Erste schweizerische Hindukusch-Expedition (1963) | Club Alpin Suisse CAS
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Erste schweizerische Hindukusch-Expedition (1963)

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON MAX EISELIN, LUZERN

Mit 5 Bildern ( 121-125 ) Westlich vom Karakorum-Himalaya erheben sich die Siebentausender des Hindukusch, des zweithöchsten Gebirgsmassives unserer Erde. Im Schatten seiner höheren Nachbarn blieb der Hindukusch in Bergsteigerkreisen lange Zeit mehr oder weniger unbekannt, während der Himalaya selbst jedem Kind ein geläufiger Begriff geworden ist.

Schon die Griechen schrieben über das Hindukuschgebirge, das sie « Paropamisos » nannten -«höher als ein Adler fliegt ». In die Geschichte eingegangen ist der Ritt Alexanders des Grossen, als er im vierten Jahrhundert v. Chr. mit seinem höhenkrank gewordenen Pferd Bukephalos zum Hindukusch pilgerte, um den « Berg der Götter » aufzusuchen.

« Die Berge dauern - der Mensch vergeht » ist ein Dichterwort, und sein tiefer Sinn kommt einem kaum irgendwo deutlicher zum Bewusstsein als gerade in diesem Winkel der Erdoberfläche, wo sich die Gipfel des Hindukusch erheben. Trutzig standen sie da zu Alexanders Zeiten und sind auch heute - nach zweieinhalb Jahrtausenden - noch der ruhende Pol inmitten eines unheilvollen Gewirrs anerkannter und umstrittener Staatsgrenzen, diesen von Menschen geschaffenen künstlichen Schranken, die oft genug wieder wechseln und weiter nichts sind als willkürlich gezogene Striche auf dem Papier. Der Hindukusch sah nicht nur den Arabersturm über Zentralasien hinwegbrausen, er erlebte auch die Horden Dschingis Khans und Tamerlans und sah, wie sich Perser, Griechen, die Grossmogule Indiens und später wieder die Engländer stritten. Heute gehört das rund 1100 km lange Gebirge politisch in der Hauptsache zum jungen Königreich Afghanistan. Im Wachan, dem äussersten Osten Afghanistans, bildet der Hindukusch die Wasserscheide zwischen Oxus ( Amu-Darya ) im Norden und dem Tschitralfluss im Süden und ist damit gleichzeitig auch die politische Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan. Aber auch heute sind die Streitigkeiten um jenen Wetterwinkel der Weltpolitik noch lange nicht zu Ende. Die Afghanen fordern von Pakistan die Abtretung von Paschtunistan und wollen den Indus als ihre östliche Landesgrenze. Im dreihundert Kilometer langen, stellenweise aber bloss fünfzig Kilometer breiten Wachanzipfel, durch den im 13. Jahrhundert der Venezianer Marco Polo nach China wanderte, herrscht heute zwar Ruhe. Wenn man aber die recht eigenartige Grenzziehung näher betrachtet und sieht, wie hier eine künstliche Pufferzone zwischen der Sowjetunion, China und Kaschmir geschaffen wurde, so kann man nur mit einem leisen Unbehagen Reisepläne in jenes Gebiet schmieden. Die heikle geographische Lage ist denn auch schuld daran, dass die afghanische Regierung Ausländern nur nach langem Hin und Her und manchmal auch überhaupt nicht die Genehmigung erteilt, dieses Hochland zu betreten. Die Leidtragenden sind dann vor allem die Bergsteiger, denen, trotz allen völlig friedlichen Absichten, Berge, die zu den schönsten und grössten der Erde zählen, aus politischen Gründen verschlossen bleiben!

Um 4 Uhr in der Frühe rollen wir mit unseren schwer überladenen Autos durch die engen, von Lehmmauern umgebenen Gässchen der afghanischen Hauptstadt. Wo sonst das bunte Treiben des Orients herrscht, liegt noch stille, schwarze Nacht über Mauern und Strassen.

Die Expedition wurde durch die Schweizerische Himalaya-Stiftung organisiert und bestand aus: Max Eiselin, als Expeditionsleiter, Alois Strickler, Automechaniker, Dr. Simon Burkhardt, Arzt, Viktor Wyss, Kameramann, und Hanspeter Ryf, Materialchef. Siehe: Max Eiselin: « Wilder Hindukusch », Verlag Orell Füssli, Zürich. Red.

16 Die Alpen- 1964 -Les Alpes241 Vom Stadtrand aus geht es gegen Norden, dem Hindukusch zu. Eine sanfte Steigung führt auf ein Pässchen hinauf und lässt unsere treuen VW-Kastenwagen, die schon die anstrengende Reise Schweiz—Afghanistan in den Rädern haben, arg ins Schnaufen und Pusten kommen Beängstigend stark biegen sich die Federn durch, und Wisi Strickler - unser Mechaniker - brummt etwas von Achsenbruch ob dieser « Kalberei ». Glücklicherweise ist die Strasse asphaltiert, was in Zentralasien schon eher ein Luxus ist. Wir sind hier Nutzniesser der sowjetischen Wirtschaftshilfe an Afghanistan, deren Hauptwerk der Ausbau des afghanischen Strassennetzes ist, wobei natürlich die Strassenverbindungen zwischen der afghanischen Hauptstadt und der Sowjetgrenze bewusst vorangetrieben werden.

Bald wird es Tag, und wir erkennen im Osten die Umrisse zackiger Berge. Es sind die Vier- und Fünftausender von Nuristan, dem « Land des Lichtes ». Wir fahren durch Siedlungen und kleinere Dörfer, deren Bewohner uns neugierig bestaunen und zugleich freundlich grüssen. In der Stadt Tscharikär tanken wir unsere Vehikel mit möglichst viel Benzin auf, denn es wird für heute die letzte Tankstelle sein. Die luxuriöse Asphaltstrasse führt von hier weiter nach Norden zur Baustelle des Salang-tunnels, der leider noch nicht fertig gebaut ist, so dass wir den Weg über die holprige Karawanenstrasse des Schibarpasses ( 2987 m ) nehmen müssen. Eine arge Zumutung für unsere Fahrzeuge!

Sogleich nach dem Verlassen der Asphaltstrasse fängt eine Knochenschüttlerei an, die nun über vier Tage lang unser ständiger Begleiter sein sollte. Zwischen fünf und zehn Stundenkilometern zeigt der Tachometer, und stündlich wechselt der Fahrer seinen aufreibenden Platz. Auf jeden Meter der « Autostrasse » muss er sich konzentrieren. Einen Augenblick nicht aufgepasst, und schon wirft es uns erbärmlich in unserer Blechkiste herum, die Stossdämpfer schlagen durch, und die überlasteten Achsen geben einen verdächtigen Ton von sich.

