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Gletschermarken in Lasistan

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON HELMUTH GALL, KUFSTEIN

Mit 6 Bildern ( 58-63 ) Zum Programm grosser alpiner Vereine gehört nicht nur die touristische Erschliessung der Hochgebirge, sondern auch deren wissenschaftliche Erforschung.

Im Rahmen dieser Zielsetzung führte bereits 1880 der DÖAV ( Deutsch-Österreichischer Alpen-Verein ) regelmässige Gletschermarken-Messungen in den Ostalpen ein, wobei auch den Veränderungen an den Gletschern hinsichtlich Volumen und Zustand der Oberfläche besonderes Augenmerk geschenkt wurde. Skizzen und Photos vervollständigen diese Arbeiten.

Die einfache Gletschermarken-Messung wird mit Massband und Bussole ausgeführt. Sie stellt eine Längen-Abstandsmessung zwischen Eisrand und Fixpunkt dar. Nach der Grosse des jeweiligen Zungenendes richtet sich die Anzahl der Gletschermarken, die lagerfest und gut sichtbar im Gletschervorfeld angelegt und mit Bezeichnung und Messrichtung ( Richtungspfeilversehen sein sollen.

Messung Und vergleichende Beobachtung geben ohne grossen Aufwand an Zeit und Geld ein ziemlich genaues Bild über das Verhalten der Gletscher und lassen mitunter wertvolle Aussagen über zu erwartende Veränderungen zu.

Dieser Gletschermessdienst bekam ganz allgemein Aktualität, als die « weisse Kohle » zu herrschen und das Rechnen mit Kilowatt begann. Manche Kraftwerkgesellschaften richteten eigene Messdienste ein, denn das seit gut hundert Jahren anhaltende allgemeine Zurückschmelzen unserer Gletscher - kleine Unterbrechungen bilden die Vorstösse um 1890 und 1920 -bringt wertvolle zusätzliche Wasserführung.

Der Berichterstatter hatte « seine » Gletscher um Vent und Gurgl im Ötztal ( Tirol ) zu betreuen. Er war Teilnehmer an der Deutsch-Österreichischen Lasistan-Kundfahrt 1965, die in dankenswerter Weise auch vom österreichischen Alpen-Verein unterstützt wurde.

Lasistan heisst wörtlich « Heimat der Lasen ». Es handelt sich um einen kleinen Volksstamm indogermanischen Ursprungs mit eigener Sprache, der in der Nordabdachung dieses Berglandes seit Jahrtausenden siedelt, doch heute keine Anerkennung als völkische Minderheit mehr findet. In der politischen Geographie der modernen türkischen Republik wird der Begriff Lasistan nicht mehr verwendet und fehlt - ähnlich wie der Ausdruck Kurdistan oder Armenistan - auf den türkischen Landkarten.

Das Hochgebirge von Lasistan stellt den wohl eindrucksvollsten Teil des Nordostanatolischen Randgebirges dar und ist als topographischer Begriff in die Fachliteratur eingegangen. Es überragt den feuchtheissen Küstenstreifen an der Südostbucht des Schwarzen Meeres und findet im Büyük Kaçkar ( « büyük » heisst « gross » ), auch Kavron genannt, die grösste und höchste Massenerhebung mit 3937 Meter Höhe laut türkischer Karte.

Als schönste Berggestalt darf der mächtige Varçamba, der als heiliger Berg der Lasen beschriebene Verschambek, angesprochen werden. Die türkische Karte weist diesen 1930 von der deutschen Exkursion Brecht Bergen ersterstiegenen Gipfel als Verçenik Tepe mit 3711 Meter Höhe aus. 1933 waren auch die Brüder Leutelt ( Innsbruck ) auf diesem beherrschenden Berg. Sie stellten wertvolle glazialgeologische Studien an und kamen mit sehr guten Kammverlauf- und Routenskizzen heim.

Im Schütze der noch nicht durchstiegenen Nordwand liegt ein kleiner Hangfussgletscher, dessen rechter Teil, blank und firnbedeckt, eine Länge von 320 Meter einnimmt und von vier kreisförmig sich schliessenden Spalten durchsetzt ist, die einen Einbruchkessel markieren. Der linke schuttbeladene Gletscherlappen ist kräftiger entwickelt, weil vor Abschmelzung geschützt, und trägt junge Wallmoränen auf seinem Rücken. Er ist hier als Blockgletscher zu bezeichnen. 29 Meter vor dem firnbedeckten Eisrand wurde die Gletschermarke E 65 in Messrichtung Ost 80° Süd auf einem Moränenblock mit Mennige angebracht.

