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Herbstfahrt über die Sierra Nevada

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit 1 Bild ( 116Von Martin Frölich

( Zollikon ) Mitte Oktober war es schon, als ich an einem sonnigen Abend auf den trotzigen Schlossturm der Alhambra gestiegen war und, statt wie die andern Leute über die Stadt und das weite Land zu schauen, den Blick sehnsüchtig gegen die Sierra Nevada wandte, um deren ferne Gipfel weisse Fahnen im letzten Abendlicht zogen.

In Granada schien man nicht viel zu wissen über die Sierra Nevada. Schon allein die Tatsache, dass jemand darnach fragte, verblüffte offensichtlich. Auf dem Reisebüro wusste man wenigstens, dass im Winter dort häufig Ski gefahren werde und dass ein Trämlein hinauffahre. Wie hoch hinauf konnte aber wiederum niemand sagen, die Angaben schwankten zwischen 1000 und über 3000 m. Im Hotel entspann sich sogleich ein angeregtes Gespräch, an dem ausser dem gesamten Personal bald auch sämtliche Gäste teilnahmen. Oben war zwar noch niemand gewesen, doch männiglich wusste etwas zu berichten. Von Schnee und Eis und Räubern war die Rede, und erst spät legte ich mich schlafen, mit Ratschlägen beladen wie ein Lastesel. Ich beschloss nun doch, mich zur Hauptsache auf meine Autokarte 1:400 000, die einzige, die ich in ganz Granada finden konnte, zu verlassen. Auf dieser Karte war ein Berghotel eingezeichnet und ein Strässchen, das die Sierra Nevada überquerte und sie dadurch bedeutend weniger « gfürchig » erscheinen liess.

Anderntags führte mich dann das Trämlein das Tal des Genil' hinauf. Herrlich, wie man gleich hinter Granada in dieses Bergtal eintaucht, dessen Grün in wohltuendem Gegensatz steht zum gleichmässigen Olivgrau der Vega, des weiten, gewellten Vorlandes von Granada gegen Norden und Westen, das das ehemalige Königreich bildete. Die schneeweissen Häuschen im grünen Tal, wie zur Feier des Herbstes geschmückt mit Zöpfen gelber Maiskolben und Girlanden von roter Pfefferfrucht! Über dem Tal Laubwälder und im Hintergrund graugrüne Alpen, Felsen dazwischen.

Von der Endstation wanderte ich vorerst weiter dem Fluss entlang, der ja irgendwo aus der Sierra Nevada kommen musste, dann den Talhang hinauf, durch Steineichenwälder, durch Kastanien- und Nussbaumhaine, in denen verstreut kleine Steinhäuschen mit Gemüsegärten darum liegen. Schwerfällige Ochsengespanne ziehen Furche um Furche auf den kleinen Äckern, wo Mais und Weizen gebaut werden. Schwarzgefleckte Kühe weiden längs der Bäche und Gräben, die das Wasser zu den Feldern leiten und denen immer eine saftgrüne Grasnarbe folgt. So zieht sich der Weg durch einen reifen goldenen Herbst, hinauf, hinaus aus den Bäumen in die freie blaue Weite der Alpen. Bis in das entlegenste Tobel und bis in die höchsten Lagen ist jedes Flecklein Erde ausgenützt, und wenn sich irgendwo noch ein etwas flacher Boden findet, so werden darauf Kartoffeln oder Roggen angepflanzt. In kleinen Hütten mit tief hinunterreichenden Strohdächern, von den Ein- heimischen « hatos » genannt, übersommern viele Talbewohner auf den Alpen, mit ihren Schafen und Ziegen, die auf den weiten, trockenen Hängen zur Weide getrieben werden, oder mit einigen Kühen, soweit das Futter oder das Wasser reicht. Im Sommer ernten sie den Roggen, den sie auf gestampften Plätzen an Ort und Stelle dreschen. Auch die gelben Kürbisse und die Pfefferfrucht gedeihen bis in sehr grosse Höhe, und an sonnigen und geschützten Orten finden sich wenn immer möglich einige Tabakpflanzen. Die Kartoffeln, im Oktober gegraben, werden in grossen Erdlöchern überwintert und bilden die Hauptnahrung für den Sommer Kürbisse und Pfefferfrüchte werden gedörrt und unter dem Dach an Schnüren aufgehängt. Vor dem Verlassen der Alpen im Herbst werden noch die Kartoffeln für das neue Jahr gesteckt und der Roggen angesät. Dann führt für fast ein halbes Jahr der Winter die Herrschaft. So lebt diese Bevölkerung, die ihre Abstammung von den bei der Eroberung des Königreichs Granada in die Alpentäler zurückgedrängten Mauren kaum verleugnen kann, wie unsere Bergbewohner, einfach, bescheiden, verwurzelt mit ihrem kargen Heimatboden. Einen Hirten, der seine paar Kühe in ein steiles Tobel trieb, wo zwischen dem Erlengebüsch etwas Gras zu finden war, fragte ich, wie ihm sein Leben hier oben gefalle, und er antwortete mir lediglich: « O, tan buena agua que hay. » Das gute Wasser der Bergbäche genügte allein schon einem grossen Teil seiner Lebensansprüche.

