Erstbesteigung in der Cordillera Bianca in Peru
Mit 2 Bildern ( 57, 58Laupheim ) Wir packten den Stier bei den Hörnern. Neue Richtung: geradeaus, mitten hinein in den gewaltigen Eisbruch, der nun mit einem Eispanzer von senkrechten, hinter- und übereinander gestaffelten, zum Teil überhängenden Wänden den Durchstieg durch die nächsten fünfhundert Höhenmeter und damit den Zugang zur Garganta verwehren wollte. Doch was aus der Ferne in seiner Geschlossenheit wie eine unüberwindliche Eismauer aussieht, das kann unter den spähenden Blicken Entschlossener aus der Nähe seine Schwächen nicht mehr verbergen. Risse, Schneeverwehungen, Eistrümmer bilden Angriffspunkte. Brücken helfen weiter. Ausserdem ist das Eis plastisch, es lässt sich bearbeiten, lässt Tritte meisseln, wenn notwenig Tunnel und Stollen graben. So begannen wir mit dem Wühlen und Eishacken. Das neckische Versteckspiel hinter Eistürmen und Wänden wollte nicht mehr enden.
Unsere Träger liessen wir, um sie vor Umwegen zu bewahren, eine Stunde später in der Spur nachkommen. Doch an einer etwas heiklen Eisspalte wurde es ihnen doch zu abenteuerlich, und so traten sie prompt in Streik. « Es geht nicht mehr », brüllten sie herauf, « Fabian stirbt. » Dreihundert Meter waren wir etwa über ihnen und technisch in den schwierigsten Abschnitt des Anstieges gelangt. Diesen Teil wenigstens wollten wir erst erkunden, um uns damit überhaupt ein Urteil zu verschaffen, ob der Gipfel auf diesem Wege für den nächsten Tag in Frage kam. Die Stelle, an der unsere amigos hingen, war zwar ein bisschen schwierig, aber schliesslich wussten wir auch, was wir ihnen zumuten konnten. Ein Grund zum Sterben war dies nicht. Nachdem auch der alpine Fernunterricht erfolglos blieb, packten wir sie, wie schon öfters vorher, erfolgreich an ihrem alpinen Ehrgeiz an. Sie sollten sich ruhig ein bisschen ausruhen, brüllten wir. Es könnte nichts passieren, denn sie befänden sich auf einem typischen « Camino de bicicleta ». Sicher käme bald ein Lastauto und würde sie heraufnehmen. Übrigens könnte Fabian auch hier oben und dazu viel genussreicher sterben. Das zündete. Es kam wieder Bewegung in ihre Reihen. Nach mehreren Ansätzen meisterten sie die Stelle schliesslich doch. Tief unter uns bewegten sich zu unserer grossen Erleichterung wieder die kleinen, schwarzen Menschlein im flimmernden Weiss.
Etwa anderthalb Stunden dauerte es noch mit allen Kunstpausen. Dann kamen sie angezottelt, ziemlich abgekämpft, doch stolz auf ihre alpine Leistung. « Nada de dudas y vacillaciones, querodos campaneros, nicht zweifeln und schwanken, geliebte Kameraden. » So begrüssten wir sie. Einer der gängigen Aufmunterungsscherze, die nie ihre Wirkung verfehlten. Die Boys lächelten matt und liessen sich auf ihre schweren Rucksäcke fallen.
An ein weiteres Vordringen war angesichts dieses kleinen Trauerspiels heute nicht mehr zu denken. Wir pulverten Fabian mit etwas Cardiazol wieder auf. So zog er es vor, vorerst nicht zu sterben, und liess es sich auch nicht nehmen, uns beim Zeltbau zu helfen. Anschliessend wurden sie mit der Weisung nach dem unteren Zeltlager entlassen, uns am folgenden Tag hier wieder abzuholen. Bis dahin wollten wir den Gipfel erreicht haben und uns auf dem Abstieg befinden. Sie nahmen das Seilgeländer mit, das sie an dem Mal-paso anbringen sollten, und rannten die Spur abwärts. Wie kleine übermütige Jungens freuten sie sich, winkten zurück und verbesserten durch Zwischen-spurts gegenseitig ihre Plätze.
