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Glärnischfahrt

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von J. Sfapfer

( Langwiesen ) Beim Kramen in einer lange vergessenen Truhe kamen mir alte, vergilbte Blätter in die Hände. Es sind Tagebuch-Aufzeichnungen über eine Glärnischfahrt und wurden von einem siebzehnjährigen Alleingänger, unmittelbar nach der Bergfahrt, geschrieben. Sie geben uns in ihrer kindlichen Gestaltung ein Bild von der sorglosen Unbekümmertheit, mit der sich junge Menschen, denen zielbewusste Führung fehlt, das Erlebnis des Bergsteigens ertrotzen. Die für den jugendlichen Alleingänger bedrückende Einsamkeit spät-herbstlicher Bergtage geben den Aufzeichnungen das Gepräge. Mangelhafte Ausrüstung, ungenügende Verproviantierung und auch die alles verhüllende Neuschneedecke sind wohl der Grund für die oft übertriebenen Schilderungen der Gefahren und Schrecken am Glärnisch.

Denken wir daran, dass es zur Zeit, aus der die Aufzeichnungen datieren, noch keine J. O. gab, die der bergbegeisterten Jugend den Weg zum Berg bereitet hätte. So zogen die Jungen auf eigene Faust zu oft abenteuerlichen, leichtsinnigen Fahrten aus, für die mancher von ihnen in reiferen Jahren nur ein bedenkliches Kopfschütteln aufbringt. Wir dürfen froh und stolz sein, dass der S.A.C. mit seiner J. O. vorbildliche Erzieherarbeit leistet und damit den Eltern tatenfroher Jünglinge viele angst- und sorgenschwere Stunden erspart.

« 28. Oktober 1916.

Der Vater wollte kein Geld herausrücken. Ich konnte darum nur bis Rapperswil lösen. Über die Brücke wandere ich nach Hürden, von dort nach Siebnen und dann durchs prächtige Wäggital zur Passhöhe der Schweinalp. Nun steige ich hinab zum Klöntaler See und in einem Zug durchs Rossmatter Tal zur Glärnischhütte hinauf. Ich bin mutterseelenallein und glücklich I — Nach kargem Mahl lege ich die müden Knochen zur Ruhe. Um 3 Uhr 30 breche ich auf. Ich will auf hoher Bergwarte den jungen Tag erwachen sehen. Bald stehe ich auf dem zerklüfteten Gletscherende. Nach manchen Kreuz- und Quersprüngen über halbverdeckte Spalten komme ich in die Die Alpen - 1946 - Les Alpes10 Firnmuide und stapfe durch diese dem Rüchen zu. Im Osten wird es heller! and heller. In einer halben Stande kommt die Sonne. Gemütlich schlendere ich dem scharfen Schneegrat zu, der den Rüchen mit dem Vrenelisgärtli verbindet. Der nahende Tag spiegelt sich auf den Schneekuppen. Sie schimmern grünlich auf. Schon werden sie gelb, dann weiss — und »un plötzlich rot. Wie wunderbar ist dieses rosige Firnelicht! Die allerersten Strahlen fluten an der Bernina vorbei ins Land. Ein goldenes Bündel duftiger Fäden umspinnt den herrlichen Gebirgsstock. Doit muss ein Wunderland verborgen liegen; hinter den zarten Schleiern liegt das Paradies. Tief in den Tälern lagern noch die Schatten der Nacht. Ich aber stehe vom Morgenlicht umflutet. Ein kurzes Frühstück, dann geht 's an die Arbeit. Der Schneegirat ist auf der Linthtalseite verwächtet. Der Schnee ist steinhart gefroren. Ich balanciere stufenhackend vorsichtig gegen den Sattel hinunter. Von dort geht 's etwas leichter über den Grat dem Gfirtli zu. Nun bin ich oben. Mit stillem Gruseln blicke ich zurück auf den begangenen Pfad. Die Aussicht ist unbeschreiblich grossartig! Bündner, Walliser, Berner Alpen; im Norden Jura, Schwarzwald, Hohentwiel und Bodensee; der Sintis, und weit im Morgenduft die Vorarlberger Alpen. Und dann im Südosten die Zauberwelt der Bernina. Dort, tief unter mir das Linthtal, und senkrecht unter den Wänden muss Schwändi liegen, wo Freund Knobel daheim ist. Dort hinunter muss ich also. Nun, es wird schon zu machen sein. Erst stapfe ich auf dem vom Wind zugeschärften Messergrat abwärts. Die Schneide wird immer steiler, die Felsen weiter unten sind verschneit. Eine heillose Arbeit beginnt. Tritt für Tritt und Griff für Griff wische und hacke ich frei. Dann stehe ich tief aufatmend auf dem Guppenfirn. Nun habe ich gewonnen. In dieseta erfreulichen Gefühl esse ich meinen Hucksack leer bis auf ein halbes J*Ä*Ää Brot. Ich brauche ja nichts mehr, denn in wenigen Stunden bin ich in Schwändi. Der Gärtliwand entlang umschleiche ich den Firn und steige stufenhackend steil hinunter zu der Gletscherzunge. Ich will auf kürzestem Wege, direkt durch die Guppenruns, nach Schwändi. Die erste Wandstufe unter* halb des Firns macht mir viel zu schaffen. Alles ist vereist. Aber ich erreiche wohlbehalten das erste Felsband.. Mutters Wäscheseil hilft mir fiber die nächste Wand, die jäh und unübersichtlich in die Tiefe stürzt. Hier wird der Fels aper, bald werde ich leichte Arbeit haben. Aber auf dem dritten Felsband wird mir mit Schrecken bewusst, dass ich nicht mehr weiter komme. Mittag ist schon vorüber. Ich verfolge das Band nach links, dann nach rechts, es wird schmaler und schmaler und endigt in glatten Abstürzen. Unmöglich 1 — Umkehren? Den ganzen Weg wieder zurück? Diese ganze Schinderei noch einmal durchmachen? Nein ) —Und doch gibt es für mich keinen andern Ausweg; ich muss. Also hinauf zum nächsten Bandi Ich finde eine enge Rinse, in der ich mühsam aufwärts turne. Der Fels ist nass. Von oben übersprüht mich beständig ein eisiges Sturzbad. Endlich erreiche ich das Feteband, folge ihm nach Süden, dann nach Norden; aber überall schroffe Wände, tiefe Abgründe. Es ist zum VerzweifelnAlso weiter hinauf, auch über die nächste Wand, um den Firn wieder zu erreichen. Mit bangem Herzen suche ich den günstigsten Aufstieg. Er ist gefährlich genug. Ich klebe in halber GLÂRNISCHFAHRT Höhe der Wandstufe. Da pfeift es plötzlich am Kopfe vorbei. Ein Stein! Und dann geht 's los. Ein ganzer Hagel von grossen und kleinen Steinen saust über und an meinem Kopf vorbei. Ein Wunder, dass mich keiner in den Tod schmettert. Arme und Beine fangen zu zittern an, der kalte Schweiss perlt mir von der Stirne und mischt sich mit Tränen der Angst und Verzweiflung. Für eine Sekunde wird mir dunkel vor den Augen, aber dann bäumt sich jede Faser auf gegen das Sterben. Zaghaft flehend ringt sich ein bittendes ,Herr, hilf mir! ' über die Lippen. Er half! Nach unsäglichen Anstrengungen sinke ich erschöpft auf das obere Felsband. Ich bin gerettet.