Besonders « ruppig » sind in Afghanistan Umfahrungsstrecken bei Hindernissen wie Erdrutschen oder Felsstürzen. Da wird der Fahrweg kurzerhand durch einen Bach geleitet, oder eine steile Geröllrampe stellt die Verbindung wieder her. Stützmauern werden hierzulande ganz einfach aus grossen, abgeschliffenen Steinen errichtet, die aus dem nächsten Bach geholt und dann mit Reisig-holz « befestigt » werden. Ein toller Anblick! Und wir würden uns bestimmt nicht über solche Strassenstücke wagen, hätten wir nicht schon tonnenschwere Lastwagen darüber hinwegrasseln gesehen. Allerdings treffen wir im Laufe des heutigen Tages dann auf nicht weniger als fünf abgestürzte Lastautos. Der Strassenrand bröckelte unter ihrem Riesengewicht ab, die Strasse gab nach, und die Autos stürzten in die Tiefe.

Im frühen Nachmittag stehen wir auf der Passhöhe des Schibar. Aus eigener Kraft haben es unsere Motörchen geschafft. Fast glauben wir an ein Wunder! Auf der andern Seite geht es nicht minder steil in die Tiefe. Neben der Strasse fliesst das kristallklare Wasser des Bamianflusses, der sich im Laufe der Jahrtausende seinen Weg durch den Hindukusch eingefressen hat. Links und rechts erheben sich bizarre Felsgebilde und versetzen uns Kletterer in die Fjorde der Calanques. Weisser Fels wechselt mit gelblichen Riesenwänden, die den Dolomiten gleichen - wir befinden uns in einem Traumland für Felskletterer. Schlucht folgt auf Schlucht. Die Felsen wollen kein Ende nehmen. Riesenhafte Türme, kühne Nadeln und glatte Wände wetteifern in diesem gewaltigen Zirkus der Natur. Kilometerlang windet sich der uralte Karawanenweg durch das wilde Gebirge. Ein Weg, den schon Alexander der Grosse, die Horden Dschingis Khans und Tamerlans und die Araber unter ihrem Kalifen Ali gingen und der mit Recht als « Weg der Jahrtausende » in die Geschichte eingegangen ist.

Endlose Nomadenkarawanen kreuzen uns. Mit Kind und Kegel sind sie ewig unterwegs. Ihre Heimat ist die Steppe, und für sie gelten die ungeschriebenen Gesetze des freien Mannes der Wüste.

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Wie schon vor Jahrhunderten ziehen sie auch heute noch unbekümmert um'Staatsgrenzen und politische Händel ungehindert zwischen Hindukusch und Indus einher, und keinem Zöllner würde es je einfallen, sie nach Reisepass oder Visum zu fragen. Unverschleierten Gesichts führen braungebrannte, stolz blickende Frauen die Kamele. Männer und Halbwüchsige treiben Kühe, Ziegen, Esel und Schafe vor sich her, während die Jüngsten des Stammes, zusammen mit allen möglichen Habseligkeiten und dem an den Krallen gefesselten Geflügel, auf schwankendem Kamelsrücken durch die Landschaft gondeln.

Nach zwei Tagen erreichen wir den südlichen Zweig der « Seidenstrasse », jenen uralten Karawanenweg, auf dem schon Marco Polo ( im 13. Jahrhundert ) nach China wanderte und wo schon zu Beginn unserer Zeitrechnung chinesische Seide den Weg durch Zentralasien und den Nahen Osten nach Europa fand. Rot und braun ist der teils sandige, teils lehmige Boden, aus dem hie und da ein verlorener Grasbüschel ragt. Schon in der Morgenfrühe reiten beturbante Bauern auf ihren struppigen Eselchen zum Markt von Khanabad, und auch hier geben die Nomadenkarawanen der Strasse ihr typisches Gepräge.

In Khanabad bewundern wir die praktische Einrichtung der Wasserversorgung: Wasserträger in hochgekrempelten Pluderhosen stehen in der undurchsichtigen Brühe eines träge fliessenden Baches und füllen mit schlagenden Handbewegungen das kostbare Nass in Säcke aus Ziegenhäuten, die wie geköpfte Kadaver aussehen. Mit einem Esel, der unter seiner Last schier zusammenbricht, werden diese Wasserladungen auf den Markt gebracht. Gerade heikel sind die Wasserträger mit ihrem kostbaren Handelsgut keineswegs.

Denn es fällt ihnen nicht im Traume ein, die ebenfalls im Bache herumwatenden Tiere fortzujagen. Auch stören sie sich wenig an zwei Knaben, die auch ihren bescheidenen Beitrag zur Erhöhung des Wasserstandes leisten!

Weit entfernt am Horizont können wir ein Gebirge erkennen. Gut bewässerte Landstriche mit taufrischem Gras und herrlich grünen Stauden sind ein weiterer Beweis, dass wir langsam aus dem öden Steppengebiet heraus kommen und es nicht mehr allzu weit zu den Bergen sein kann.

Neben uns breitet sich ein Feld wirr in die Erde gerammter Steinbrocken aus. Einige sind ganz schief, andere stehen schön senkrecht, und wieder andere liegen flach auf dem Boden. Dazwischen hohe, spindeldürre Holzstangen mit zerfetzten, bunten Wimpeln. Ein Friedhof.

Im späten Nachmittag erreichen wir den wilden, schäumenden Koktschafluss. Und es ändert sich die Landschaft - wir sind in den Bergen. Hinter einem Hügel öffnet sich die wilde Schlucht des Koktscha, die mit ihren bizarren Felsformen unwirklich, urweltlich anmutet. Wir meinen versteinerte Löwen und Krokodile zu sehen, fahren an grausig dreinschauenden Haifischköpfen und finster drohenden Ungeheuern mit überdimensionierten Mäulern und verzerrten Augen vorbei. Wir befinden uns in einem an Wildwestfilme erinnernden Felsental voll infernalischer Zyklopen -schrecklicher als in einem Alptraum! Dazwischen grasende Kamele und die schwarzen Zelte der Nomaden.

Steil und schmal ist das Strässchen, das uns hinauf führt. Hinauf in die Bergwelt von afghanisch Badachschan! Kühne Brücken folgen beängstigend schlipfrigen Lehmpassagen. Saubere Dörfchen mit äusserst freundlichen Bewohnern - den Bergtadschiken - entlocken uns manches Lob über dieses glückliche, unverdorbene Volk. « Salam aleikum » grüsst uns jedermann und hält dazu die rechte Hand zum Gruss auf die Brust oder salutiert auf militärische Art. Ist der Weg durch Vieh verstopft, so ernten wir nicht - etwa wie bei uns - finstere Blicke und Verwünschungen, sondern die freundlichen Hirten beeilen sich dermassen, uns die Strasse freizumachen, dass es uns geradezu beschämt!

