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Erste Winterbesteigung der Roten Zähne des Gspaltenhorns

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON P.H. GIRARDIN, BIEL

( 14.17. FEBRUAR 1959 ) Mit 3 Illustrationen ( 136-138 ) Es war nicht in der Absicht, eine Heldentat zu vollbringen, als mein Freund Martial Perrenoud mir die Winterbesteigung des Gspaltenhorns über den Westgrat, die sogenannten Dents rouges, vorschlug. Der Plan war in seinem Geist und in demjenigen seines grossen Freundes Raymond Monney schon vor zehn Jahren gekeimt. Sie hatten zusammen zwei Versuche unternommen, die in einer Niederlage endeten. Das erste Mal war der Grund ein körperliches Versagen Martials, der von den Strapazen eines zu anstrengenden Marschtages erschöpft war; das zweite Mal war es die zu grosse Schneemenge auf den Felsen. Es war ihr erster Kontakt mit dem Berg im Winter und ihre erste Erfahrung über die Art, wie man an diesen grossen, zerklüfteten Grat herankommen könnte. Man geht von Kandersteg das Gasterntal hinauf, dann über den endlosen Kanderfirn in seiner ganzen Länge. Im Sommer geht man von der Gspaltenhornhütte aus; aber ein Versuch, den wir im Winter von dieser Seite her unternahmen, scheiterte infolge starker Vereisung und wegen Lawinengefahr, lange bevor wir die Hütte erreichten.

Es war also ein alter Traum von Martial, den er mir zur Verwirklichung vorschlug, ein Plan, den er im Geist lange verarbeitet und sorgfältig studiert hatte. Nach seiner Ansicht « sollte es gehen ». Er hatte den Grat letztes Jahr zum zweitenmal in umgekehrter Richtung begangen. So war ich ohne Bedenken bereit, mitzuhalten und die Seilschaft mit einem Freund zu teilen, dem ich voll vertraute. Aber wir brauchten Hilfe und fragten zwei Kameraden, Jéo Henzelin und Pierrot Wieland. Sie waren beim Gedanken, uns zur Hütte zu begleiten für das Weekend, begeistert. Als dritter Gefährte gesellte sich uns auch Raoul Degoumois gern zu. Zwei Tage vor dem grossen Aufbruch sind wir fieberhaft beschäftigt, das Material bereitzumachen und die Chargen zu verteilen. Keine Einzelheit darf vergessen werden.

Der Samstag ist da. Biel ist in Feststimmung; denn es ist Fastnacht, das Fest der Tollheit. Aber wer sind die Närrischsten? Das könnten gewisse Leute fragen. Jedenfalls verlassen wir die Stadt ohne Bedauern: in einigen Stunden werden wir in der Sonne sein, während die Festbrüder im Nebel zurückbleiben.

Im Zug von Biel nach Kandersteg fröhliche Lachsalven! und ebenso im Taxi, der uns zum Eingang ins Gasterntal fährt. Aber als wir die Säcke auf den Rücken schnallen und die Ski schultern, hört der Spass auf. Während des steilen Anstiegs, der nun folgt, verlieren wir kein Wort; denn wir brauchen unsern Schnauf, um den regelmässigen Rhythmus einzuhalten.

Auf der Höhe der Schlucht finden wir Schnee vor und schnallen die Ski an. Zwei Stunden Marsch mit Seehundsfellen bringen uns nach Seiden. Auf der Terrasse eines geschlossenen Bistros machen wir es uns bequem für eine Esspause. Das ganze Dorf schläft. Wir sind allein. Kein Laut unterbricht die Stille im Tal. Es ist sehr kalt unter diesem heiterblauen Himmel, und die Bäche sind gefroren oder ausgetrocknet.