— Nach guter Rast begehe ich das Band gegen Norden. O Wonne! Es endet nicht wie die andern in einer glatten Wand, es führt weiter, immer weiter, biegt um eine mächtige Felsbastion, und da liegt tief unter mir, im Gold der Abendsonne, das herbstliche Klöntal. So werde ich halt dort hinuntersteigen und über Glarus nach Schwändi wandern. Wieder klettere ich über einige Stufen hinunter, folge dann einem Band gegen Westen. Endlich werde ich erlöst! Das Band wird breiter und dort — wahrhaftig, dort weiden Ziegen! Ein schriller Pfiff, die vermeintlichen Ziegen stürmen mit Windeseile höhenwärts. Es waren Gemsen. Ich steige bis zur Felsenecke an und fahre erschrocken zurück. Wieder gähnt vor mir ein tiefer Abgrund. Ich bin am Verzweifeln. Schon verdüstern sich die Täler, und bald wird auch hier oben die Dämmerung hereinbrechen. Mutlos, entkräftet, stütze ich beide Arme auf den Pickel und lege die Stirne darauf. Nagender Hunger und brennender Durst quälen mich. Seit dem frühen Morgen habe ich nichts mehr genossen. Meine Lage ist bedenklich. Mir ist das Heulen zuvorderst. Was tun? Hier geht es nicht weiter. Wieder zurück? Es bleibt mir keine andere Wahl. Aber wohin zurück? Zeigt sich kein anderer Ausweg, dann muss ich die ganze Tour zurück übers Vrenelisgärtli wieder machen. Mir graut vor diesem Wege.