Es ist schon pechschwarze Nacht, wie wir in Faisabad, der Hauptstadt von Badachschan, Einzug halten. Wir kampieren gleich neben dem Koktscha und sind nach einem langen, heissen Tag rechtschaffen müde. Die hilfsbereiten Einheimischen helfen uns, wo sie nur können, bringen uns Wasser vom Fluss, versehen uns mit Petrollaternen und tragen sogar hölzerne Bänke sowie « Tscharpas » -eine Art Bett - herbei. Gastfreundschaft - und dazu noch unbezahlteist in Afghanistan kein leeres Wort.

Wisi Strickler kennt heute noch keinen Feierabend. Nicht nur muss er die täglichen Überholungs-und Reinigungsarbeiten an unseren beiden Autos ausführen. Dazu sind noch beide Reservereifen zu flicken, die durch Kamelhufnägel der Nomadenkarawanen übel zugerichtet wurden. Unser sonst unermüdliche Küchenchef Viktor Wyss hat sich den Magen verdorben und will heute nichts von Kochen wissen. Dafür bereitet er den Forellen des Koktscha ein « fürstliches Mahl » zu und zieht sich dann in seinen Schlafsack zurück. So hat Hanspeter Ryf heute seinen grossen Tag, uns seine Kochkünste zu beweisen.

Mit Simon Burkhardt, unserem Arzt, und unserem afghanischen Dolmetscher Smaray Kasi suche ich, mit einer Taschenlampe bewaffnet, den Weg zum Palast des Gouverneurs. Schliesslich finden wir einen Soldaten, der uns begleitet und jeden Winkel der nächtlichen Stadt zu kennen scheint. An manch dunklem Erker tasten wir uns vorbei, klettern finstere Treppen hinauf, die über und über mit Schlingpflanzen behangen sind, und schlagen unsere Köpfe mehr als einmal an uralten, niedrigen Torbogen an. Hie und da wirft eine mit Talg- oder Petrollampen beleuchtete Tschaikhana einen grellen Schein in die nächtlichen Gässchen hinaus. Wir bleiben einen Moment stehen und lauschen den orientalischen Gestalten, die im Innern auf dicken Teppichen ihre selbst verfertigten Instrumente erklingen lassen und dazu ihre melancholischen, eintönigen Weisen singen. Andere hocken in einem Winkel, trinken Tee oder schmauchen den Tschilam, die Wasserpfeife. Wir fühlen uns in « Tausend und eine Nacht » versetzt.

In seinem Garten empfängt uns der Diener Seiner Majestät Mohammed Sahirs zu nächtlicher Stunde und ist nicht wenig erstaunt, dass wir in den Wachan wollen. Wie schon in der Hauptstadt Kabul sind allerhand Warnungen seine Antwort. Die von seiner eigenen Zentralregierung ausgestellte Spezialbewilligung kontrolliert er Wort für Wort und lässt uns dann herrlich schmeckenden Himbeersirup servieren. Spätnachts erst sind wir bei unseren Kameraden am Fluss zurück.

Die wildeste Strecke zum Wachan liegt nun vor uns. Ein Problem ist der Kraftstoff für unsere beiden Fahrzeuge. Denn oberhalb von Faisabad wird kein Benzin mehr aufzutreiben sein. Bei den letzten Häusern von Faisabad stöbern wir den « Karawanbaschi » in seinem Reich russisch be-schrifteter Benzinfässer auf. Ali, sein flinker Junge, steckt grinsend ein Stück uralten Schlauches in ein Fass, nimmt mit seinem Mund einen kräftigen Sog am andern Ende - und schon fliesst das kostbare Nass in unsere trocken gewordenen Volkswagen. Wir können uns nur zu leicht ausrechnen, dass dieser russische « 40-Oktan-Sprit » nicht sehr weit reichen wird. Neben Tanks und Reserve-kanistern müssen wir auch noch ein Hundertliterfässchen auf Vorrat mitnehmen. Wo dieses Fässchen Platz finden soll in den sonst schon prallvollen Autos, ist Wisis nächste Fleissaufgabe. Über-laden sind unsere Karren ohnehin schon seit bald neuntausend Kilometern Fahrt.

Bei einem Kännchen Tee nehmen wir in der nächsten Tschaikhana noch würdig Abschied vom netten Faisabad. Da kommt Viktor aufgeregt dahergerannt, Wurst und Käse in der Hand. Der Frass stinke nach Benzin, das gekaufte Fässchen rinne. Aber es war glücklicherweise nur « Schwitz-benzin! » Einige Stunden lang geht die Fahrt ganz gut voran. Ist der Weg gar zu steil oder holprig, so hält der Fahrer den Motor möglichst lange auf genügend hoher Tourenzahl. Wenn dann die Kraft des Wagens nachlässt, so springen die Mitfahrer blitzartig ab und erleichtern damit das Fahrzeug einmal um über hundert Kilo und helfen dem Motor erst noch mit kräftigem Schieben nach. Die Afghanen nennen diese ihnen sehr vertraute Fahrweise « danda pandsch », das heisst « fünfter Gang ». Mit dem « danda pandsch » überwinden wir denn auch manches Hindernis. Dazwischen kommen immer wieder kilometerlange Ebenen, wo ` sich Mann und Motor abkühlen und erholen können. Nun sehen wir jedoch weit hinten im Tal eine « Strasse », bei deren Anblick wir sogar am « danda pandsch » zu zweifeln beginnen. Ein kräftiger Anlauf wird durch Geschiebe und Gräben verhindert. Hanspeter versucht verzweifelt, den Motor auf Touren zu halten, während Wisi und ich das Auto bereits verlassen haben und kräftig nachhelfen. Doch langsam tönt der Motor schwächer und schwächer und wird schliesslich ganz still. Die Kupplung gibt einen ätzenden Geruch von sich, es stinkt nach Öl und verbranntem Gummi. Das Auto hat sein Äusserstes getan, weiter kann es nun einfach nicht mehr. Der Höhenmesser zeigt 2480 m, die Strasse gleicht eher einer Geröllhalde, und die überladenen Federn drohen, im nächsten Augenblick ihren Dienst zu versagen.