Nach einer halben Stunde verlassen wir den Weiler auf einem Fussweg, den man auf dem gewellten Terrain unter der metertiefen, unregelmässigen Schneeschicht erraten muss. Der Schnee ist bald pulvrig, bald brettig, und wenn man sich sicher glaubt, so bricht er plötzlich ein und wirft einen aus dem Gleichgewicht. Das wäre weiter nicht schlimm, wenn die Rucksäcke nicht wären!

In kurzer Zeit haben wir einen Wald hinter uns gebracht und befinden uns auf einem dünn mit Gestrüpp bewachsenen Plateau. Wir spuren eine gewundene Piste durch das hügelige Gelände und sind davon so in Anspruch genommen, dass wir der Umgebung keine Aufmerksamkeit schenken, bis uns ein Donnerschlag veranlasst, zum Ostgrat des Doldenhorns hinüberzuschauen. Grosse Eisblöcke haben sich dort gelöst und platzen im Fall zu einer Wolke von Schneestaub auseinander. Wir fühlen uns ganz klein vor diesem Schauspiel, dessen Getöse sich noch verstärkt. Der Eisstrom fährt durch ein Couloir und stürzt dann wie ein schimmernder Wasserfall auf den darunterliegenden, sanfter geneigten Hang, wo er sich ausbreitet und sich mit schmutzigbraunem Faulschnee mischt. Der Lärm hört auf, und in der Luft bleibt eine schwebende Wolke zurück.

Wir nehmen den Marsch wieder auf. Vor uns zeichnet sich wie ein langes, regelmässiges Dach die Umrisslinie der Alpetlimoräne ab. Bis dahin heisst es im Zickzackweg einen sehr steilen Hang überwinden. Eine letzte Kehre, und wir betreten den fadendünnen Gratkamm, dem wir uns balancierend wie Seiltänzer entlangbewegen. Bald verliert sich die Moräne in den Schneehängen, wo wir eine flache Felsplatte als Halteplatz für eine Zwischenverpflegung benützen; denn es ist schon 14 Uhr. Wir wärmen Kaffee und machen nachher einige Fotos mit Balmhorn und Alteis als Hintergrund. Der Nordhang des letzteren ist fast schneefrei. Wir befinden uns in einer Schönwetterperiode, die nun schon einen Monat dauert.

Während des Haltes haben wir Musse, den Weiterweg zu überlegen. Ein Höhenunterschied von 600 Meter trennt uns vom Kanderfirn. Wir wollen den Sommerweg, der unter den Felswänden entlangführt, verlassen und die Hänge über uns gerade emporsteigen.

Der Aufstieg ist von Anfang an mühsam. Pierrot und ich haben schon ziemliche Höhe erreicht, als sich die andern plötzlich entschliessen, dem leichteren Weg zu folgen. Man teilt sich also in zwei Partien, um auf dem Gletscher wieder zusammenzutreffen. So sind wir zwei allein. In vielen Spitzkehren ansteigend, gelangen wir zu einer kleinen Felspassage, wo wir die Ski abschnallen. Die Stelle wäre nicht schwierig, aber der schwere Rucksack und die Ski hindern unsere Bewegungen. Als ich die Sache hinter mir habe, schaue ich von einer kleinen Plattform aus, wie Pierrot, ein paar Meter weiter unten, damit fertig wird. Ich sehe eben, wie er seine Füsse auf einen Schneefleck stellt, wie darunter Glatteis und Gras zum Vorschein kommen... Und plötzlich stürzt er: ein Griff hat nachgegeben. Bevor er aus meinem Blickfeld verschwindet, sehe ich ihn die Bretter abwerfen; dann ein Sturz von zehn Meter...

Er erscheint wieder, auf dem Schnee weiterrutschend. Dieser muss den Aufschlag glücklicherweise gedämpft haben; denn mein Gefährte steht bald wieder auf, ein wenig zitternd vom Schreck.

Nun schaut er zweimal, wo er den Fuss hinsetzt, während er nachkommt. Es ist für uns beide eine Lehre: von jetzt an werden wir doppelt aufpassen, auch bei scheinbar leichten Passagen.

