Gletschervorfelder — bedrohte alpine Auenlandschaften
Toni Labhart, Wabern Peter Mani, Uetendorf
Eindrücke Zwischen Legföhren und Granitplatten windet sich der Weg in steilem Zickzack vom Räterichsbodensee zur Bächlitalhütte empor. Nach einstündigem Aufstieg wird das Gelände flacher. Hinter mächtigen, eisge-schliffenen Kuppen öffnet sich der Blick auf den Bächlisboden mit seinen dutzendfach verzweigten Flussarmen und fast vegetationslosen Kiesbänken. Von den Granitwänden der seitlichen Talflanken reichen Halden von grobblockigem Schutt bis an den Rand der Schotterebene. Hoch oben im Talkessel ist der Bächligletscher sichtbar. Es ist eine karge Gegend, grossartig in ihrer Urtümlichkeit und Wildheit.
Szenenwechsel - Hinteres Gasterntal. Im Talabschluss der Alpetligletscher, der sich von unserem Standort aus nur als schmaler weisser Streifen am Horizont abzeichnet. Unterhalb der Eisfront stürzt die junge Kander in Kaskaden über die glattgeschliffenen Felsen. Auf beiden Talseiten sind mächtige Moränenwälle zu erkennen; über die linksufrige Moräne verläuft der steile, lange Aufstieg zur Mutthornhütte. Im Vordergrund weiden Kühe auf grünen Alpmatten; hier hat sich der Lauf der Kander in mehrere Arme aufgeteilt. Auf einer Kuppe stockt ein lichtes Wäldchen. Der Ort hat etwas Liebliches an sich.
So unterschiedlich die beiden Gebiete auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: noch im letzten Jahrhundert sind sie von Gletschereis bedeckt gewesen. Der Wissenschaftler bezeichnet sie als Gletschervorfelder.
Gletscher und Wasser prägen die Landschaft Es sind alpine Talabschnitte, die nicht nur offensichtlich vom Gletscher geprägt sind, sondern mit ihm noch in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Je nach der Morphologie des Geländes ist die heutige Gletscherstirn nur einige hundert Meter bis einige wenige Kilometer weit entfernt. Im Gletschervorfeld dominieren Gestein und Wasser. Der anstehende Fels zeigt mit seinen gerundeten Formen und der gestriemten und polierten Oberfläche die bekannten Spuren glazialer Überprägung. Im Talboden finden sich oft eigentliche Rundbuckellandschaften, durchzogen von heutigen oder früheren Abflussrinnen und Schluchten. Unter den Lockergesteinen finden sich Moränen und Flussablagerungen sowie Gehängeschutt aus den Talflanken. Verbreitet sind mächtige, vom Gletscherhochstand aus der Mitte des letzten Jahrhunderts herstammende Ufermoränen.
Gut erhaltene Stirn- bzw. Endmoränen sind viel seltener; oft sind sie durch Bäche oder bei jüngeren Gletschervorstössen und -Schwankungen teilweise oder ganz zerstört worden. Der Bach verkörpert das dynamische Element in dieser Landschaft. Seine Wasserführung ist grossen täglichen und jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen. Durch diesen Wechsel von Hoch- und Niedrigwasser ( und damit von Transport oder Ablagerung von Kies und Sand ) entstehen in flacheren Talabschnitten mehr oder weniger ausgedehnte Schwemmebenen ( ). Hier können sich dann auch kurzlebige, sich in Form und Grösse dauernd verändernde Seen bilden. Stehende Gewässer entstehen aber auch in den Mulden zwischen den Felsbuckeln oder aber in- nerhalb von Endmoränenkränzen. Hier wird der Auencharakter dieser Landschaften offensichtlich.
Seit einigen Jahrzehnten bis höchstens 140 Jahre eisfrei, sind Gletschervorfelder Landschaften, die ihr Gleichgewicht noch nicht gefunden haben. Intensiver als anderswo laufen hier landschaftsformende Vorgänge ab. Durch das Eintiefen von Rinnen und Schluchten versuchen Bäche, ein gleichmässiges Gefälle zu erreichen. An den Seitenflanken bildet sich durch Niederbrü-che des festen Felses und den Aufbau von Schutthalden langsam eine Böschung von stabiler Steilheit. Und nicht zu vergessen die Vegetation. Es ist immer wieder besonders eindrücklich, wie sich die Pflanzen in dieser aus menschlicher Sicht unwirtlichen Welt aus Stein und Wasser entwickeln und behaupten können. Pionierarten siedeln sich im beweglichen, lockern Moränenschutt und entlang der Flussläufe an, während sich auf stabileren Flächen ein ausdifferenziertes Mosaik von Quellfluren, Flachmooren, farbenprächtigen Hochstaudenfluren und Weidengebüschen entwickelt.