Ich fragte mich langsam durch bis zur Strasse, die von Granada über den flachen Westrücken kommend, irgendwo weiter oben durchführen musste und zu dem auf der Karte eingezeichneten Berghotel. Es war eben die Zeit der Kartoffelernte. Mit ihren Eseln waren die Leute auf ihre Bergäckerlein gezogen und hackten die Erdäpfel aus dem steinigen Boden. Gerne ruhten sie ein wenig aus, um sich mit mir zu unterhalten. Mit Stolz zeigten sie dem Fremden ihre Bodenfrüchte und wählten sorglich die schönste Kartoffel zum Geschenk aus. Es war allerdings erstaunlich, was für grosse Knollen in dieser Höhenlage von fast 2000 m noch gegraben werden, zudem ohne Fruchtwechsel auf den Äckern und beinahe ohne Düngung. Allein durch das alljährliche Abwärtshacken und durch die nachschaffende Kraft des Hangwassers erneuern sich diese Böden genügend.

Ich war ziemlich erstaunt, als ich beim Einnachten bei einem grossen Hotel anlangte — von der Form unserer Skihäuser —, allerdings ohne zu wissen, ob jemand darin sei oder nicht. Nach längerem Poltern an geschlossenen Fensterläden war ich deshalb sehr erleichtert, Schritte zu hören, und bald konnte ich in der Hotelküche der Entstehung eines Nachtessens zusehen. Das ganze Haus war zurzeit von zwei jungen Leuten bewohnt, die das Hotel für die kommende Saison bereitmachten. Andere Gäste hatte es zu dieser ausgefallenen Jahreszeit natürlich keine.

Die beiden jungen Leute lächelten wohlwollend, als ich ihnen beim Nachtessen erzählte, ich wolle den Mulhacén, den höchsten Gipfel der Sierra Nevada, besteigen. Sie liessen mich höflich ausreden, dann sprachen sie wieder von den Rebhühnern, die sie gestern gejagt hatten. Als ein richtiger Baedekerreisender war ich nach Granada gekommen, und wie ein richtiger Baedekerreisender machte ich mich auch an die Sierra Nevada, in meinem hellgrauen Reisekleid, die Hosen zur Schonung unten zugebunden, in Turnschuhen, da mich meine einzigen Halbschuhe reuten, und statt des zünftigen Rucksacks mit einem geliehenen Lunchtäschlein. Ich sah an mir herunter und begriff, warum sie mich nicht ganz ernst nehmen wollten. Trotzdem aber musste ich unbedingt in Erfahrung bringen, wo in dem ewiglangen Gebirgszug der Mulhacén überhaupt sei, denn das wusste ich nur so ungefähr aus der Autokarte, und ausserdem wollte ich wissen, wie die Schneeverhältnisse seien, denn 3500 m Meereshöhe schien mir auch in dieser geographischen Breite doch ziemlich hoch.

Erst als ich ihnen sagte, ich sei Schweizer, schien ihre Achtung beträchtlich zu wachsen, und einer der beiden jungen Leute stellte sich als Skilehrer und Bergführer vor, wodurch er seinerseits in meiner Achtung beträchtlich stieg. Als ich ihn etwas über den Mulhacén ausfragen wollte, bekam ich allerdings den Eindruck, er sei wahrscheinlich noch nie droben gewesen. Immerhin aber erfuhr ich von ihm, dass das Hotel sich auf 2500 m befinde und dass es seit zwei Wochen nicht mehr geschneit habe, dass also für die Besteigung nicht viel Schnee zu erwarten sei. Am andern Morgen konnte er mir in der Ferne sogar den Gipfel des Mulhacén zeigen. So zog ich denn vor Sonnenaufgang, leichtfüssig über den gefrorenen Boden eilend, vorerst dem Cerro de Veleta zu, die grossen Kehren der Strasse schneidend.