Wir werden noch allerlei Arten Schnee zu bewältigen haben, bis wir den Gletscher erreichen. Der ganze Weg, von der Moräne aus gerechnet, wird uns mindestens zwei Stunden kosten. Unsere Kameraden sind nirgends zu sehen; wir halten vergeblich nach allen Seiten Ausschau... Doch!... Spuren, die hinter einem Buckel verschwinden: sie müssen uns eine halbe Stunde voraus sein. Ohne Zwischenpause gehen wir der Spur nach, um ihren Vorsprung einzuholen. Vom ersten Buckel aus hoffen wir, die Hütte zu erblicken. Enttäuschung! Vor uns eine zweite Erhebung, auf der sich drei kleine Punkte bewegen. Darüber kreist in niedriger Höhe ein Flugzeug. Daraus schliessen wir, dass sich dort die Hütte befinden muss; denn das Flugzeug schickt sich an, zu landen. Mit dieser Hoffnung gehen wir mühsam weiter. Wir sind furchtbar müde, besonders Pierrot mit seinen noch nicht zwanzig Jahren. Aber unsere Moral sinkt auf Null, als wir vom zweiten Buckel aus einen dritten sehen, immer mit den drei schwarzen Punkten. Er ist eine wahre Eiswüste, dieser Gletscher! Ich wusste, dass er fünf Kilometer lang ist; aber der Marsch dauert schon so lange, dass wir die Minuten mit Kilometern verwechseln. Wir schalten öfters Halte ein. Jedesmal muss ich Pierrot, der, den Kopf auf den Griff seiner Stöcke gestützt, eingedöst ist, wachrütteln. Und jedesmal schwören wir uns, dass morgen ein Ruhetag sei, ohne Aufstieg.

Endlich um 17 Uhr, hinter dem fünften Buckel, steht die Mutthornhütte vor uns. Es ist weit und breit kein Mensch zu erblicken; aber Fußspuren und Flugzeug-Skigeleise verraten, dass sich jedenfalls heute mehrere Personen hier aufgehalten haben müssen. Im Winterraum finden wir unsere drei Gefährten. Sie haben ihren Vorsprung genützt. Zwei Pfannen mit Tee und Reis mit Tomaten stehen auf dem Feuer. Während der Mahlzeit besprechen wir die Einzelheiten für morgen. Dann legen wir uns nieder, und wir zwei überlassen die Verantwortung für die Tagwache den beiden Älteren.

Ich höre Lärm; es muss Morgen sein; aber ich bin, übermüde vom gestrigen Tag, zu keiner Bewegung fähig. Erst noch war ich wie Feuer und Flamme für Martials Unternehmen und wollte mit dabei sein, und nun bin ich meiner gar nicht sicher!

Plötzlich die laute Stimme Martials, der uns wecken will. Jéo erhebt sich als erster, um mitzugehen... Jéo, der nicht mehr Training hat als ich! Jéo, der gar nicht im Sinn hatte, mitzumachen! Angesichts dieses Eifers kann ich nicht anders: mit einem Satz stehe ich auf den Füssen. Hastig esse ich ein paar Brocken, um meinen Kameraden, die schon im Begriffe sind, den Rucksack zu buckeln, zu folgen. Da wir also drei sind, verteilen wir die Chargen neu. Jéo wird der Mittlere in der Seilschaft sein und kann etwas mehr tragen als wir andern. Wir nehmen einige Haken, eine Steigleiter und drei 40-m-Nylonseile mit. Zwei sind für die Seilverbindung und das dritte zur Sicherung beim Abseilen.

Pierrot, der sich von seiner gestrigen Übermüdung noch nicht erholt hat, verzichtet vorsichtigerweise, mitzukommen Er wird auf uns warten, während Raoul morgen allein zu Tal steigt, um seine Arbeit aufzunehmen. Als alles abgemacht ist, verabschieden wir uns voneinander.

