehre einsetzt. Leider fährt das Postauto trotz dem vorgeschriebenen 30-Kilometer-Tempo immer noch zu rasch, um dem Sitztouristen alle Schönheiten der Landschaft und die vielen interessanten Dinge der nähern und weitern Strassenumgebung gründlich zu zeigen. Wie in einem vorbeirollenden Film muss alles gesehen werden: die Meienreußschlucht, die von schlanker Brücke, zwischen zwei Strassentunnels gespannt, überquert wird, die Gotthardbahn-brücken oberhalb und unterhalb; der Blick auf das Dorf Wassen mit den stolzen Giebelbauten und der hochgestellten Dorfkirche, die zusammen von einer Hablichkeit erzählen; der Blick talaus auf Windgälle, Rinderstock und Balmeten, die sich zwischen die scharfen Kammlinien der Talwände stellen, als schaue man durch ein weitgeöffnetes Fenster hinausbis sich dann plötzlich beim Strassenkehr ein Gittermast der Hochspannungsleitung just vor dieses prachtvolle Bild schiebt und den Beschauer an die Hand des technischen Menschen erinnert, der so viel Gestaltung und Verunstaltung zustande bringt. Die Strasse führt dann ins Meiental hinein, längs felsigem Hangwald. Gegenüber liegt die Meienschanz, deren Ruinen in jüngster Zeit renoviert worden sind, damit der Fusswanderer, so er über den alten Saumweg ins oder aus dem Meiental schreitet, an die Zeit alter Freiheitskämpfe erinnert werde. Bei Husen weitet sich das Tal. Im Hintergrund zeichnen sich die Fingerstöcke als kecke Felstürme ab; auf der schattigen Talseite deuten die Steinschlagrinnen und Lawinencouloirs auf die Wildheit des Hochgebirges hin und auf den unerbittlichen Kampf, den hier der Bergwald auszufechten hat, um bestehen zu können. Wie ein grosser Felskessel öffnet sich das Kartigel. Über der Felswand liegt der Gletscher, flankiert vom Mittagsstock und Fedenstock. Den Sonnseithang haben die Talleute im Lauf der Jahrhunderte weitgehend entwaldet, um Viehweide und Heuplätze, Schaf- und Ziegenlaufplanggen zu gewinnen, aber in der Folge auch die Last der sich bildenden Lawinenhänge und Rüfizüge erleiden müssen. Der Berg rächt sich, wo der Mensch masslos Hand an ihn legt. Über den Hängen stehen die Felsbastionen, die sich vom Sehyen bis zu den Gräten des Musenplangg-stockes hinziehen. Ein prächtiges Wander- und Klettergebiet. Dörfli, Kapelle, Rüti, Fürlaui ( was wohl soviel wie vor der Laui heissen soll ) und Fernigen sind die Dörfchen und Weiler dieses Tales, das politisch zu Wassen gehört. Es zählte vor einem Jahrhundert doppelt so viele Einwohner wie heute, entvölkerte sich dann aber nach dem Bau der Gotthardbahn, nicht etwa, weil im Tal nicht mehr zu wohnen war, sondern weil die Talleute ein-träglicherer und auch bequemerer Arbeit im Haupttal nachgingen. Durch den Paßstrassenbau kommt vielleicht wieder mehr sesshaftes Volk ins Tal. Hinter Fernigen öffnet sich zur Rechten das Gorezmettlental, das zur Einsattelung zwischen Krönte und Zwächten hinaufführt. Früher soll über diese Scheide noch ein Weg nach Engelberg geführt haben, über Grasplanggen, Gletscher, Firn und Felsen hinweg. Ein Felssatz, von dem aus man letzten — oder ersten — Blick ins Tal geniesst, heisst noch heute der Juzfad, weil der Wanderer hier mit frohem Jauchzen, Juzen, das grüne Tal in der Die Alpen - 1949 - Les Alpes27 Tiefe grüsste. Topographen haben daraus das Wort « Judfad » gemacht, obschon dieser Ort weder mit Juden noch mit Krämern etwas zu tun hat. Die Strasse steigt nun den Hang hinauf gegen die Silbern, wo der Steilhang mit weitausholender Doppelkehre überwunden wird, bis man die Passhöhe erreicht, das heisst den 300 m langen Scheiteltunnel, der unter der obersten Kühne durchführt. In der Taltiefe breitet sich die ausgedehnte Hinterfeldalp, etwas schlecht gehalten und durch den Strassenbau stark hergenommen. Der Ausblick ins Kalchtal mit seinem sterbenden Gletscher und dem Steilaufstieg der Felswand zur Voralp hinüber, östlich der Stücklistock, westlich das Kleinsustenhorn, gehört zum Schönsten dieser Talseite, nicht zu vergessen der Blick talauswärts gegen den Rienzen-Fellihorngrat, der wie einet graublaue Wand den Talabschluss bildet. Wer im Abendsonnensinken den Susten von der Berner Seite herkommend begeht, der wird diesen Ausblick nicht vergessen! Ich erlebte ihn einmal, als der Föhn in brodelnde Wolken einbrach und das purpurne Licht der letzten Sonnenstrahlen durch die Nebellücken seine Pfeile warf!

Sustenpasshöhe.

Das Postauto parkiert eine gute Weile auf der Westseite des Passes. Denn man muss von der Strasse an die 100 Meter hinaufsteigen, um auf der Passhöhe zu sein. Aus militärischen Gründen wurde hier ein Scheiteltunnel erstellt, es kommt aber vor, dass Meister Wind auch diesen Passdurchstich mit seinem Schneetreiben zu blockieren vermag, zumal dann, wenn im Spätherbst die Portale nicht rechtzeitig geschlossen werden.

So stiegen auch wir zur Passhöhe, wo Kioske — in der Mehrzahl — und Restaurant den Kuhn bezeichnen. Und da wurde uns eine weitere Art von Touristen bekannt, die ebenfalls mit Sitztourismus zusammenhängt, aber in der Kleidung eine eigene Uniform trägt: die Lederjacke. Oder Stoffarten und Imitationen, die Leder zu ersetzen haben. Diese Lederjackentouristen fahren fast durchwegs mit Motorrädern durchs Land und über die Pässe, in jüngster Zeit auch mit den Jeeps oder ähnlichen Vehikeln, deren Durchfahrt man mit Ohr und Nase bemerkt und nicht nur sieht. Es ist ein « moto-risiertes Proletariat » ( wobei wir diesen Ausdruck nicht im schlechten Wort-gebrauch, sondern als Bezeichnung verwenden möchten ), ein « Lederjacken-proletariat », das unsere Berge und Täler durchfährt, wo immer Strassen vorhanden sind. Diese haben alles Geruhsame vergessen und erledigen im Tag in der Regel Hunderte von Kilometern. Hinauf und hinab. Auf der Höhe wird kurz angehalten, um die Umgebung zu sehen, die Beine etwas zu strecken und zu bewegen, einen Blick in die Weite zu tun; unten im Tal wird gehalten, wenn bestimmte Essenszeiten auf dem Zifferblatt stehen oder der Staub aus der Kehle geschwemmt werden muss..Schiusa folgt )

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