Moränenwälle im Gasterntal nördlich von Pt.1724 m Der Bächlisboden von Osten im Widerschein der untergehenden Sonne Vielen Besuchern ist dabei nicht bewusst, dass sie hier eine entscheidende Phase der Entwicklung unseres ganzen Landes miterleben. Denn ein Besuch im heutigen Gletschervorfeld ist zugleich auch Blick auf das Vorfeld des Steinlimmi-gletschers am Sustenpass ein Abstecher in die Vergangenheit unserer heimatlichen Landschaft. Wir wissen, dass die Alpengletscher während der Eiszeiten mehrfach bis ins Mittelland vorgestossen sind und sich immer wieder - letztmals vor etwa fünfzehntausend Jahren - ins Gebirge zurückgezogen haben. Es gibt daher keinen Abschnitt eines Alpentales und kaum einen Bereich des Mittellandes oder der Alpensüdseite, der nicht einmal ein Gletscher- Blick von Süden gegen den Sustenpass mit Steinsee, Fünffinger-stöck und Titlis ( Flugbild ) vorfeld gewesen wäre. So stehen beispielsweise die Stadt Bern und ihre Vororte auf dem Vorfeld des Aaregletschers vor etwa 15000 Jahren. Um es trotz massiven menschlichen Eingriffen und dichter Bewachsung noch zu erkennen, dazu braucht es freilich ein geschultes Auge.
Für den Menschen liegt das Gletschervorfeld am Zugang zum Gebirge. Seine grösste Beachtung hat es wohl im 18. und 19. Jahrhundert gefunden, zu einer Zeit, in der sich Reisende, Künstler und Wissenschaftler zwar bis an die Berge heran, aber noch kaum auf die Gipfel wagten. Die Reichhaltigkeit der bildlichen Darstellungen ( und auch ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Dokumentation der jüngsten Gletscherschwankungen ) ist uns durch die Publikationen von H. Zumbühl und H. Holzhauser'nahe-gebracht worden.
Wir heutigen Alpinisten schenken den Gletschervorfeldern im allgemeinen zuwenig Beachtung. Sie sind eben nicht die Kulminationen, die Berge, auf die wir steigen und für deren Betrachtung und Bewunderung wir uns immer Zeit nehmen. Es sind die Talsenken, die wir im Aufstieg zur Hütte queren, eilig, die Gedanken bei der geplanten Tour; es sind die Steinfluren, über die wir beim Aufbruch im Morgengrauen stolpernd den Weg suchen. Und nach der Besteigung, da sind wir müde, da locken das Tal und die erste Wirtschaft, da rufen die Pflichten des Alltags. Gletschervorfelder sind Landschaften, deren Existenz wir als selbstverständlich empfinden, deren Bedeutung und Schönheit wir aber erst erkennen, wenn sie beeinträchtigt oder zerstört sind.
Die Bedrohung kommt von vielen Seiten Als Talkessel mit steilen Felsflanken und abschliessenden Felsschwellen bieten sie vielfach ideale Voraussetzungen für die Anlage von Stauseen.
Ihre flachen Talböden eignen sich als militärische Übungsplätze, und die Kessellage macht sie zum günstigen Zielgebiet für Waffen aller Art und allen Kalibers.
Seilbahnen und Skilifte werden immer mehr in Gletscherregionen gebaut; besonders betroffen sind die Vorfelder durch die Anlage von Skiwegen und durch Pistenpla-nierungen.
1 Vergleiche DIE ALPEN, QH 111/1988 Kies ist in vielen Alpentälern ein knappes Gut. Dementsprechend gross ist die Versuchung, Sanderflächen oder Moränen abzubauen.