Die Rekognoszierung des Passes ergibt, dass nach dreihundert Metern die Strasse wieder besser wird. Vielleicht auf viele Kilometer! Also wollen wir auf unsere beiden Autos nicht verzichten! Wir laden alles aus und schieben dann mit Hilfe einiger herzugelaufener, stämmiger Bergtadschiken mit kräftigen « danda pandsch » die beiden leeren Autos die Geröllhalde hinauf. Kurz vor dem Einnachten sind beide Vehikel auf der Passhöhe. Auch alles Transportmaterial ist glücklich hinaufgebracht.

Diese Bergtadschiken bewiesen uns, was für Saft sie in ihren Knochen haben. Die schwersten Kisten und Trommeln wurden von einem einzelnen Mann auf den Buckel genommen, und uns wollte Hören und Sehen vergehen, als wir sahen, dass selbst unsere gewichtigste Einzellast - das Fass mit hundert Litern Benzin - von einem jungen, barfüssigen Bürschlein allein hinaufgetragen wurde!

Gleich auf der Passhöhe biwakieren wir. Dass der bösartige Pass trotz allem überwunden werden konnte und dass wir nun schon morgen in den langersehnten Wachan gelangen werden, bringt uns in beste Laune. Kaum haben wir uns von den Strapazen des heutigen Tages ein wenig ausgeruht, da wird Hanspeter das Opfer eines schlimmen Zwischenfalles: er hantiert in der Küche etwas ungeschickt mit einem Benzinkocher, und im Nu stehen seine Arme und Beine lichterloh in Flammen. Er sieht übel aus, und unser Arzt hat alle Hände voll zu tun.

Über den Sardabpass gelangen wir in eine trostlose Gegend voll Sand und Schutt. Ein orkanartiger Westwind treibt den Sand vor sich her und presst ihn in alle Fugen unserer Fahrzeuge. Ein paar schüttere Birken und magere Grashalme biegen sich im Sturm. Sonst ist nicht viel an Vegetation zu sehen. Dafür erkennen wir auf der rechten Talseite vor uns die Riesen des Hindukusch, Sechs- und Siebentausender aus gewaltigen Felsbastionen und gleissenden Hängegletschern. Wir wissen: endlich sind wir im Wachan. Und wie wir es heute tun, so wird der Venezianer Marco Polo vor siebenhundert Jahren die Berge des Hindukusch bestaunt haben!

Bei Sardar Mohammed Janos, dem Gouverneur von Ischkaschim, und beim Kommandanten der Wachan-Garnison, Oberst Amidullah-Khan, machen wir unsere kurze Aufwartung, dann führt uns ein leidliches Strässchen dem Ufer des Oxus entlang ins Herz des Wachan hinein.

Der Fluss bildet hier die Landesgrenze zwischen Afghanistan und der Sowjetunion. Deutlich können wir drüben die weiss getünchten und blauen Häuschen einer kleinen Kolchos-Siedlung erkennen. Eine afghanische Grenzwachtpatrouille marschiert schweigend an uns vorbei. Sie ist auf einem Kontrollgang entlang der von der Natur gegebenen Grenze gegen die Sowjetunion hin - mit russischen Maschinenpistolen am Rücken!

Im späten Nachmittag gelangen wir zu den Hütten von Langar, dem einstweiligen Endpunkt unserer Autofahrt. Aus einem Steinhaufen von Hütten schält sich eine hagere Gestalt mit grosser Bogennase. Er scheint der Chef der Langarieute zu sein und heisst uns hier willkommen. Er fragt Smaray interessiert, woher wir kommen und weiss natürlich nichts von der Schweiz Immerhin sind wir erstaunt, dass der Bergtadschike überhaupt eine Ahnung von andern europäischen Ländern hat. Vor allem scheinen es ihm die Deutschen und die Engländer angetan zu haben. Dann zählt er auch Länder wie Ungarn und Polen auf. Smaray erklärt ihm dann ganz richtig, wir « Swiss Saabs » kämen von irgendwo zwischen « Polandi » und « Tschermani ». Dort würden die « Swiss Saabs » genau wie die Wachanleute auf hohen Bergen hausen. Ob die « Swiss » auch wie die « Tschermani » -die Deutschen - gegen die Engländer gekämpft hätten und wieviele Tote es dabei gegeben habe, will er wissen...

Anderntags erkunden wir das Tal von Langar und müssen zu unserem Leidwesen feststellen, dass die Berge nicht gerade günstige Aufstiege offerieren. Besonders die Eisschlaggefahr ist sehr gross, so dass wir noch zwei andere Täler näher unter die Lupe nehmen. Schliesslich entscheiden wir uns für das untere Urgendtal, das « Urgend-e-Payan », wie es von den Einheimischen genannt wird. Dort gibt es den noch unbestiegenen Siebentausender Urgend und die ebenfalls noch von keinem Menschen betretenen Berge « Koh-e-Urup » ( Berg von Urup ) und « Sirt-e-Urgend-e-Payan » ( Schneegipfel des unteren Urgendtales ) oder auch « Schah » genannt.

Wir zügeln unser Tallager von Langar zum Dörfchen Urgend und lassen dort die beiden Autos unter Bewachung durch einen Einheimischen zurück. Nach zweitägigem Marsch mit einer imposanten Kolonne von Trägern, Pferden, Eseln und Yaks errichten wir schliesslich auf einer Höhe von 4550 m unser Basislager.

Unser Hauptziel ist und bleibt der Siebentausender Urgend. Doch wollen wir unsere Aufmerksamkeit auch den beiden andern noch unbestiegenen Gipfeln schenken: dem Sechstausender Schah und dem Fünftausender Koh-e-Urup.

Hanspeter leidet immer noch unter seinen schweren Brandwunden und kommt fürs Bergsteigen einstweilen noch nicht in Frage. Unser Afghane Smaray erweist sich - als Anfänger in den Bergen -noch als zu wenig klettertüchtig und bleibt ebenfalls mehr oder weniger ans Basislager gefesselt, während ich selber infolge einer lästigen, für asienungewohnte Europäer typischen Darmgrippe leide, die mich in der Akklimatisation stark zurückwirft.

Eine Woche nach der Ankunft im Basislager, am 26. August 1963, besteigen Simon, Viktor und Wisi den 6550 m hohen « Schah », und damit weht zum erstenmal die Schweizer Fahne auf dem zweithöchsten Gebirge der Erde!

Einige Tage später bin auch ich endlich wieder « auf dem Damm » und erklettere zusammen mit Simon und Wisi den 5650 m hohen « Berg von Urup ».

