Gemmischafe
Von Hans Ulrich Rubel Mit 1 Bild ( 34Zürich )
Mit einer Höhe von tausend bis fünfzehnhundert Metern ragt die Bastion der Gemmiwände über den Talkessel von Leukerbad. Der Fels verweigert den Wassern das Bett und lässt sie über seinen kalkigen Rücken ins Dalatal hinunterspringen. Nur der Fluhgletscher vermag sich an die jähe Wand des Zackengrates zu klammern, obwohl seine unteren Eismassen oft abbrechen, mit lautem Getöse zutal stürzen und dort von den Fluten der Dala, « der Trüben », aufgeleckt werden. Die Einheimischen sagen dann, der Gletscher « kalbere ».
Trotz der abweisenden, drohenden Haltung des Felsgehänges hat sich von altersher ein Weg hinauf gewagt und die Wasserscheide überschritten. Es ist der Passweg, in alten französischen Urkunden « Chemin », heute « Gemmi » genannt. In schwindligem Anstieg erklimmt er den grausigen Felsgürtel und begegnet auf der Zinne einem verschwiegenen, düstern See. Zaghaft nähert er sich der « Tübu », so heisst, wie uns der Ortsnamenforscher J. U. Hubschmied berichtet, in gallischem Idiom ein schwarzes dämonisches Wesen in Frauengestalt, das dem Daubensee seinen Namen gab. Nun folgt der steinige Pfad, links und rechts grossen Felsblöcken ausweichend, der Hochtalsohle bis zum Berghotel Schwarenbach und verlässt das Wallis kurz vor der Spittelmatte, die in römischer Zeit wohl zum « domus hospitalis » gehörte, zum Hospiz auf der Passhöhe.
Während zwei Dritteln des Jahres ist der Weg ungangbar. Dann aber, wenn die Sonne das Eis im See weggebadet und die Alpenkräuter zwischen den Steinen hervorgelockt hat, lenkt er eine fast tausendköpfige Schafherde die Wand herauf und erschliesst ihr die sommerlichen Gebirgsweiden. « Zu den grossen Steinen », wo kein anderes Vieh sein Auskommen findet, geht das anspruchsloseste aller Haustiere, das Walliser Schwarznasenschaf, während drei Monaten seiner Nahrung nach.
Und wie die Tiere prächtig gedeihen! Kräftige Mutterschafe säugen muntere Lämmer, die sie gegen den herabstechenden Raubvogel mit ihren Hörnern grimmig verteidigen, kastrierte Böcke schiessen ins Fleisch und bekommen dichte, glänzende Wolle, und eifersüchtige Widder liefern sich harte Kämpfe.
In unendlichem Bergfrieden und doch stets bedroht von den Naturgewalten, von Steinschlag und von überraschenden Wettern, in sengender Hitze und beissender Kälte, vollzieht sich das Tagewerk des Hirten, der über die Herde wacht. Ein Bub begleitet ihn, so ein richtiger Walliser « Botsch », eigensinnig und kühn, wild und lustig wie ein junger Ziegenbock, mit dem er den Namen auch gemein hat. Mit seinem treuen Gefährten, einem langhaarigen Schäferhund, klettert der flinke Bursche auf alle Gräte, holt verstiegene Schafe herunter und treibt sie dem Hirten zu, der dafür zu sorgen hat, dass auch die wenig beliebten tieferen Weideplätze abgeäst werden, die benachbarte Rinderalpe nicht von den Schafen « geschändet » wird oder seine Schützlinge gar heimlich heimtrotten. Gemeinsam bringen die Hüter ihre Herde zur « Lecke », wenn die Schafbesitzer aus dem Tal das Salz bringen und nach ihren Lieblingen sehen.