Wir hatten nicht übermässig viel erreicht. Dreihundert Höhenmeter im Anstieg in zwölf Stunden. Aber diese dreihundert Höhenmeter hatten es in sich. Der gewaltige Eisbruch war zur Hälfte überwunden. Siebzehnhundert Meter Steigung am ersten Tage, dreihundert am zweiten, so blieben für den dritten noch tausend Meter. Bei guten Wetterbedingungen und vernünftigen Eisverhältnissen hatten wir eine gute Chance, am kommenden Tag den Gipfel zu erreichen, zumal wir heute noch Zeit hatten, den Weiterweg zu erkunden.
So machten wir uns zuversichtlich für die Nacht bereit. Mitten im gewaltigen Eisbruch schmiegten sich unsere Zelte an windgeschützter Stelle eng an die Wände. Manchmal tauchte in dicken Kleidern und gesträubten Haaren unbeholfen ein Mann aus dem Zelt auf, stieg den kleinen Hüttenhang hinan und blickte in die Runde. Im Tale krochen schon die Schatten der Nacht. Der Berg ging schlafen, und wir auch.
Ausgesprochen angenehm sind solche Nächte zwischen fünf- und sechstausend Meter nicht. Man schläft während eines Teiles der Nacht ganz zufriedenstellend, aber gegen Morgen dringt die dünne Kälte durch Schlafsack und Wollkleidung. Unangenehm ist der Eisstaub allüberall im Zelt. Infolge der Atemfeuchtigkeit sublimieren an den Zeltwänden feine Eiskristalle, die bei Windstössen als Eisnadeln herunterfallen und allmählich Schlafsack und Zeltboden mit einer dünnen Eisschicht überzuckern. Seidenbatistüberzug für den Schlafsack ist bei langem Biwak unter null Grad daher sehr zweckmässig. Hervorragend hat sich eine zolldicke Isolierungsmatte aus Mikro-zellit bewährt.
Am folgenden Morgen liess uns der eisige Wind vor 7 Uhr nicht aus den Zelten heraus. Das Wetter war klar. Der Schnee vollkommen verharscht. Nun galt es den Gipfel — heute oder nie!
Durch eine weitausladende Eisspalte führte der Einstieg in eine überhängende Eiswand. So machten wir aus der Not eine Tugend und erstiegen durch die Spalte von rückwärts den über uns gelegenen Eisbalkon. Das Greifen der Zwölfzacker im blanken Eis ist gegenüber der Schneewühlerei tags zuvor ein reiner Genuss. Über steile Eisschneiden und Schneebrücken gelangen wir im Zickzackkurs immer wieder zu den nächsthöheren Eisgalerien. Nach der Frühstückspause, in der die Tropensonne schon eine mächtige Hitze entwickelt, wechseln wir in der Spurarbeit. Allmählich wird die Neigung geringer, der Gletscher geschlossener. Wir haben Glück, denn auf luftigen Brücken können wir einige der grossen Querspalten überschreiten, die sich in der ganzen Breite vom Nord- bis zum Südsockel der beiden Gipfel spannen.
Schliesslich müssen wir die letzte im grossen Bogen nach Süden umgehen, als vor unseren Füssen eine Schneebrücke in die Tiefe segelt.
Der Bruch ist überwunden. Vor uns liegt zwischen den beiden Gipfel-aufbauten die weite Pampa des Sattels. An den Eisflanken der beiden Gipfel werden die Sonnenstrahlen wie durch einen mächtigen Hohlspiegel zurückgeworfen und steigern die Hitze im Brennpunkt, in dem wir uns befinden, zu einer fast unerträglichen Glut. Apathisch wanken und waten wir durch die Ebene bis an den Fuss des Nordgipfels. Die Luft ist lahm und faul und scheint überhaupt keinen Sauerstoff mehr zu enthalten. Diese ebenen vierhundert Meter waren das mühevollste und trübsinnigste Stück der ganzen Besteigung.
Nach kurzer Rast gehen wir weiter. Die letzten sechshundert Meter Eishänge, die in massig steiler Neigung zum Gipfel hinaufführen, liegen vor uns. Ob es noch einmal einen harten Firn auf dieser Welt gibt? In der Sonnenglut der Pampa war der Schnee zu einem fast grundlosen Sumpf aufgeweicht. Jetzt im Schatten spuren wir wieder knie- und hüfttief durch stäubenden Pulverschnee. Der Kräftezerfall in sechstausend Meter Höhe macht sich sehr rasch bemerkbar. Schon das Fotografieren kostet eine Überwindung. Bückt man sich rasch, so fängt man wie eine alte Lokomotive an zu keuchen, nur um den notwendigen Sauerstoff wieder in die Lungen zu pumpen.. Man wundert sich schliesslich nicht mehr, wenn die Hochlandindiander solche Bierfass-brustkasten haben.