— Ich sinne und sinne, und plötzlich, wie eine Erleuchtung, fällt mir eine Beschreibung ein, die ich einmal gelesen habe: beim letzten e des Wortes Heuberge ...'Ich reisse mein Kärtchen hervor und suche im Dämmerlicht mit gierigen Blicken die angedeutete Stelle. Ein Hoffnungsschimmer durchwärmt mich. Dort wäre vielleicht der Abstieg möglich. Aber ich bin viele Stunden von jener Route entfernt, sie beginnt ja auf dem Hochfirn, den ich am Morgen hinter mir liess. Und doch muss ich dorthin zurück. Aber ich muss bis zum Morgen warten. Mir fehlen Kraft und Mut, in der Dunkelheit die Gefahren und Mühen des Aufstieges zu überwinden. Der Gedanke an die Möglichkeit, den Abstieg nach Schwändi am nächsten Morgen ausführen zu können, gibt mir Ruhe, neuen Mut und neue Kraft. Ich klettere wieder über Felsstufen empor, überquere Klüfte und gelange um halb 8 Uhr zurück zu jener Felsbastion, der Hochtorwand. Hier will ich den Tag erwarten. Aus dem Schnee pickle ich eine Menge Steine heraus. Daraus baue ich mir in Hufeisenform ein Nachtlager auf einem leicht geneigten Felsband. Ich bin wieder voller Zuversicht. Mein halbes Pfund Brot teile ich in drei gleichgrosse Stücke. Ein Teil fürs Nachtessen, ein zweiter nach Mitternacht, und der Rest soll mein Frühstück werden. Zum Nachtessen gibt 's also Brot und Schnee. Ich beisse von den Schneeklumpen ganze Stücke ab,.

GLÄRNISCHFAHRT wie man einen Apfel isst. Dann ziehe ich alle Kleidungsstücke, die ich noch im Rucksack habe, an, lege mich auf das harte Lager, empfehle mich dem Schütze des Herrn und schlafe friedlich ein, überwältigt von einer tödlichen Mattigkeit. Um halb 10 Uhr weckt mich die Kälte. Der Mond scheint mir direkt ins Bett, grad ins Gesicht. Er mag sich sehr gewundert haben. Schlotternd vor Kälte stehe ich auf, stampfe hin und her wie wild. Es gelüstet mich gar sehr nach den andern beiden Brotstücklein, aber ich darf nicht. Wieder lege ich mich auf mein Felsenbett und schlafe sofort ein. Schon nach einer Stunde weckt mich die Kälte wieder. Von neuem beginnt der Kampf gegen die Erstarrung. So geht es Stunde um Stunde, die ganze Nacht hindurch. Zum Glück erwache ich regelmässig. Wäre ich nicht so erschöpft, dürfte ich an Schlaf nicht denken. Hebe ich den Kopf von meinem Lager, dann sehe ich im Norden die Lichter von Weesen, tief unter mir zwinkern die Lichtlein von Schwanden, aber über mir umspannt die Milchstrasse in leuchtendem Bogen den Himmel. Hätte ich mich nicht verstiegen, so könnte ich jetzt unten im warmen Bette liegen. Nach Mitternacht kommt das zweite Stück Brot an die Reihe, diesmal ohne Schnee, mir ist schon kalt genug. Nach langer, langer Nacht beginnt es endlich zu tagen. Zum zweitenmal erlebe ich das Heraufsteigen des Morgens, aber mit ganz andern Gefühlen, obwohl das Schauspiel ebenso erhaben und prächtig ist, wie es sich gestern bot. Was wird dieser neue Tag mir bringen? Ich würge den letzten Bissen des harten Brotes hinunter. Wenn mir der Hunger nur keinen Streich spielt! Halb erfroren, mit starren Gliedern scheide ich von meiner denkwürdigen Lagerstatt und stolpere unsicher aufwärts. Hacke mich wieder über die Zunge des Guppenfirns hinauf, krieche auf allen Vieren über leicht verdeckte Schrunde und betrete nach mühereichen Stunden das obere Firnband. Der Abstieg zum Guppenseeli ist leicht zu finden, und bald hat die Mühsal ein Ende. Erst jetzt fangen die blutigen Schrammen und Risse zu brennen an, die ich mir bei der gestrigen Schinderei geholt habe. Die Kleider hangen mir in Fetzen vom Leibe. Im Abstieg blicke ich immer wieder zurück zum Berg. Gut, dass ich in der gestrigen Not kein Versprechen abgelegt habe, das stille Gelöbnis, nie mehr in die Berge zu gehen, wenn ich dem Verderben entranne. Wie würde mich 's jetzt schon reuen! Schön war 's halt doch, unsäglich schönPunkt zwölf Uhr stehe ich vor dem erstaunten Freund, der sich nicht zu fassen weiss, als ich ihm von meiner Irrfahrt berichte.Vater Knobel hört von meiner Kletterei, holt den Feldstecher und sucht mit zweiflerischem Lächeln die Bänder der Guppenruns ab. Dann wird sein Mund ernst und hart. Während er in die Höhe spiegelt, brummt er zwischen den Zähnen hervor: .Meinede Chog! ' Er hat mit dem Glas die Fußstapfen im Neuschnee der oberen Bänder entdeckt. »

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