Es wird mittlerweile Zeit, unser Hauptziel, den Siebentausender Urgend, in Angriff zu nehmen, denn nun sind wir alle bestens akklimatisiert, und Hanspeters Brandwunden sind inzwischen derart verheilt, dass auch er wieder ans Bergsteigen denken darf.

Einen Tag früher als bestellt sind die Träger wieder bei uns im Basislager. Obwohl wir nur Männer und keine Tragtiere mehr wollten, bringen sie kurzerhand wieder einen Yak mit. Zusammen mit dem zottigen Vierbeiner geht es also über den Gletscher! Und zwar nicht etwa über ein topfebenes, verfirntes Plateau, sondern über einen ausgeaperten Hindukusch-Gletscher mit hartem, blauem Blankeis und messerscharfen Büsserschneegebilden.

Wir wussten ja, wieso wir den guten Leuten nahelegten, keine Tiere zum Tragen mitzubringen. Natürlich ist nicht daran zu denken, das arme Tier über diesen Gletscher als Lastenesel zu verwen- den. Im Gegenteil, sechs Mann braucht es, um den schweren Bullen sicher übers Eis zu geleiten! Allerhand Theater gibt es, bis er nach der Gletschertraversierung die Moräne gewonnen hat. Dann aber werden die Träger nicht müde, dem zottigen Gesellen Last um Last aufzubinden, bis wir schliesslich Einhalt gebieten müssen.

Nach dem Gletscher geht es zwei Stunden lang über Moränenschutt und Bäche. Und dann langen wir beim Basislager II, auf 4650 m über Meer an. Wie schon der Platz des ersten Basislagers, ein herrlicher Fleck Erde, dazu noch 100 m höher! Wir befinden uns nun unmittelbar am Fusse des Siebentausenders.

Sechs der Träger - die stärksten - behalten wir für einen weiteren Tag bei uns. Sie sollen uns helfen, Lager I in einer Höhe von 5400 m einzurichten. Auch wenn sie nicht bis ganz hinaufklettern können, ist uns schon geholfen, wenn die schweren Lasten wenigstens den weiten Gletscherboden hinaufgetragen sind.

Einer dieser Träger entpuppt sich als der Yak-Besitzer. Daher verbrachte auch der Yak die letzte Nacht hier oben bei seinem Besitzer. Ein geduldiges Tier, dessen Anwesenheit wir kaum bemerkten!

Damit auch unsere Träger in der Nacht ein Dach über dem Kopfe haben, stellen wir für sie eigens ein Hochlagerzelt auf. Wir kochen ihnen heissen Tee und Suppe. Und sie haben es gemütlich und warm. Als wir in der Morgenfrühe das Zelt dann abprotzten, stellten wir fest, dass sein Inneres penetrant nach Ziegenstall und Fettschwanzhammeln riecht und wohl noch einige Zeit riechen wird. Doch auch dies ist ein Stück asiatischer « Folklore ». Ein « Erlebnis », das erst in der Erinnerung seinen vollen Glanz erhält.

Über rutschige, kleinschiefrige Geröllhalden geht es zum Gletscher empor. Dann, stundenlang leicht ansteigend, vorwärts. Es ist schon recht heiss, da es gegen Mittag geht. Und teilweise verwandelt sich der Gletscher in einen Sumpf, aus dem wir immer wieder einen glucksenden vollen Schuh ziehen. Auch ein Erlebnis, das erst einige Zeit später pikant und erinnerungswürdig erscheint. Und auf das man im Moment schmerzlos verzichten könnte.

Wisi und Simon haben die Route bereits ausgekundschaftet. Es gäbe zwei Möglichkeiten, meinen sie. Einen trostlos langweiligen Gletscherweg und einen rassigen Grat. Ich merke es den beiden an: sie sind für den Grat! Sie möchten mit dem Berg spielen, rassig klettern und nicht nur Schnee stampfen. Kommt nicht in Frage, denke ich! An einem Siebentausender noch lange herumkünsteln und Klettertouren unternehmen, wenn es daneben eine gut begehbare, sichere Route gibt. Wie ist ein solches Vorhaben möglich!

Der heutige Tag ist entsetzlich schwül. Die Hitze drückt uns den Schweiss richtig aus den Poren. Und trotz der vorzüglichen Akklimatisierung sind wir verhältnismässig schlaff.

Auf dem nächsten Gletscherplateau liegen die beiden Routenmöglichkeiten klar vor uns. Links die Flanke, rechts der Grat. Ein Blick genügt - die Flanke kommt überhaupt nicht in Frage. Selbst wenn der Grat noch so schwierig wäre. Die Flanke ist wohl technisch einfach, wird aber von fürchterlichen Eistürmen überdeckt. An die 150 m hoch dürften die absturzbereiten Séracs sein. Der Eiswulst ist nicht nur senkrecht, sondern überhängend. Und dazu auf abschüssigem Fels gelagert. So ist der Entschluss leicht zu fassen: wir wählen die Gratroute. Ich selbst hatte tagsüber unrichtig überlegt und muss nun meinen Kameraden recht geben.

Es ist wieder einmal Zeit zum Rasten. Den Rucksack aufs Eis gelegt und draufgehockt. Vorher noch den Photoapparat herausgeholt. So, das wär 's wieder einmal. Tut doch gut, die Beine von Zeit zu Zeit zu strecken. Einige Meter vor mir geht Simon und denkt noch nicht ans Rasten. Wisi und Hanspeter sind weit voran, Viktor filmt am hintern Ende der Karawane. Neben mir hockt Achmed Said, einer unserer Träger.

« Chubaste? » fragte ich ihn, « geht es gut? » « Chob, chob », gibt er zur Antwort, « gut, gut ».

Ich stelle den Photoapparat auf die bizarren Eistürme ein. Die muss man doch photographieren, bevor sie herunterkrachen. Bevor ich abdrücke, schaue ich sie mir nochmals genau an. Mächtige Gebilde, grauenerregend.

Und da geschieht etwas, das in einem Bergsteigerleben wohl einmalig sein dürfte. Noch betrachte ich mir diese Eisstürme, da sehe ich gerade, wie sich der vorderste Turm, von der Grösse dreier städtischer Wohnblocks, von der Eismasse löst, in sich zusammensackt und in die Tiefe, auf uns zu saust! Noch gibt es keinen Ton, mäuschenstill bleibt es immer noch, bis der Eisturm auf dem Fels zerschellt... Und dann! Noch rasch den Photoapparat abgedrückt, um die einmalige Szene auf dem Bild zu haben. Und dann nichts wie los. « Hopp, Achmed, hopp! » Wir befinden uns am Rand des Gletscherplateaus, dummerweise auf der gleichen Seite wie der Eisabbruch. Aber wenn wir den seitlichen Hang hinaufrennen, etwa zwanzig Meter weit, dann dürfte uns nicht soviel geschehen. In der Aufregung vergessen wir noch, unsere Rucksäcke abzuwerfen. Und rennen mit ihnen den Eishang hinauf. Dabei rennen wir ja ums Leben.