Beim weiteren Aufstieg haben wir unerwartet Glück. An dem erst breiten, sich später verschmälernden und steilaufschwingenden Eisrücken treffen wir windgepressten Firn und zum Teil Blankeis an. Es ist eine Erlösung. Die körperliche Anstrengung von vorher sinkt auf einen Bruchteil herab. Dazu tritt begünstigend ein psychologisches Moment. Durch die Steilheit und Ausgesetztheit der Eishänge werden wir aus der sturen Eintönigkeit herausgerissen. Es ist für den Menschen offenbar bekömmlich, ab und zu über einem Abgrund zu hängen. Gefahr wirkt nervenanregend und erfrischend. Immer nach zwei Seillängen wechseln wir in der Führung und kommen gut voran. Unter dem Vorgipfel gönnen wir uns sogar eine kurze Rast, knabbern etwas Schokolade, Knäckebrot und Dextro-Ernergen. Das Gefühl vollbrachter Leistung, die Aussicht auf den Gipfelsieg macht uns froh.
Als aus den aufbrodelnden Nebelschwaden die drei Kameraden im Sonnen-und Schattenspiel unter uns wie Gespenster wieder sichtbar werden, raffen wir uns auf. Noch einige Seillängen, dann stehen wir auf dem Vorgipfel. Weit gegen Westen vorgeschoben gibt er den Blick frei nach dem fruchtbaren Santatal. Die Erosionsformen der Flüsse, die bunten Geländeflecke kultivierten Landes, der regelmässige kolonialspanische Bauplan der Sierrastädtchen bekommen etwas zwerghaft Spielerisches. Selbst die Schwarze Cordillère, die uns beim ersten Übersteigen fast die Luft raubte, ist merkwürdig verflacht und in den Hintergrund getreten. Einzelne Geländepunkte, die aus der Froschperspektive des täglichen Lebens als markante Erhebungen auffallen, muss man mit Bedacht zurückkonstruieren, um sie überhaupt wieder zu finden.
In einigen hundert Meter Enfernung von uns zeichnet sich der Hauptgipfel des Huascaran ab. Der weitere Anstieg bietet keinerlei Schwierigkeiten mehr. Jeder macht monoton dreissig mal sechzig Schritte Spurarbeit und überlässt dann dem andern wieder den Vortritt. Um 15 Uhr haben wir den Gipfel erreicht, sechstausendsechshundertfünfundfünfzig Meter, den höchsten Punkt in unserem bisherigen Bergsteigerleben. Bald trudeln auch die andern drei ein.
Der Nordgipfel des Huascaran ist ein verfirnter, breiter Gipfelrücken. Er gewährt uns Raum genug für einige bequeme, dokumentarische Gipfelaufnahmen, während an dem Eispickel munter die rot-weiss-rote Flagge Perus flattert, die wir zu Ehren des gastlichen Landes gehisst haben.
Nachträglich besehen hat sich die Huascaranbesteigung so selbstverständlich abgespielt, dass man sich des Gefühles einer gewissen Ernüchterung nicht erwehren kann. Und so ist es bei allen hohen Zielen im Leben, die man mit der ganzen Kraft seines Herzens erkämpft hat. Schon in der Pause des ersten Atemholens haftet ihrem Erreichen eine gewisse Enttäuschung an. Es gibt kein « Verweile doch, o Augenblick !» Die Phantasie des Menschen schiesst über die Wirklichkeit hinaus und zeigt dem unruhig flatternden Herzen, noch ehe es zur Ruhe kommen konnte, schon die neuen Ziele, auf die es zitternd einspielt, wie die Magnetnadel auf ihr Nord. Was soeben noch Land der Sehnsucht war und rauchender Bergesgipfel, über dem der Himmel näher der Erde schien, das ist jetzt ein Stück Erde wie jedes andere, und unerreichbar wie zuvor spannen sich über ihm die ewigen Himmel.