Am St. Moritztag ( 22. September ) ist die Hut zu Ende. Die mollige Schar flieht zutal, zum « Schafscheid », bevor sich auf der Gemmi das oft erschaute Wolkenspiel in Schneetreiben auflöst und Weide und Pfad unter einer weissen Decke begraben werden. Eine gute Tagesarbeit stellt das Sammeln der Schafe dar. Der Hirt erspäht mit seinem Feldstecher, dem « Spiegel », die zerstreuten Grüpplein und zeigt sie dem Hund, der sie heranbellen muss. 0, wie die besorgten Mütter plärren und jammernd zurücklaufen, wenn sie nicht stets die schwarzen Naschen ihrer Lämmer vor Augen haben. « Bänssji chum bää, chum sä sä sää! » Das braucht ein Locken, Rufen, Stockfuchteln, bis alle beieinander sind! Beim Einstieg in die Gemmiwand gesellen sich noch einige Zicklein und Böcke zur Herde, die an einsamer, abschüssiger Halde ausgesetzt waren. Dann ergiesst sich der Strom hinunter bis auf den ersten Absatz, « die obere Schmitte », einen der wenigen Ruheplätze im grossen Amphitheater.
Die Schafe lägern. In unnennbarer Verklärung leuchten die Pyramiden des welschen und des schweizerischen Weisshorns, die Schaufel des Matterhorns und der majestätische Dom über die Dämmerung herein. Der Wanderer, der sich oben, beim Hotel Wildstrubel, über die Brüstung beugt, hört während der ganzen Nacht hundertstimmige « Bää-Konzerte », ein herz-zerreissendes Orchester. Fröhlicher mischt sich am frühen Morgen das Gebimmel der Glöcklein in den Lärm, wenn der Zug aufbricht und weiter-stiebt. Die Morgensonne spielt über die hellen Vliese, die dichtgedrängt dem Abgrund entlangwogen. Goethe hätte hier auf der Erde wiederholt gefunden, was ihn in Betrachtung der Atmosphäre erregte, als er auf seiner « Entdeckungsreise » im Wallis mit dem Herzog von Weimar am 9. November 1779 am Fusse der Gemmiwand stand und dem Treiben der Wolken zusah. Wie Nebelfetzen aus dem Tal heraufjagen, sich zu Kumulusformen auftürmen und in der Höhe flockig auflösen einer « Herde hintereinander dahin ziehender Schäfchen, oder gelockter Baumwolle gleich », so kommt der Herdenzug in unbestimmten Streifen die Wand herunter, ballt sich bei der ersten Weg-ausweitung zusammen und trippelt im sanfteren Gelände gelockert in vielerlei Gestalt dahin. In Leukerbad stehen die Kurgäste Spalier, entzückt über die niedlich torkelnden Lämmchen, die jetzt — in Wahrheit zu Tode ermattet und durstig — auf einen Lämmerwagen verladen werden. Auf der heissen Landstrasse wimmelt weiter, was noch gehen kann, und erreicht gegen Abend das Weingelände von Leuk-Stadt.
Zwischen dem ehrwürdigen, von Steinmetzmeister Ulrich Ruffiner im 16. Jahrhundert aus Burgruinen auf erbauten Rathausturm und dem alten, mehrfach zerstörten und wiedererstellten Bischofsschloss liegt die Turmmatte. Dort nächtigen die Schafe, um am nächsten Morgen ihren Besitzern zugeschieden zu werden. An den Farbtupfen auf Rücken, Kopf und Lenden erkennen die Genossen von Leuk, Guttet, Feschel, Erschmatt, Bratsch, Varen, Inden und Albinen die Schafe ihrer Gemeinden. Die einzelnen Familienglieder durchgehen das Gedränge, packen hier und dort ein Schaf und prüfen die in die Ohren geschnittenen und gestanzten oder auf den Hörnern eingebrannten Eigentumszeichen. Gatter stehen bereit, um die aussortierten Schafe einzupferchen und zusammenzuhalten, bis man mit ihnen « fahren » kann.
Am Ausgang, unter dem Torbogen, sitzt der Alpenvogt und zieht für jedes Schaf einen Franken Hirtenlohn, zehn Rappen Salzgeld und zwanzig Rappen Steuern ein. Diejenigen, welche keinen « Pfennig Alpen », kein Recht an der Alpe besitzen, müssen darüber hinaus noch ein Krautgeld entrichten. Damit ist das Schaf aus dem Herdenverband ausgelöst und in die Obhut seines Besitzers zurückgegeben. Wenig Mühe hat das genügsame Tier verursacht, viel Wertvolles liefert es der Bergbevölkerung: lebend seine Wolle und seinen Dünger, tot sein Fleisch, sein Fett, sein Leder.