Auch den Grossen Kaçkar steuerten wir von der subtropisch zu nennenden Schwarzmeerküste aus an, wo Haselnuss-, Orangen- und Teeplantagen die Landschaft prägen. Höher ging 's durch üppigen, regennassen Wald, den Nussbaum, Kastanie, Esche, Eibe, Buchsbaum und - im Unterwuchs - herrlich grosse Rhododendron-Arten charakterisieren. Über forellenreiche Bergbäche spannen sich alte, kunstgerechte und geradezu elegant wirkende Brücken. Mächtige Nordmanns- tannen und Buchenbestände reichen an das aufstrebende Heilbad Ayder, früher Ilica genannt und 1150 m hoch gelegen, heran. Am Weg zu den grossen Kavron-Almen kamen wir an Eiszeitmoränen und spätglazialen Stadien vorbei und schlugen unsere Zelte am Fusse des Gipfels im Weidegrund des Mezovit auf.

Die Gletscher an der Nordseite des Kaçkar-Massivs befinden sich in geschützter Karlage und sind der Regenseite ( auch Nebelseite !) zugewandt. Der türkische Geograph S. Erinç hatte sie 1948 besucht und Studien darüber veröffentlicht. Die kleine, aber unbeirrbare Gilde türkischer Bergsteiger legte Führen in die Nordflanke des Kaçkar-Gipfels. Selbst ein Gipfelbuch ist wohlverwahrt hinterlegt worden.

Der Grosse Kaçkar-Gletscher steckt mit seiner zum Teil blanken Zunge in einem weiten, toteis-unterlagerten Gletschervorfeld, dessen Schuttreichtum auffällt. Hier Gletschermarken anzubringen erschien zwecklos. Mit annähernd 1,5 Kilometer Länge, einem steilen Eisbruch und einem mächtigen Bergschrund, von dem aus steinschlaggefährdete, teils firnbedeckte Eisrinnen in die Einsattelung des Hauptkammes hinaufführen, stellt dieser Gletscher eine für türkische Verhältnisse beachtliche Erscheinung dar. Auf Bild Nr. 58 sind seitlich an den Wänden ansetzende Lawinenkegel und im Hintergrund rechts unterhalb der Scharte ein grosses Felsfenster - ein deutlicher Hinweis auf das Zurückschmelzen des Eises - zu sehen. Die Schneegrenze ist hier bei gut 3450 Meter anzusetzen.

Die Aussicht von der Scharte, 3560 m, nach Norden über den durchstiegenen Gletscher hinweg gibt Bild Nr. 59 wieder. Die Steilheit des Gletschers, das schuttreiche Vorfeld und die täglichen Nebel, die sich von der Küste in die Täler bis zum Hauptkamm heraufziehen, geben dieser Hochgebirgslandschaft typische Akzente. Dazu gehören auch die zahlreichen Erosionsrinnen und Gehängeanrisse, die das überweidete Almgelände durchfurchen.

Wenn die freundlichen Hirten Oman und Hassan allabendlich ihre 180 Stiere zusammentreiben, dann wirbeln Staubfahnen an den Hängen, und die schnaubenden kleinen, doch stämmigen Tiere sorgen für schaurigschöne Unterhaltung.

Am Verçenik, in der Einsamkeit eines blockgletschererfüllten Kares, jagte uns ein wassersuchen-der Braunbär Schrecken ein. Ein Hirte bedauerte tags darauf den Verlust einer Ziege. Auf dieser Alm durften wir alle das Gerippe eines vom Bären geschlagenen Stieres anschauen. Man gewöhnt sich an alles!

Der Mittlere Kaçkar-Gletscher ( Bild Nr. 60 ) lehnt sich an die Nordwand des Kaçkar-Gipfels an, aus der er im wesentlichen ernährt wird. Um 1920 war dieser Gletscher noch mit dem Grossen Kaçkar-Gletscher zu einer kräftigen Zunge vereinigt, wie dies aus der jungen Moränenumwallung ersichtlich ist. Heute liegt der Eisrand frei unterhalb der Karmulde auf ungefähr 2970 Meter. Hier wurde die linke Marke E 65 NO 18,9 Meter vor dem Eisrand angebracht.

Auf einer vom Gletscher gehobelten Felsrippe in ungefähr 2990 Meter Höhe wurde eine zweite Marke E 65, N 42° Ost, 7,8 Meter vom Eisrand entfernt, angelegt. Hintereinander gestaffelte kleine Wintermoränen sind der von Scherflächen und Kragenmoränen struierten Zunge vorgelagert und zeugen von unterschiedlicher Bewegung des Gletschers innerhalb eines Jahres, d.h. von einem Vorrücken des Eises nach winterlichem Schneeauftrag.