Inzwischen hat sich der Eisturm in eine riesige Wolke verwandelt. Die ganze Talbreite füllt sie aus. Und geht so hoch hinauf, dass der Gipfel des Urgend nicht mehr sichtbar ist. Sehr langsam kommt die Wolke näher und näher. Aber mit tödlicher Gewissheit, erbarmungslos. Wie eine alles zermahnende Walze. Ich mache Achmed vor, wie er den Kopf in Talrichtung unter den Rucksack ducken soll und rupfe mein Ersatzhemd unter dem Rucksackdeckel hervor, um Mund und Nase vor dem tödlichen Eisstaub zu schützen.

Aber es kommt gar nicht so weit. Denn die Lawine wird durch irgendeine Besonderheit der Gletscheroberfläche auf die gegenüberliegende Talseite abgedrängt und lässt uns in Ruhe. Noch einige Sekunden, und dann hört das Rauschen auf- und der Gipfel des Urgend kommt wieder zum Vorschein. Ganz weiss von Eisstaub ist der Gletscher neben uns. Weiss bin wahrscheinlich auch ich, weiss vor Schrecken. Und es wäre unartig, nicht zuzugeben, zitternde Knie gehabt zu haben. Der Eisschlag gibt eine prächtige Lehre: Gehe nie unter derartigen Séracs hindurch! Sie könnten jeden Moment losbrechen!

Achmed Said will nicht mehr weiter. Es ist auch gar nicht mehr nötig. Denn Wisi und Hanspeter kommen von oben zurück. Der Einstieg zum Grat ist dort an die sechzig Grad steil und auf mindestens hundert Meter weit völlig blank und hart. Weiter unten ist ein günstigerer Aufstieg über eine kurze, weniger steile Eiswand. Am Fusse dieser Eiswand können unsere Träger kehrtmachen. Die Wand kämen sie nie hinauf. So müssen wir selber die Lasten tragen.

Auf dem Gletscher halten wir heute im Freien Zahltag, und beim Einstecken der hundert Afghani für das heutige, besonders strenge Stück vergisst auch Achmed die Schrecken der Eislawine wieder! Mit 100 Afghanis ( 9 sFr. ) kann er eine junge Ziege kaufen oder einen ausgemästeten Fett-schwanzhammel zu drei Vierteln anzahlen. Ein Vermögen für den bescheidenen Bergbauern des Wachan. Allerdings gehen zehn Prozent seines Einkommens zuerst weg. Als Kirchensteuer, wenn man so sagen will, an den Aga Khan, der auch gelebt haben muss. Die Tadschiken des Wachan gehören der schiitischen Sekte der Ismaili an und verehren ihren Imam, der in ihren Augen sündlos und unfehlbar ist. Wenn man sie aber fragt, ob sie Ismaili seien, dann verleugnen sie ihre Religion. Sie seien Sunni wie alle anderen Moslems Afghanistans, behaupten sie dann. Sie betreiben ihren Schiitismus in einer Art von Geheimbündelei, wohl wissend, warum...

Steil und hart ist die Eiswand. Glashart! Aber nach einer Seillänge wird es besser. Büssereis mit guten Stufen folgt. Eine wahre Erlösung für uns Lastenschlepper. Zuoberst wird die Eiskletterei besonders amüsant. Eine Wächte, die weder nach links noch nach rechts umgangen werden kann, krönt den Eishang. Sie besteht aus hartem Eis und hängt leicht über. Etwas unangenehm, nach der heutigen Eislawine. Aber ein von der Sonne durchgefressener, runder Tunnel weist den Weg. « Alpinisme souterrain. » Artig, eine solche Abwechslung. Aber zuerst muss der Tunnel noch mit dem Pickel erweitert werden. Kräftig schwingt Wisi die Eisaxt, dass die Splitter nur so wegfliegen. Mit dem Rucksack auf dem Buckel kommen wir nicht hindurch. Also zuerst den Rucksack hinaufgeschoben und dann selber im Loch verschwinden. Scharfkantig ist dieses verdammte Eis. So scharf, dass ich bei leichtem Schrammen eine blutige Wunde in die Stirn reisse.

Auf der Grathöhe finden wir eine ganze Reihe bestgeeigneter Zeltplätze, 5400 Meter zeigt der Höhenmesser. Die ideale Höhe für Lager I. Wir deponieren unsere schweren Rucksäcke. Und dann steigen wir ins Basislager zurück, um morgen einen weiteren Transport auszuführen.

Alle für die Hochlager bestimmte Ware befindet sich bereits im Depot unter der Eiswand, wohin sie unsere Träger gebracht haben. So sind wir bis dort ohne Lasten und kommen entsprechend schnell vorwärts. Dann aber, in steiler Eiskletterei tragen wir Rucksäcke, so gross wie Kulilasten. Und müssen aufpassen, selbst in den Steigeisen unser Gleichgewicht behalten zu können.

Beim Lagerplatz angekommen, machen wir uns an die Arbeit, hier eine richtige « Burg » aufzubauen, in der wir uns behaglich niederlassen können. Simon und Wisi ebnen das Eis, um unser Zelt möglichst bequem aufstellen zu können. Hanspeter gräbt nach Wasser und findet tatsächlich auch vom kostbaren Nass. Auf solcher Höhe keine Selbstverständlichkeit! Normalerweise müsste man schon längst Schnee und Eis in der Pfanne schmelzen. Ich baue in einer Felsnische die Küche. Die Arbeit wird mir leicht gemacht, da prächtig flache Schieferplatten haufenweise herumliegen. Nach einer Stunde sind wir eingerichtet. Das Zelt steht nicht nur eben, sondern über das Eis verlaufen auch noch prächtige Weganlagen aus Felsplatten, wie sie in einer städtischen Parkanlage nicht schöner anzutreffen sind. Dieses Lager I am Siebentausender Urgend ist das schönste Hochlager, das ich je auf einer Expedition traf: auf luftigem Gratturm gelegen und dennoch vor Wind und Sturm geschützt, da sich das Zelt an einen mächtigen Felsblock schmiegt.

Wir verbringen eine ruhige Nacht und können uns anderntags gut ausgeruht auf den Weg machen. Wir wollen versuchen, mit nur einem weiteren Hochlager den Gipfel unseres Siebentausenders zu erreichen. Das heisst also, dass wir heute, mit einem Zelt und weiterer Ausrüstung schwer beladen, mindestens tausend Höhenmeter überwinden müssen.