Das Schleuderthermometer zeigt einige Grade unter Null. Sonne und Windstille. Wir fühlen uns selten wohl, schauen mit Musse in die Runde. Da scharen sich im Norden um uns die königlichen Berge: der viergipflige Huandoy, die Dolchspitze des Chacraraju, Chopicalquis ebenmässige Pyramide und weit gegen Osten der vertraute Gipfel des Contrahierbas. Gegen Süden verwehrt der massive Pico-Sur den freien Ausblick. Doch gegen Osten und Westen flieht der Blick wieder ungehemmt, und das schauende Auge ahnt unter dem fernen Dunst diesseits die Welten der Montana und jenseits die glühende Küste des Pazifik. Doch was am eindringlichsten wirkt, das ist die Stille, die uns hier oben umgibt, die Stille, in der unsere Stimmen einen seltsamen Klang angenommen haben.
Etwa eine Stunde verweilen wir auf dem Gipfel. Dann machen wir uns an den Abstieg. Dieser bietet keinerlei Schwierigkeiten mehr. An den obersten Steilhängen sichern wir vorsichtig. Dann springen wir in mächtigen Sätzen die Eishänge hinab. Ein herrliches Gefühl, wie die Zwölfzacker greifen, den abwärts gleitenden Körper bei jedem Sprung wieder auffangen und ihn dann weiter schleudern. Die losgerissenen Eisstücke ziehen raschelnd an uns vorbei. Ein voller Genuss, denn unsere Knochen sind durch die vielen Bergfahrten hart geworden wie Stahl, und die Muskeln halten wie Drahtseile.
Die Garganta ist nach einer knappen Stunde erreicht. Die Sonne hat längst ihre Kraft verloren, und bei dem aufkommenden kalten Wind ist die Pampa verharscht und trittfest. Wir stolpern darüber hinweg. Wie hohl das tönt. Im Scheine der untergehenden Sonne steigen wir mitten hinein in ein unerhörtes Andenglühen. Wir können uns nicht beklagen. Die Natur zieht Die Alpen - 1948 - Les Alpes18 ihre letzten Register. Über uns wallende Stratosschleier in den Komplementär-farben.
Das Lager im Eisbruch, in dem wir genächtigt hatten, erreichten wir rasch in der alten Spur. Es war bereits abgebrochen. Etwas Schokolade und heissen Tee hatten uns die Träger mit der Erklärung zurückgelassen, dass sie uns im unteren Eislager erwarteten. Wir konnten dadurch den letzten Teil des Weges ohne Zeitverlust vollends in der Dunkelheit zurücklegen.
Die Kürze des Tages, rund zwölf Stunden von Sonnenauf- bis -unter-gang, sowie der rasche, unvermittelte Einbruch der « tropischen Nacht » ist bei Bergfahrten in der Cordillera Blanca ( 10 Grad südlicher Breite ) leider eine unabwendbare Tatsache, die um so mehr ins Gewicht fällt, als ein Sechstausender seine volle Zeit haben will.
Im unteren Eislager wurden wir von unseren Trägern besonders stürmisch begrüsst. Das Übergangsmahl, « zum Abstützen der Magenwände », wurde gereicht. Dann kamen unsere Boys wieder einmal eine Nacht mit Ratschen nicht zur Ruhe.
Am andern Morgen hatschten wir bei leichtem Schneefall den Gletscher vollends hinab, stolperten über die Moränen, querten die fahlen Grashänge und tauchten schliesslich wieder im Quenuawäldchen unter. Drei Tage im Eis genügen, um den Duft der Bergblumen voller und ihre Farben leuchtender zu machen. Wie Öl strömte er sanft und schwer in die Lungen und gab unseren Schritten Spannkraft und Weite.
Petro hatte uns vom Mulalager aus im Abstieg gesichtet. Da gingen die Kessel auf Glut, und der Gipfelhammel verschwand in den brodelnden Töpfen. Sie waren alle virtuose Köche, wenn sie ihre einheimischen Speisen bereiteten, und mindestens sehr gelehrig, wenn der « Rumpudding » daran war oder der « Kaiser-Franz-Joseph-Gedächtnisschmarren » alter Art...
Am Spätnachmittag gelangten wir wieder nach Mancos und sassen abends bei Lampenschein und neuen Plänen in Burgers Blumen- und Kolibri-garten in Huaraz.
Neoado Contrahierbas 6036 m Der Contrahierbas, von uns begreiflicherweise « Contrabass » genannt, ist in der Cordillera Blanca einer der Sechstausender mit der längsten Anreisezeit. Und doch beträgt sie von Yungay aus in verhaltenem Tempo nur drei Tage bis ins Mulalager, von dem aus wir den Gipfelangriff starteten. Yungay, etwa 400 km nördlich von Lima gelegen, ist heute ohne Schwierigkeiten mit dem Auto in einem Tage von Perus Hauptstadt aus zu erreichen. Aus diesen paar Angaben erhellt sich die günstige Lage, welche die formenschöne, alpine Gebirgswelt der Cordillera Blanca von der verkehrsreichen Westküste Südamerikas aus einnimmt, ein Faktum, das für den « Andinismus » in Peru einmal von Bedeutung werden kann.