Eine Skiabfahrt bringt uns in zehn Minuten zum Tschingelpass hinab, wo wir die Bretter deponieren. Dann erreichen wir bald einen steilen Schneehang, der uns zum Biwakunterstand auf der Gamchilücke führt. Von hier aus hat man links den Blick auf die Nordwand des Morgenhorns, vor uns auf das vom Nebel verdeckte Plateau suisse, weiter rechts folgen die Büttlassen und - endlich - unser Grat.

Es ist 7 Uhr, als wir uns anseilen. Ich schlage vor, dass ich bis zum ersten Zahn vorangehe, dann wird Martial, der die Dents rouges kennt wie seinen Hosensack, die Führung übernehmen. Das Terrain ist ziemlich einfach, so dass wir gleichzeitig steigen können und in Ruhe das Panorama geniessen. Es zieht sich bis zum Mont Blanc hinüber. Die Berglandschaft beginnt eben im hellen Tageslicht zu erwachen. Bald erreichen wir einen Felsvorsprung, der eine günstige Verschneidung bietet. Manchmal müssen wir sie verlassen und über schroffe Platten gehen. Glücklicherweise sind drei solide Haken da, die uns, ungeschickt vor Kälte, wie wir sind, sehr zustatten kommen. Als wir über die Passage hinaus sind, grüsst uns eine schöne, von der Sonne flammend gelb erhellte Spitze, von der uns ein einige hundert Meter langer, sanft geneigter Hang trennt. Stellenweise ist Sicherung nötig, sei es, dass der Weg in die Flanke hinaus über pulvrig verschneite Platten führt oder zu einem kurzen Abstieg in eine Scharte. So erreichen wir den Zacken, der im vollen Sonnenschein steht. Glücklicherweise müssen wir ihn nicht erklettern, sondern können ihn nach rechts umgehen. Die Querung führt uns in ein steiles Couloir. Um es zu überwinden, benützt man - in der Mitte des Hanges - einen Standplatz; dann - um nicht auf eine Wächte hinauszugeraten - traversieren wir nach links in eine Lücke unter einer brüchigen Mauer. Auf einer kleinen Plattform haben wir kaum alle drei Platz. Damit mich meine Kameraden besser sichern können, klettere ich weiter. Jeder Griff muss geprüft werden, bevor man ihm sein Gewicht anvertraut. Die Lufttemperatur ist sehr tief, aber der Fels ist von der Sonne schon angenehm erwärmt. Trotz der Schwierigkeit ist das Hindernis bald überwunden. Die Kameraden kommen nach, und ich sehe, wie sie sich abmühen. Es ist oft so, dass bei einer schwierigen Stelle die Nachfolgenden mehr Mühe haben, die Griffe zu wählen und ausgeglichen zu klettern als der Führende, besonders wenn sie gewöhnt sind, selbst eine Seilschaft zu führen. Im Gefühl, von oben gesichert zu sein, riskieren sie mehr und rücken zu schnell vor, bis sie sich plötzlich in ihrem Elan aufgehalten sehen, weil die Griffe fehlen. Als wir wieder beisammen sind, diskutieren wir die Passage, während wir etwas zu uns nehmen.

Die nächste charakteristische Stelle, die wir antreffen, sind zwei durch eine grosse schneefreie Terrasse getrennte, funkelnde Firnfelder. Hier wollen wir zu Mittag essen. Jéo und ich beraten den Weiterweg und glauben, von weitem unsern Gipfel zu erkennen. Aber Martial klärt uns auf, dass es erst der erste Zahn ist. Unsere Hoffnung schwindet, dass wir den Gipfel heute noch erreichen werden. Ganz in der Nähe mündet das Couloir, das man benützt, wenn man den Grat von der Gspaltenhornhütte her angeht. Auf dem Petersgrat, der von hier aus sehr gut zu sehen ist, beobachten wir Flugzeuge, die abfliegen und wieder landen. Die Stunde ist vorgerückt, und wir verlassen, nicht ohne Bedauern, unsern Halteplatz. Als wir das Firnfeld passieren, wo der Schnee sehr gut trägt, bewundern wir nördlich vor uns eine prächtige dünne Nadel.