Mit den Steigeisen an den Füssen verlassen wir unser gemütliches Lager I und gehen den Grat an, wobei wir noch keine Ahnung haben, wie die weiteren Grattürme vor uns beschaffen sind. Ob wir seilfrei darüber hinwegklettern können oder ob uns grosse Schwierigkeiten erwarten. Noch ist der Grat an die 300 Meter lang, bis er mit einer steilen Eisrampe in die Nordwestflanke des Urgend übergeht.

Den zweiten Turm erreichen wir über einen harten Eisgrat, dann steigen wir in mässig schwierigem Fels die andere Seite hinunter und nehmen den dritten in Angriff. Auf beiden Seiten geht es Hunderte von Metern in die Tiefe. Über den Mangel an luftigen Kletterstellen und recht eindrucksvollen Blicken in gähnende Gletscherspalten brauchen wir uns nicht zu beklagen.

Der Fels ist nicht leicht, und wir müssen die Steigeisen ausziehen, um sicher klettern zu können. Den Abstieg auf der andern Seite sichern wir mit einem dünnen Nylonseil, das wir für den Rückweg zurücklassen. Dann folgt noch eine Reihe niedriger Grattürmchen und Scharten. Der stete Auf-und Abstieg wirkt ermüdend. Zwei Stunden nach unserem Start stehen wir dann aber am Beginn der steilen Eisrampe.

Die spitzigen Zacken unserer Steigeisen beissen sich in das glasharte Eis. Wir merken hier, dass bald Herbst ist. Weicher Firn ist nur noch an wenig steilen Stellen vorhanden. Sonst glänzt überall sprödes, hartes Eis, grün und blau in der Sonne schillernd. Die schweren Rucksäcke baumeln am Rücken und wollen uns mit aller Gewalt am Aufstieg hindern. In gleichmässigem Trott ziehen wir dahin. Ungeordnet wie ein Klüngel Spaziergänger. Auf Seilsicherung können wir verzichten, da wir uns noch in einem Schwierigkeitsgrad bewegen, wo sich jeder von uns völlig sicher fühlt. Und Gletscherspalten sind weit und breit keine vorhanden. Stundenlang klettern wir so im steilen Eis. Absichtlich gehen wir langsamer, als unbedingt nötig wäre. Wir wollen uns schonen für den morgigen Tag.

Um die Mittagszeit ist der steilste Teil unseres Eisgrates überwunden, und wir können uns in weniger geneigten Firnhängen ausruhen. Dafür müssen wir von hier an in nassem Schnee spuren und auf vereinzelte Gletscherspalten achtgeben.

Deutlich verspüren wir die Folgen der sauerstoffarmen Luft. Wir kommen nur sehr langsam weiter, und die Rasten werden immer zahlreicher. Alle fünf Schritte bleiben wir stehen, um zu verschnaufen, und auf eine Viertelstunde Aufstieg folgt eine fünfminütige Rast, in der wir uns jeweils auf unsere Rucksäcke setzen und uns erholen.

Der Firnhang wird steiler und steiler und geht dann in einen schwach ausgeprägten Felsgrat über. Nach stundenlangem Aufstieg in Eis und Firn ist das Felsklettern eine angenehme Abwechslung. Weniger angenehm ist lediglich der starke Sturm, der hier weht und der uns den umliegenden Schnee in Kragen und Ärmel, zwischen Sonnenbrille und Daunenkleider bläst. Und etwa die Klimmzüge, die hie und da notwendig sind und uns fast ausser Atem bringen.

Im späten Nachmittag erreichen wir den Gletscherhang, der zum Gipfel hinauf führt. Hier hört der Felsgrat auf und bildet einen nicht ganz ebenen, aber immerhin einen vorhandenen Biwakplatz. Die Höhe schätzen wir auf 6400 Meter. Durch ein Missgeschick ging unser Achttausender-Höhen-messer verloren, so dass wir oberhalb von fünfeinhalbtausend Metern auf Schätzungen und die wenigen vermessenen Höhenpunkte angewiesen sind.

Einen abschüssigen Schuttplatz befreien wir mit unseren Pickeln vom Eis und stellen dann unser kleines Biwakzelt auf die schiefe Fläche. Gut befestigen wir unser Stoffhäuschen mit Seilen an Eisschrauben und Felsvorsprüngen, damit es auch vom wütendsten Sturm nicht in die Tiefe geschleudert werden kann. Wir kochen Suppe, essen Trockenfleisch und Dörrbananen und trinken noch ein ergiebiges Quantum Tee. Da in dieser Höhe jeder Tropfen Trinkwasser mühsam geschmolzen werden muss, heisst es mit Tranksame sparsam umgehen, zumal wir nicht unbeschränkte Vorräte an Metatabletten und Campinggasbüchsen hinauftragen konnten. Gegen Sonnenuntergang lässt der Sturmwind nach, und wir können vor dem Zelt eine prächtige Abendstimmung geniessen. Der riesige Gletscherabbruch uns gegenüber färbt sich zuerst rot, dann gelb und orange und wird nach dem Verschwinden der Sonne wieder weiss, mit fahlem, bläulichem Schimmer Solange wie möglich harren wir im Freien aus, trotz der Kälte. Keinen von uns zieht es ins Zelt hinein! Denn in einem schon an und für sich knapp bemessenen Zweimannzelt zu viert zu schlafen, ist eine etwas enge Angelegenheit. Schliesslich haben wir aber doch zu kalt und müssen uns in die schmale Behausung zurückziehen. Einer nach dem andern kriechen wir in unsere Schlafsäcke. Nachdem Hanspeter und Wisi im Zelt sind, ist dieses schon gefüllt. Doch Simon und ich müssen auch noch hinein!

Wie Sardinen zusammengelegt verbringen wir die Nacht. Wir wussten, dass ein zweites Zelt notwendig gewesen wäre, aber lieber zwei Nächte lang ohne Schlaf und ohne sich drehen zu können, als noch ein zweites Zelt samt Ausrüstung heraufzuschleppen! Wenigstens können wir auf diese Weise der Kälte trotzen, die Beine ausstrecken und trocken liegen. Die wichtigsten Voraussetzungen beim Übernachten im Hochgebirge.