Unter welchem Druck diese Landschaften stehen, lässt sich am Beispiel des Grimsel-Susten-Gebiets zeigen, einer Region, mit der wir uns in letzter Zeit aus verschiedenen Gründen haben befassen müssen:
Das Vorfeld des Oberaargletschers ist überstaut. Was von demjenigen des Unteraargletschers noch übriggeblieben ist, soll im geplanten Stausee Grimsel-West untergehen - mitsamt einem beträchtlichen Teil des Gletschers. Im Rahmen desselben Aus-bauprojekts der Kraftwerke Oberhasli sind hochgelegene Wasserfassungen vorgesehen, welche die Vorfelder des Trift- und des Gauligletschers ( siehe dazu auch den nachfolgenden Beitrag ) beeinträchtigen. Das für den Bau der Staumauer benötigte Zu-schlagsmaterial sollte im Bächlisboden gewonnen werden. Hier wird immerhin geprüft, ob nicht das Ausbruchmaterial aus den Stollen verwendet werden kann, um so dieses Gebiet zu schonen. Immer wieder in den letzten Jahrzehnten war das berühmte Vorfeld des Rhonegletschers im Gespräch für eine Überstauung. Der Richtplan des Kantons Wallis sieht einen ( vorübergehendem Verzicht auf ein neues Projekt vor, was immer das heissen mag.
Mitten im Vorfeld des Steinlimmiglet-schers am Sustenpass ist seit 1984 eine Mu-nitionsvernichtungsanlage in Betrieb. Die asphaltierte Zufahrtsstrasse, mit Fortsetzung und Parkplatz unmittelbar vor der Gletscherstirn, beeinträchtigt optisch auch die Front des benachbarten Steingletschers. Sein Vorfeld, eines der schönsten und, weil von der Sustenstrasse aus sichtbar, auch das bekannteste der Schweiz, ist im übrigen nur deshalb intakt, weil ein Staudamm 1956 weggespült worden ist... Das Vorfeld des Wen-dengletscherrs schliesslich, bereits heute als Infanterie-Übungsplatz und Zielgebiet für Artillerie genutzt, soll gemäss einem kürzlich aufgelegten Projekt neu auch zum Schiessplatz für Panzerabwehrwaffen ausgebaut werden.
Das Vorfeld des Unteraargletschers Durch Beispiele aus anderen Gebieten der Schweiz liesse sich diese Liste leider beliebig verlängern.
Ein effizienter Schutz für die letzten Gletschervorfelder der Schweiz ist überfällig!
Sind sie denn eigentlich nicht heute schon geschützt?
In der Tat. Viele von ihnen sind im Inventar der schützenswerten Landschaften von nationaler Bedeutung ( BLN/KLN-Inventar2 ) enthalten; andere sind Teile von kantonalen Naturschutzgebieten, Landschaftsschutz- oder Hochgebirgsschutzzonen. Aber die davon ausgehende effektive Schutzwirkung genügt für eine ungeschmälerte Erhaltung offensichtlich nicht. Leider sind diese alpinen Auenlandschaften bei den Aufnahmen für das ( Inventar der Auengebiete von nationaler Bedeutung ) weitgehend übergangen worden, ausgerechnet bei einem Inventar nach Artikel 18 des Eidg. Natur- und Heimat- 2 BLN: Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung KLN: Inventar der zu erhaltenden Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung schutzgesetzes, welches einen nachhaltigen Schutz garantieren würde. Die beiden Verfasser setzen sich dafür ein, dass diese Lücke bei der bevorstehenden Überarbeitung des Aueninventars baldmöglichst geschlossen wird. Wir haben mit unserem Vorhaben bei massgebenden Fachleuten und bei Amtsstellen viel Verständnis gefunden. Unterstützung zugesichert hat uns auch die Kommission für den Schutz der Gebirgswelt des SAC. Sie ist der Auffassung, dass der Club, in Fortsetzung seines Mitwirkens in der KLN-Kommission, das Patronat über diese Arbeiten übernehmen sollte. Wo, wenn nicht bei den Gletscherlandschaften, wollen wir uns denn für die ( Erhaltung der Ursprünglichkeit und Schönheit der Bergwelt ) ( Artikel 1 unserer Statuten ) einsetzen?
Der folgende Bericht über das Vorfeld des Gauligletschers beruht auf einer Studie, die von der Kommission Schutz der Gebirgswelt in Auftrag gegeben und von den beiden Clubmitgliedern Andreas Burri ( Sektion Pilatus ) und Heinz Wäspi ( Sektion Winterthur ) mit viel Engagement ausgeführt worden ist.