Der Cerro de Veleta, zu dem die höchste Strasse Europas führt, kann mit dem Auto befahren werden. Er ist der schönste Aussichtsgipfel der Sierra Nevada. Von seinen 3470 m sieht man direkt auf das Meer hinaus, die leuchtenden Buchten von Almeria und Malaga. Landeinwärts schweift der Blick weit über das nie ruhige, immer gewellte und gebirgige Land, und am Nordfuss liegt, als kleines weisses Häuflein, Granada, nun in einer Distanz von mehr als 30 km. Herrlich ist es, in dieser Morgenfrühe, so hoch, so weit, so allein...

Aber weiter. Der Mulhacén ist noch sehr ferne, und es scheint noch allerlei dazwischen zu liegen. Der Verbindungsgrat beginnt gleich mit einem schroffen Abbruch, so dass ich mich von Anfang an lieber an die Südflanke hielt, da ich mich in meiner Ausrüstung und Unkenntnis des Geländes ohnehin nicht auf grosse Klettereien einlassen wollte.Von Süden gesehen ist das Gewölbe der Sierra Nevada ein grosser Schutthaufen, von tiefen, breiten Tälchen durchschnitten und teilweise von scharfen Gräten durchbrochen, die, aus steilgeschichtetem Glimmerschiefer bestehend, alpinistisch noch einiges Interesse bieten könnten. Da ich aber die Losung Mulhacén mit mir führte, wollte ich mich bei den quer zu meinem Wege stehenden Gratpartien nicht lange aufhalten, sondern suchte immer den leichtesten Übergang. Lieber verweilte ich mich zuweilen an einem der vielen grünen Bergseen in den Senken und schaute dem Treiben der zahlreichen Wasservögel zu, die sich da in der Morgensonne tummelten. Wasseramseln, Bergfinken und gelbe Bachstelzen, die man bei uns nur selten auf dem Zuge sieht. Auch einen Steinbock erwischte ich bei der Tränke, den ersten wirklich wilden Steinbock, den ich je gesehen hatte. So wurde meine Bergfahrt fast mehr zu einer Wanderung, aber einer Wanderung ohne Weg in herrlicher Einsamkeit, über Gräte, durch Tälchen, auf Rücken, immer näher dem höchsten Gipfel zu. Schnee lag glücklicherweise sehr wenig, so dass ich trotzdem schnell vorwärtskam, denn es war eine beträchtliche Distanz zu bewältigen.

So war ich dann endlich doch ordentlich stolz und froh, auf dem höchsten Berg Spaniens zu stehen, 3481 m. Landschaftlich bietet der Mulhacen zwar nichts besonders Interessantes. Von Süden über seinen breiten Rücken leicht zu ersteigen, wurde einst auf dem Gipfel eine meteorologische Beobachtungsstation eingerichtet, deren verfallene Gebäulichkeiten noch zu erkennen sind. In imposanter Wand bricht hingegen das ganze Sierra-Nevada-Massiv im Norden gegen den weiten Talkessel der Quellflüsse des Genil' ab.

Über dem Meer liegt schon dichter Dunst, vereinzelt bilden sich getürmte Kumuluswolken. In etwa zwei Stunden wird die Sierra im Nebel sein, wie ich dies schon einige Tage von unten beobachtet habe. Dennoch reizt mich der Alcazaba, der dritte Hauptgipfel, der seine Nase keck nach Norden vorstreckt, unwiderstehlich. Irgendwie werde ich ja doch in dieser Richtung einen Abstieg nach Norden suchen müssen, denn in der steilen und jedenfalls schwierigen Nordwand des Mulhacén liegt viel Schnee und Eis, und überdies hatte ich in einem Lexikon gelesen, dass sie unbesteigbar sei. Nun los. Zuerst wieder nach Süden ausweichen, in langen Sätzen über rieselnde Schutthalden hinunter, weit, weit hinunter, dann wieder Anstieg im rechten Winkel auf die nächste Längsrippe, die sich von dieser Seite als runder Rücken zeigt. Die in ihrer Lage veränderten, jetzt fast West-Ost verlaufenden Rippen brechen nun aber nach der andern Seite in scharfen Wänden ab. Eigentlich hätte ich mir das denken können, als ich die Distanz zum Alcazaba so wesentlich unterschätzte. Nun gab es aber nichts anderes als Durchstieg oder noch einmal so weit nach Süden absteigen, bis die Wände auslaufen. Was machen? Schliesslich entschliesse ich mich für das Durchsteigen und spucke in die Hände. Also doch klettern. Die Kletterei erweist sich als nicht sehr schwierig, aber das Gestein ist brüchig und abwärtsgeschichtet. So brauchte ich denn viel mehr Zeit, als ich vorgesehen hatte, und wahrscheinlich auch, als ich durch die Umgehung verloren hätte. Es war schon 3 Uhr, als ich unter der Schuttkuppe des Alcazaba stand, nachdem ich drei solcher Wändlein abgestiegen war. Das Wetter schien mir günstig gesinnt, noch hatte kein Nebel eingesetzt. Drum hinauf, grad z'leid, ich kann ja höchstens eine halbe Stunde verlieren.