Gegen Morgen wird es auch im Zelt drin schrecklich kalt. Besonders die am Rand Liegenden stöhnen. Wisi muss Bewegung haben und macht sich schon um sechs Uhr bei klirrendem Frost ans Kochen. Lange Zeit muss er die Kocher behandeln, bis sie zu brennen beginnen. Die Temperatur dürfte -30 Grad Kälte überschritten haben, und der Wärmeverlust ist so gross, dass wir erst um acht Uhr etwas Lauwarmes in der Pfanne haben! Liebevoll nehmen wir das Pfännchen vors Zelt, um uns den Kakao zuzubereiten. Da stösst irgendeiner dran, und das mit grosser Mühe gewonnene Nass ergiesst sich bis zum letzten Tropfen ins Zelt! Anstatt unsere trockenen Kehlen, bewässert es die Schaumgummimatratzen, meine Daunenjacke und die Zipfelmütze!

Schlagartig verlassen wir das Zelt und fluchen nicht wenig wegen des verpassten Frühstücks. Und wegen des feuchten Zeltinnerns! Glücklicherweise kommt die Sonne, so dass die ärgste Kälte vorbei ist. Im Kälteschutz des Zeltes geht Simon erneut ans Kochen. Mühsam hält er Brenner und Pfanne auf den Knien. Diesmal geht es schneller. Und um neun Uhr können wir nach einem köstlichen, warmen Kaffee in Richtung Gipfel aufsteigen.

Der weitere Aufstieg scheint nun bis auf die letzten fünfzig Meter unter dem Gipfel ohne die geringsten klettertechnischen Probleme. Einen mässig steilen Hang, mit einigen tief eingeschneiten Gletscherspalten müssen wir hinaufspuren. Solange wie möglich wollen wir ohne Seil auskommen, da das Gehen am Seil immer ermüdend und zeitraubend ist.

Das Spiel von gestern beginnt wieder. Schritt um Schritt stampfen wir gemächlich den Firn hinan. Glücklicherweise sind die Rucksäcke nun praktisch leer, worüber wir gar nicht erbost sind. Aber alle paar Meter fügen wir wiederum eine Rast ein, um zu verschnaufen. Nur Wisi rastet nicht. Er hat heute seinen grossen Tag! Der Gipfel des Siebentausenders zieht ihn so stark in seinen Bann, dass er Müdigkeit und die sauerstoffarme Luft einfach vergisst. Bald ist er nur noch als kleiner Punkt zu erkennen, der, als hätte er künstlichen Sauerstoff bei sich, dem Gipfel entgegeneilt.

Wir halten leicht schräg gegen den Grat hin, wo sich einige Felsblöcke befinden, die eine angenehme Rast versprechen. Die Steine sind denn auch von der Sonne ein wenig erwärmt, so dass wir gerne ein paar Minuten bleiben und einen Traubenzucker mehr als üblich lutschen.

Plötzlich entdecke ich im Fels kleine, viereckige Kristalle, die golden in der Sonne flimmern. Das kann nur Gold sein! Wir hämmern mit dem Pickel einige Felsbrocken los und nehmen sie näher unter die Lupe. Einmütig sind wir der Ansicht, das höchste Goldvorkommen der Erde entdeckt zu haben... Die kleinen metallenen Plättchen sind quadratisch und heben sich deutlich vom Fels ab. Einige Muster stecken wir in die Tasche, wir wollen sie in Kabul untersuchen lassen und erfahren dann, dass es Pyrit ist, nur Schwefelkies!

Je höher wir kommen, desto grandioser wird die Rundsicht. Wir sind schon deutlich höher als der « Schah » mit seinen 6550 Metern Höhe. Da stellt sich uns eine Gletscherspalte in den Weg. « Ist gut eingeschneit », meint Simon und macht sich auf den Weg, den Spuren Wisis folgend. Mitten auf der Schneebrücke wird es ihm aber doch etwas zu ungemütlich, so dass ich ihm ein Seilende zuwerfe. Mit Sicherung traversiert er dann die restliche Spaltenbreite. Ich folge etwas weiter unten nach. In der Spaltenmitte sehe ich, dass es sich um eine sehr schlechte Schneebrücke handelt. Mit einem Bein bin ich bereits durchgebrochen, und dunkel gähnt ein riesiger Schlund. « Gut sichern », rufe ich zu Simon hinauf. Dann lege ich.mich nieder und traversiere die Spalte auf allen Vieren. Auf diese Weise wird das Gewicht besser verteilt, dafür komme ich gänzlich ausser Atem und muss mich auf dem sicheren Ufer gehörig ausruhen. Hanspeter umgeht die Spalte mittlerweile in einem grossen Bogen nach links. Der Umweg lohnt sich. Auf fast siebentausend Meter Höhe wäre ein Spaltenunfall selbst mit guter Seilsicherung immer noch sehr problematisch.

Langsam nähern wir uns dem Steilaufschwung, der zum Gipfel führt. Er besteht aus prächtigem Trittfirn. Wohin wir auch treten, die Steigeisen halten im windgepressten, zähen Firn, selbst wenn er sich fast senkrecht aufschwingt. Es ist ein erfreuliches Vorwärtskommen nach dem langweiligen Schneestampfen. Simon geht voraus, Hanspeter und ich folgen in seinen Tritten. Das Seil haben wir nach der Spaltenüberquerung wieder im Rucksack versorgt, so dass wir uns unbehindert bewegen können.

Da bleibt Simon plötzlich stehen. Einen halben Meter ob ihm liegt der höchste Punkt des Berges, der Gipfel, 7038 Meter hoch! Die Ehre, den Gipfel erreichen zu können, will Simon nicht allein für sich beanspruchen und lässt uns deshalb nachrücken. Gemeinsam betreten wir darauf das stolze Haupt unseres Siebentausenders! Riesig ist unsere Freude, nun auch noch auf diesem Berg zu stehen. Mehr als fünf Stunden haben uns die nicht ganz siebenhundert Höhenmeter von Lager II aus gekostet. Auf der Südseite steigen wir einige Meter ab und halten auf einem bequemen, windgeschützten Felsband eine lange Gipfelrast. Wir befinden uns hier direkt auf der afghanischpakistanischen Grenze.

Ein riesiger Gletscher zieht gegen Tschitral hinunter, und im Südosten - gegen den Karakorum-himalaya hin - erhebt sich Kette um Kette hoher Berge. Die meisten unbestiegen und namenlos. Noch weiter im Osten, hinter gigantischen Monsunwolken, ahnen wir den Achttausender Nanga Parbat. Auch gegen Norden ist der Blick frei und wandert ungehindert von den Bergen der chinesischen Provinz Sinkiang über den Pamir und die Wachanski-Kette zur Bergwelt des nördlichen Badachschan und zu den übrigen Siebentausendern des Hindukusch. Ein wogendes Meer aus Fels und Eis!

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