Nach den beiden Firnfeldern folgen wir einem langen Couloir im Südhang. Ich schlage mit dem Fuss die Stufen in den harten Schnee: das wärmt mir die Füsse und erlaubt ein schnelles Vorrücken. Als ich am Ende des Seils bin, sehe ich den Letzten seinen Platz 80 Meter unter mir verlassen. Ich benütze die Wartezeit für ein paar Fotos. Noch eine Seillänge, die mit Fels endet, und wir treten aus der Rinne heraus. Von da an bietet der Grat keine grossen Schwierigkeiten mehr. Immerhin heisst es vorsichtig sein: er ist sehr luftig. Alles ist mit Pulverschnee bedeckt, und hin und wieder sinken wir bis zu den Knien ein. Links und rechts geht es 900 Meter in die Tiefe. Der Südhang ist von mehreren jähen Schluchten durchfurcht, die untereinander durch feine, gezackte Grate getrennt sind, auf denen die dicke Schneeschicht Wächten bildet, die wie Méringues-Schalen aussehen. Unser Grat, der bis dahin geradlinig verlief, wird allmählich bewegter. Es geht auf- und abwärts: man nähert sich den Zähnen. Es ist 16 Uhr 30, als wir zur ersten Scharte kommen. Um die Seilschlinge für das Abseilmanöver zu finden, muss ein Haufen Schnee weggeräumt werden. Glücklicherweise weiss Martial genau, wo sie sich befindet, so dass wir keine kostbare Zeit verlieren. Während wir die Sache einrichten, taucht in unserem Gespräch immer häufiger das Wort Biwak auf. Wird es noch einen geeigneten Platz geben? Bis jetzt ist uns keiner begegnet, besonders nicht in den letzten Stunden. Übrigens dachten wir gar nicht an ein Biwak. Aber nun rückt es gegen Abend und die Möglichkeit muss ins Auge gefasst werden. Martial ist in die Scharte eingestiegen und hat ein heikles Hindernis vor sich in Form eines Schneepfropfs: in eine Verschneidung eingeklemmt, droht dieser jeden Augenblick nachzugeben. Mit wohlüberlegten Bewegungen glückt es ihm, eine gute Plattform zu erreichen. Eine einzige Abseilung, die aber viel Vorsicht und Selbstsicherung heischt, bringt auch uns in die Scharte. Ich bin froh, als die Reihe an mir ist; denn meine Füsse beginnen vom Stillstehen zu schmerzen.

Die Plattform hat respektable Dimensionen. Sie ist mindestens zwei Meter lang und anderthalb Meter breit und schön eben. Zudem ist die Wand darüber leicht überhängend. Nach kurzem Verhandeln entschliessen wir uns, hier zu bleiben; denn wenn wir weitergingen, könnte uns die Nacht überfallen, bevor wir nochmals einen passenden Platz gefunden hätten. Mit den Füssen heftig arbeitend, um sie warmzukriegen, räumen wir den Schnee weg. Das Geröll wird als Unterlage weniger kälten. Dann schichten wir ein Schneemäuerchen auf, das gegen den kalten Luftzug etwelchen Schutz bieten wird. Der sehr bequeme Platz liegt 300 Meter über dem Fuss der Wand. Bei klarem Himmel können wir einem phantastischen Sonnenuntergang beiwohnen. Im Augenblick, da die rote Scheibe den Horizont berührt, fotografiere ich meine Kameraden, die sich schon in ihren Schlafsäcken eingerichtet haben; über ihren Köpfen, in 200 Meter Entfernung, der flammendrote Gipfel. Es ist 17 Uhr.