Natürlich ging es dann doch dreiviertel Stunden, und kaum war ich auf dem Gipfel angelangt, setzte der Nebel ein. Nach einem schnellen Versuch, mein Brockengespenst zu photographieren, brach ich deshalb sofort wieder auf. Wieder zwang mich die stark vereiste Ostwand, weit nach Süden auszuweichen und denselben Weg, den ich gekommen war, ein gutes Stück zurückzugehen. Einmal aber musste es schliesslich gehen, denn irgendwie wollte ich doch wieder nach Granada zurückkommen. Der Nebel half mir bei meinem Entschluss, denn da ich nicht weit sehen konnte, gab es auch nicht viel zu überlegen, und so stieg ich frischen Mutes in die nun flacher gewordene Nordwand ein, an einer Stelle, die mir günstig schien. Und siehe da, wenig unterhalb hörte der Nebel auf, und ich schaute über Schutthalden in das grüne Tal des Genil' hinunter. Nun ging 's wieder mit Leichtigkeit bergab, auf die grosse :'/Wr'1fii v » Alp zu, wo als dunkle Punkte unzählige Kühe weideten. Von dort aus musste wohl ein Alpweg weiter zu Tal führen.

Doch noch einmal sollte mein Mut auf eine ganz empfindliche Probe gestellt werden. Statt unter friedlich weidenden Kühen, wie ich vermeint hatte, befand ich mich plötzlich unter lauter Stieren, solcher schwarzer « novillos », die hier für Stierkämpfe gezüchtet werden. Ein ordentlicher Schreck fuhr mir durch die Glieder, um so mehr, als weit und breit kein Mensch zu sehen war. Voll schlechten Gewissens erinnerte ich mich, beim letzten Stierkampf in Granada auch Bravo gerufen zu haben, und ich bemühte mich, möglichst unauffällig wieder aus dieser unheimlichen Alp herauszukommen. Zum Glück schien nichts an mir an einen Torero zu erinnern, denn die Muneli schauten mir nur nach, wie ich in respektvollem Abstand vorbeilief, liessen mich im übrigen aber ziehen und rauften lieber ein wenig unter sich.

Froh war ich, endlich wieder die ersten Leute anzutreffen, ein paar Älpler, die auf einem steinigen Äckerlein Kartoffeln aushackten. Kaum gewohnt, dass je jemand das Tal hinauf in ihre Einsamkeit sich verstieg, waren sie um so mehr erstaunt, jemanden von oben kommen zu sehen. Es war ihnen unverständlich, wie einer, ohne dass er muss, über die Berge steigt; dazu noch zu dieser Jahreszeit, wo schon lange keine Schafe und keine Ziegen mehr auf den Hochalpen sind. Schliesslich sagte einer erklärend: — es un inglés —, worauf die andern verständnisvoll halb nickten, halb die Köpfe schüttelten. Damit war der Bann gebrochen, und sie luden mich zu einem mit scharfer Pfefferfrucht gewürzten Kartoffelgericht ein, was ich sehr gerne annahm, da mein Lunchtäschlein mir schon lange nutzlos um die Hüften flatterte.

Mit dem Sonnenuntergang zog ich dann durch einen farbigen Herbstabend talwärts, froh mit meinem Bergerlebnis im Herzen. Es war das einzige dieses ganzen Sommers gewesen, fern von den vertrauten Bergen der Heimat. Um so unvergesslicher wird es mir deshalb im Gedächtnis bleiben.

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