Doch nun zum « Contrabass »! Von Yungay gelangten wir in einem Ritt durch die landschaftlich reizvolle Yanganucoschlucht und das « Yanganuco-törl » ( Portachuela de Yanganuco, 4767 Meter ) auf die Ostseite der Cordillera Bianca. Bekannt war uns, dass ein Angriff auf den Contrahierbas 1932 von Westen her gescheitert war. Also umkreisten wir ihn, um von Osten aus einen Einblick zu gewinnen. Was sich jedoch von der kleinen Mine Cajavilca aus darbot, war fürs erste nicht besonders aufmunternd: eine gewaltige, über 700 Meter fast senkrechte, felsendurchsetzte Eiswand führte aus einem mächtigen Gletscherbecken heraus unmittelbar zu den Vorgipfeln des NE-Grates und zum Gipfel selbst hinauf.
Unter diesem starken Eindruck warfen wir unsere Schlachtrösser herum, liessen die Wissenschaftler im Frieden ziehen und ritten, um so mehr zu Taten entschlossen, über den Pass Pupashpunta zurück, querten die Berghänge oberhalb Yanama und steuerten dann mit den Mulas die Quebrada Keishu an. Ziemlich genau südlich Jeilacpampa schlugen wir an jenem Abend in 4200 Meter Höhe das Mulalager auf.
Von den Vorgipfeln des mehrere Kilometer langen NO-Grates ziehen nach NW teilweise felsige Nebenkämme herab, zwischen denen mächtige Gletscherströme fliessen. Das Anstiegsproblem ist daher, einen der westlichen Gletscherströme zu benutzen, um auf ihm möglichst in der Nähe des Hauptgipfels auf den NO-Grat zu gelangen. Allerdings sind wir zu dieser Erkenntnis erst durch die erfolgreiche Besteigung gekommen. Vorher aber haben die Götter den Kampf gesetzt!
Nach einem vergeblichen Versuch, der uns im NO-Kamm in einen Sattel von 5350 Meter ( laut Aneroid ) brachte, von wo aus der Weiterweg sehr problematisch schien, biwakierten wir uns bis Pfingstsamstag auf den unteren Gletscherarmen so weit zurecht, dass wir annehmen konnten, den richtigen Ausgangspunkt gefunden zu haben. Höhe des Eislagers rund 5000 Meter.
Am Pfingstsonntag, 28. Mai 1939, brachen wir zu dritt um 3 Uhr in der Frühe auf. Der Weg war eindeutig: gletscheraufwärts, bis uns auf den immer steiler werdenden Hängen ein mächtiger Eisabbruch den Weiterweg verlegte. Unter diesem querten wir nach rechts über Firnfelder massiger Steilheit auf eine Terrasse hinaus. Von hier aus leiteten Firnhänge zu einer flachen Kuppe ( 5770 Meter ) im Hauptgrat hinauf. Vom Gipfel war noch nichts zu sehen, und als wir im Hauptgrat einige mächtige Kuppen, darunter Punkt 5960 umgangen hatten, war er bestenfalls in den Nebelschwaden voraus zu ahnen.
Stunde auf Stunde wühlten wir uns durch den weicher werdenden Schnee und kämpften uns über verwächtete Grate. Gegensteigungen zermürbten uns. Ein Sechstausender fordert Akklimatisation, und schliesslich waren erst zehn Tage verstrichen, seit wir die pazifische Küste verlassen hatten. Doch gegen Mittag stellte es sich heraus, dass uns der Gipfel nicht mehr entgehen konnte.
Noch ein wild verwächtetes, exponiertes Gratstück, zwei kleine Senken, dann sind wir am steilen Gipfelaufschwung angelangt. Einige Seillängen und wir stehen 13.30 Uhr von Wolken umbrandet auf dem Gipfel. Eine knappe halbe Stunde verweilen wir dort, während der ab und zu durch den Riss der Wolken die Welt unter uns erkennbar wird.