Ich schlüpfe als letzter in den Sack, nachdem ich meine Kameraden mit einer Plastikschutzdecke versorgt habe. Dann wird der Metaapparat in Aktion gesetzt und der Proviant hervorgeholt. Leider habe ich beim überstürzten Aufbruch am Morgen das Nötigste liegengelassen, was mir natürlich allerlei Bemerkungen einträgt. Jéo wühlt in seinem Sack herum nach einem Stück Butter: auch das ist unauffindbar. So müssen wir uns bescheiden mit dem, was wir haben. Nach diesem « Schmaus » ziehen meine Kameraden die Pfeifen hervor, und mit zwei Pfeifen rauchen wir alle drei mit Behagen und dazu reden wir von Bergerlebnissen. Es ist nun Nacht. In der Ferne leuchtet hin und wieder der Scheinwerfer eines Autos auf und verschwindet. Obwohl sie nun schon ziemlich lang im warmen Schlafsack eingepackt sind, kann ich meine Zehen immer noch nicht bewegen. In der Nacht weckt mich dann ein schmerzhaftes Brennen in der einen Ferse, und ich ändere meine Lage, um die Blutzufuhr zu erleichtern. Im ganzen finden wir aber, dass die Stunden rasch vorbeigehen im Vergleich zu andern Biwaknächten. Sicher rührt es daher, dass wir hier so gut versorgt sind, trotz dem kalten Wind, der immer wieder unsere Plastikdecke aufbläst.

Um 6 Uhr werden wir munter, und das Wasser für den Nescafe kocht schon im Réchaud. Martial weist mit dem Finger nach der Schartenöffnung: am südlichen Himmel haben sich hässliche Wolken gebildet. Es beunruhigt uns. Aber da wir den Gipfel so nahe vor uns sehen, bleiben wir zuversichtlich. In vier bis fünf Stunden werden wir es geschafft haben, bevor der Wetterumschlag eintreten kann. Nach einem mageren Frühstück verlassen wir den « sicheren Port », um das am Abend begonnene Abseilen fortzusetzen bis auf den Grund der Scharte, der mit Pulverschnee überhäuft ist. Er ist etwa zehn Meter breit, so dass wir ihn ohne Sicherung passieren. Drüben zappelt Martial schon am sehr steilen Hang, wo der Schnee gar keine Adhäsion hat. Ein Felsinselchen gibt ihm die Möglichkeit, einen Haken einzuschlagen, so dass er gesichert die überhängende Felsbasis des Zahns erreichen kann. Da die zehn Meter Seil, die er zur Verfügung hat, nicht ausreichen, um ein gutes, sonnenbeschienenes Band zu erreichen, muss er zuerst Jéo nachkommen lassen. Zur Überwindung des Überhangs ist er auf die Steigleiter angewiesen; aber, wenn sie auch die fehlenden Griffe vorteilhaft ersetzt, nimmt sie der Stelle doch nichts von ihrer Schwierigkeit. Endlich fasst Martial auf dem erstrebten Band Fuss und lässt uns, einen nach dem andern, nachkommen. Als letzter muss ich das Seil spannen, um das kostbare Material einzuholen. Meine Arme sind nachher schlaff vor Anstrengung; glücklicherweise sind die beiden nächsten Seillängen erholsamer!