Der Kleine Kaçkar-Gletscher hat sich aus seiner auffallend kräftigen, übersteilen und toteis-unterlagerten Moränenumwallung zurückgezogen und dehnt sich an einer nordexponierten Kar-wand aus. Sein Eisende liegt 3130 Meter hoch, steckt in breiiger Moräne und war daher nicht genau feststellbar. Der Verlust an Volumen ist beachtlich.

Nordöstlich, durch einen Felsgrat getrennt, hängt lehnsesselartig ein Gletscher in steilem Kar. Nach unten hat dieser in den vergangenen vier Jahrhunderten zahlreiche konzentrische Moränenwälle in Form von Doppelbögen vorgebaut. Sie entsprechen jeweils verschiedenen Vorstoss-perioden, was sich auch am unterschiedlich entwickelten Flechtenbewuchs ablesen lässt. Dieser prächtige Blockgletscher endet auf ungefähr 2760 Meter Höhe und verdankt seine Entstehung reichem Felsschutt, der das aus dem geschützten Felscouloir herausfliessende Eis zudeckte, somit vor Abschmelzung schützte und ein Vordringen in verhältnismässig tiefe Regionen ermöglichte. In der Fachliteratur war bisher diesem modellartigen Blockgletscher keine Zeile gewidmet worden.

Von dem vorhin genannten Felsgrat aus weitet sich der Blick nach Westen, wo über einst gletschererfüllten, mit anmutigen Seen durchsetzten Hochtälern der markante Verçenik Tepe und der isoliert stehende Varo Da aufragen ( Bild Nr. 62 ).

Südlich des Hauptkammes, ebenfalls in geschützter Nordauslage, von einem mächtigen Seitengrat des Kaçkar-Massivs überragt, breitet sich der von uns Krenek-II benannte Gletscher. Die nicht ungefährliche Tour über den Grossen Kaçkar-Gletscher unternahmen wir, um auf neuem Wege auf den Büyük Kaçkar zu gelangen, und gleichzeitig, um auf kürzestem Wege an diesen kaum bekannten Gletscher heranzukommen. Seine steile Eiszunge endet auf 3350 Meter Höhe und ist dort, wo sie aus der firntragenden Verflachung herauszieht, von Spalten durchsetzt. Die Gesamtlänge schätze ich auf ungefähr 700 Meter. Einem Amphitheater gleich, liegt eine neuzeitliche Stirnmoräne im Vorfeld. Auch dieser schöne Gletscher musste in den letzten Jahrzehnten einen augenfälligen Verlust an Länge und Dicke hinnehmen; auch die Firnfläche ist kleiner geworden und eingesunken. Die Schneegrenze liegt bei 3550 Meter. Für das Eisende besteht keine Vergleichsmöglichkeit, da es 1931 nicht photographiert wurde. Die Gletschermarke E 65 mit Pfeilrichtung S 20° W wurde 56,5 Meter vor dem Eisrand, auf anstehendem Fels, gemalt. Der Abstand zwischen dem Fixpunkt H 65 S 60° W und dem Gletscherende betrug 27 Meter.

Der verdienstvolle Schweizer Geologe M. Blumenthal kam 1955 in diese Gegend und berichtet darüber in Heft II/1958, Jg. 34, S. 125 « Die Alpen ». Sein scheinbar neuentdeckter Gletscher wird analog dem in Erfahrung gebrachten Namen für die Schlucht, welche ins Barhal-Tal hinabführt -£eytan Bogaz = Teufelsschlucht -, als eytan-Gletscher bezeichnet. Der Kaçkar gölü benannte Glazialsee dürfte der höchstgelegene See, ungefähr 3350 Meter, im Hochgebirge von Lasistan sein. Zum Zeitpunkt unseres Besuches war er von Firnflecken eingefasst, aber nicht zugefroren. Der Blick von der Scharte westlich des Büyük Kaçkar nach Süden leitet über den Rand des Krenek-II-Gletschers und sein vegetationsloses, firnfleckenreiches Vorfeld zum Glazialsee ( Bild Nr. 61 ). Gebannt bleibt das Auge über dem Gletscher an den von Krenek und Genossen durchstiegenen Felsfluchten der « Adlerwand » haften ( Bild Nr. 63 ).

Adler kreisten und die seltene Gemse pfiff, als wir, begleitet vom farbenprächtigen Mauerläufer, im Südabfall des Grossen Kaçkar ein « bärensicheres » Biwak suchten.

Die Gletschermarken in Lasistan mögen der weiteren Hochgebirgsforschung und dem gastlichen Lande, der modernen Türkei, dienen.

Die Alpen - 1968 - Les Alpes97

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