Den Rückweg treten wir in der alten Spur an und sind gegen 18 Uhr, ziemlich erschlagen, doch froh ob des Erfolges, wieder bei den Zelten.
Palcaraju 6110 m In einem Tag gelangt man von Yungay zunächst per Auto zu den warmen Bädern von Chancos, dann zu Pferd durch die reizvolle Quebrada Honda bis in ihren innersten Winkel, die Vinoyapampa. Diese ist von einem Kranz formenschöner Sechstausender umschlossen: Tocllaraju 6032 m, Palcaraju 6110 m, Nevado Pucaranra 6147 m und Nevado Chinchey 6222 m. Drei von diesen haben wir im Laufe des Sommers erstiegen. Zunächst sei einmal vom Palcaraju die Rede.
Das Mulalager schlagen wir an der steilen Einmündung der Quebrada Pacliash in die Vinoyapampa in 4150 m Höhe auf. Dann dringen wir durch sie auf der orographisch linken Seite der Schlucht über eine nicht enden wollende Seitenmoräne bis in den Gletscherkessel zwischen Tocllaraju und Palcaraju vor. Über einen steilen Eisbruch nach Süden aufsteigend, erreichen wir an einem Sonntag, gerade acht Tage nach der « Contrabassbesteigung », unser Eislager in 5150 m Höhe auf den Nordhängen des Palcaraju-Gletschers.
Der kommende Tag verrinnt in Nebel und Schneetreiben. Doch in der folgenden Nacht leuchten verheissungsvoll einige Sterne auf. Wir entschliessen uns zum Angriff auf den Berg und verlassen gegen 3 Uhr das Lager. Die Route ist wiederum eindeutig. Wir halten uns nach rechts ausserhalb der Lawinenbahnen, die von den Felsabstürzen im Osten herabkommen und in denen seither ein « ziemlicher Verkehr » geherrscht hatte. Beim Laternenschein finden wir mehr durch Glück als bewusst durch einen mächtigen Gletscherbruch. Das fahle Morgenlicht trifft uns zu Beginn steiler, spaltendurchsetzter Firnhänge, die bis 6000 m Höhe zum Gipfelaufbau hinaufleiten.
Unter der sich steigernden Hitze werden die Hänge immer weicher. Das Spuren wird zur Qual. Mittagsglut und grundloser Schnee wollen schliesslich die letzten Energien auffressen. Doch gegen 11 Uhr erreichen wir endlich eine kleine Mulde anter einem Felsköpferl im Nordwestgrat. Aneroid zeigt 6070 m, Schleuderthermometer minus 5,5 Grad Celsius.
Hans versucht nach der zweiten Frühstückspause den Grat, muss aber erkennen, dass der Schnee derart morsch ist, und da doppelseitig verwächtet, ist ein Weitergehen auf der steilen, exponierten Schneide nicht zu verantworten. Wir entschliessen uns daher für den Ostgrat, wo wir besseren Schnee anzutreffen hoffen.
Ohne Sicht queren wir in diffusem Nebelwallen auf einem irrlichternden Geistergang die Gipfelpyramide knapp unter der Randkluft auf ihren steilen Nordhängen. Ein lichter Moment lässt uns die Schlüsselstelle für das Überschreiten der Randkluft und den Aufstieg in Fallirne auf eine verfirnte Verebnung im Ostgrat erkennen. Von hier aus ist der Weg wieder eindeutig, denn rechts und links geht es in die Tiefe. Der Grat selbst ist nur massig verwächtet und gut zu begehen bis auf ein äusserst steiles, problematisch aussehendes Gratstück, über das wir schliesslich gegen 16 Uhr auf den Gipfel gelangen.
Zu einer beschaulichen Gipfelrast kam es aber nicht. Einige Minuten lang noch konnten wir den Blick über die grandiosen Riefeleissüdwände geniessen, hinab zu dem Gletscherkessel im Cohuptalschluss, von wo aus uns die klaren grünen Gletscherseen ( durch Ausbruch im Dezember 1941 eine traurige Berühmtheit geworden ) entgegenleuchteten. Einige Blicke zum Ranrapalca 6162 m, der bereits auf dem Programm stand, und zum Nevado Pucaranra 6147 m, dann wirbelten munter die Schneeflocken herab. Glücklicherweise konnte uns das einsetzende Schneetreiben nicht mehr viel anhaben, und so gelangten wir glücklich und um ein grosses menschliches Erlebnis reicher gegen 21 Uhr wieder bei unserem Eislager an.