Wir befinden uns am durchbrochenen Zahn. Seinen Gipfel umgehen wir durch eine heikle Querung in die Nordwand bis zum Loch. Wir legen die Säcke ab und schlüpfen, mit den Füssen voran, hindurch. Auf der andern Seite nimmt uns ein kleines Band, das hier die Vorsehung bereithält, auf. Von hier aus sieht man, bloss 20 m entfernt, den berüchtigten 15 m langen schrägen Riss. Er sieht gar nicht einladend aus. Um ihn zu erreichen, bewerkstelligen wir zuerst einen Pendelquergang und folgen dann einem kurzen Schneegrat, der die beiden Zähne verbindet. Eine gute Plattform beim Beginn des Risses erlaubt uns eine kurze Erholung. Wir brauen einen stark gezuckerten Kaffee, um uns für die bevorstehende grosse Beanspruchung zu stärken. Ohne die Sonne abzuwarten - sie ist noch vom vorhergehenden Zahn verdeckt - greift Martial das Hindernis zuversichtlich an. Er klettert bis zu einem Haken und erreicht von dort aus den Riss, dem er ein paar Meter folgt, bevor er einen Nagel einschlägt und daran die Steigleiter befestigt. Wir sehen, wie er auf seine armen, von der Kälte starren Finger haucht; denn die Temperatur ist sicher ziemlich unter Null. Als sein Blut wieder zirkuliert, klettert er weiter, wobei er die Griffe vorweg von Kies und Pulverschnee säubern muss. Mit den Fußspitzen hält er sich oft auf minimsten Ritzen: man sieht von unten das ganze Profil seiner Vibramsohlen. Nach Überwindung eines schwierigen Vorsprungs fasst er endlich Fuss auf einem kleinen Absatz. Jéo geht nun ohne grosse Schwierigkeiten nach - abgesehen davon, dass auch er unter der beissenden Kälte leidet. Dann schicke ich die Säcke auf dem Luftweg hinauf. Sie pendeln, ohne die Wand zu berühren, weit in der Luft. So überhängend ist die Sache also! Das kann gut werden.

Ich bekomme es richtig mit der Angst zu tun und probiere um so schneller draufloszuklettern. Aber ich komme fast nicht vorwärts. Ich zittere am ganzen Körper, vor Kälte oder vor AngstEndlich bringe ich mit dem letzten Klimmzug den Überhang hinter mich und erreiche meine beiden Gefährten. Lachend sehen sie dann zu, wie ich meine erfrorenen Arme herumschlage, um das Blut wieder in Zirkulation zu bringen. Die Sicherung ist hier durch drei Haken garantiert. Es ist der luftigste Punkt der ganzen Besteigung. Nach einigen ausgesetzten Seillängen erreichen wir den Gipfel des Zahns.

Ein sanft abfallender Grat führt zur letzten Scharte. Diese lässt sich mit einem Seilmanöver überqueren, und dann erreichen wir über einen letzten Hang endlich, 16 Uhr 45, den Gipfel.

Während wir unseren Kaffee geniessen, schweift der Blick über eine der schönsten Landschaften. Unsere Befürchtungen vom Morgen wegen des Wetters waren unnötig; denn der Himmel ist den ganzen Tag klar geblieben. Nachdem wir uns mit dem Wenigen, was unsere Säcke noch enthalten, gestärkt haben, beginnen wir den Abstieg auf der normalen Route über den Nordgrat. Er ist von einem scharfen Wind, der vom Sefinental herauf bläst, trockengefegt. Wir sind ganz durchfroren, aber gelangen rasch tiefer und kommen zu einem Felsvorsprung, der mit dicken fixen Seilen ausgestattet ist. Entgegen unsern Erwartungen sind die Seile schneefrei, und der Fels ist trocken. Es ist ein Kinderspiel. Wie Affen an einer Liane lassen wir uns hinabgleiten. Nun führt ein Schneehang zu einem leichten Kamin, der nur durch unsere sperrigen Rucksäcke erschwert wird. Bald darauf erreichen wir eine ( namenlose ) Mulde. Sie ist beherrscht vom Südhang der Büttlassen. Nun sind die Seile entbehrlich und werden in den Säcken verstaut.

Am Westhang ist der Schnee schwer und trägt nicht mehr. Aber die Sache dauert nicht lange. Als wir um einen Felsen herumkommen, stehen wir ganz plötzlich vor der Gspaltenhornhütte. Unglücklicherweise ist sie von einem Schneerutsch fast zugedeckt. Wir müssen durch ein Dachfenster eindringen. Es ist 19 Uhr, und unsere erste Sorge gilt dem Herdfeuer, um uns zu wärmen und etwas Warmes zu kochen. Zum Übermass unserer Misere ist der Kamin verstopft, so dass wir es in der rauchgefüllten Küche nicht lange aushalten. Wir bringen es gerade fertig, ein wenig Schmelzwasser lauwarm zu kriegen, und ziehen uns dann in den Essraum zurück. Diesmal ist die Mahlzeit allzu mager: ein Endchen Brot mit kalter Bouillon, die fast nicht den Hals hinunter will. Wir sehen uns genötigt, den Notvorrat anzugreifen. Aber der Büchsendeckel ist verlötet. Nach kurzer Besinnung gehen wir mit dem Pickel dahinter. Ist es möglich, dass einer auf den Gedanken kommt, eine Büchse, die der erste beste, der in Not ist, sollte öffnen können, auf die Art zu verschliessen? Wir bringen es schliesslich fertig, etwas herauszukriegen, um unser mageres Essen zu bereichern. Nachher muss uns niemand zu Bett schicken. Wir sind alle drei todmüde.

Beim Zubettgehen untersuche ich meine Füsse. Sie sehen nicht gut aus. Die Zehen weisen schwärzliche Zeichen von Erfrierung auf.

Am nächsten Morgen, als wir den Gamchigletscher hinaufsteigen, sind wir erstaunt und beunruhigt über drei hoch fliegende Flugzeuge, die sich sehr für das Gspaltenhorn und seine Umgebung zu interessieren scheinen. Schon gestern, als wir uns nahe beim Gipfel befanden, hatte ein einzelnes mehrmals vor uns gekreist, aber der Pilot schien uns nicht zu sehen, da er davon-flog, ohne auf unsere Zeichen zu antworten. Sind sie etwa heute auf der Suche nach uns? Nach zehn Minuten sind sie wieder verschwunden. Durch die Stille tönt nur noch das Einbrechen des Harschschnees unter unseren Tritten.

10 Uhr 45 kommen wir zum Fuss des Steilhanges, der zur Gamchilücke hinaufführt. Wieder ist der Schnee schwer, und wir kommen nur langsam vorwärts. Aber... träumen wir? Ein Pfiff, und dann sehen wir drei gestikulierende Männer, die uns ermutigende Worte entgegenrufen. Auf eine Distanz von zwanzig Metern lassen sich mühelos Jean Fuchs, Roger Mathey und Hugo Weber erkennen. Wir sind nur erstaunt, dass Pierrot nicht dabei ist...

Alle Schwierigkeiten der Fahrt liegen hinter uns. In Kürze erreichen wir zusammen die Mutthornhütte. Dort finden sich noch mehr Leute: es sind Piloten, die hier unter der Leitung Hermann Geigers Landungsübungen durchführen. Wir werden liebenswürdig umsorgt und vernehmen, dass die drei Flugzeuge von heute morgen von unseren drei zur Hilfeleistung gekommenen Kameraden besetzt waren und dass Pierrot nach Sitten geflogen worden ist. Am Sonntag hatte ein Pilot den ganzen Grat aus der Luft abgesucht und, da er von der ersten Scharte an, wo wir biwakiert hatten, keine Fortsetzung unserer Spur fand, hatte er vermutet, wir seien abgestürzt. Und so wurde die Hilfsaktion eingeleitet, und ein paar Stunden später waren unsere Kameraden schon auf dem Platz.

Unsere Besteigung ist zu Ende; es bleiben nur noch die 18 km, Abstieg nach Kandersteg. Roger Mathey, der vorsorglich die Ski mitgebracht hat, kommt mit uns, während Jean und Hugo auf dem Luftweg nach Sion zurückkehren. Für uns ist die Genugtuung über das Gelingen unseres Unternehmens und nun die lange, schöne Abfahrt Belohnung aller Anstrengungen.

( Übers.: F. Oe. )

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