Im Wilden Kaiser
Von Ruedi Schatz
Mit 3 Bildern ( 20—22St. Gallen ) Wilder Kaiser! Wer kennt dich nicht, du Gebirge mit dem stolzen Namen, der so gut zu dir passt mit den weissleuchtenden Kalkmauern, untrennbar verbunden mit den Namen Dülfer.Fiechtl, Aschenbrenner, Maduschka und vielen andern, die dein Loblied sangen?
Der Arlbergexpress führt seine internationale Gesellschaft durchs freundliche Tirolerland. Ungeniert placieren wir unsere Kletterhosen ins weiche Polster und die Rucksäcke aufs Gestell. Der Tagesschein knistert in der Tasche. Wir fahren zu unsern Bergkameraden 1 Im Sommer hatten wir sie kennen gelernt, die « Karwendler », am Badile; auf dem « Bügeleisen » hatten wir Freundschaft geschlossen — und jetzt fuhren wir zum Gegenbesuch in ihre Tiroler Berge!
Wie ein Stück Heimat ist dieser Weg durchs Kaisertal. Tief unten am Inn liegt die alte Festung Kufstein im goldenen Herbstlicht. Wir ziehen hinauf den Bergen zu. An mächtigen Höfen vorbei führt der Weg. Schneeweisse Mauern leuchten unter schwarzem Holzwerk. Unabsehbare Wälder rauschen leise im Ostwind. Und dann — dann bleiben wir plötzlich stehen und schauen wie gebannt zu der riesigen Kalkpyramide hinüber, die sich in fast bläulichem Glanz zum Himmel reckt: die Westwand des Totenkirchls!
Der erste Abend im Stripsenjochhaus. Eine Hütte mit Betten, mit verschiedenen Menus und Toiletten. Also ein Hotel? Nein, dennoch ein Bergsteigerheim, dafür garantiert der Pächter, Peter Aschenbrenner, selbst einer der besten Alpinisten unserer Zeit.
Österreicher, Franzosen und Schweizer sitzen einträchtig beisammen. Die Übereinstimmung beschränkt sich nicht auf das gemeinsame, äusserliche Interesse, sie ist tiefer begründet: die Berge formen das Wesen des Bergsteigers über alle nationalen Verschiedenheiten hinweg, und immer wieder fühlt man, dass einem der anderssprachige Kamerad ähnlich ist, ähnlich gemacht durch das Erlebnis der Berge.
Auf dem Weg durch die Steinerne Rinne. Sie sei das « Herz des Kaisers », hat Maduschka geschrieben. Und wahrhaftig ein wildes, grosses Herz! Von unserm Weglein aus werden die Blicke immer wieder emporgezogen zu den hochstürmenden Mauerfluchten zu beiden Seiten, zum zerfurchten Predigtstuhl, zur schroffen Fleischbankwand. Überall gehen da die Routen durch, an denen wir unsere Kräfte erproben wollen. Ein leiser Zweifel schleicht sich ein: Werden wir diesen Schwierigkeiten gewachsen sein? Dieser hohen Schule des Kletterns? Wir kommen aus dem Alpstein. Die Kreuzberge sind unser Übungsgebiet. Halb neugierig, halb ängstlich fragen wir uns, ob unsere schwersten Routen mit diesen da vergleichbar sind. Der Fels scheint uns gleich, aber hoch sind diese Wände 300, 400, ja 600 Meter hoch, und unheimlich glatt sehen sie aus.
Hellauf lodern jetzt die gelbgrauen Felsen der Fleischbank unter den ersten Sonnenstrahlen.
Wir ziehen weiter, unsere erste Tour gilt der Christaturm-SO-Kante. Absatz auf Absatz türmt sie sich 300 m hoch senkrecht empor, ein gewaltig verlängerter Freiheit-Westgrat. Wir wissen, dass ihr Schwierigkeitsgrad mit einer guten 4 angegeben wird, aber wir machen uns zuversichtlich ans Werk. Herrlich griffiger, fester Fels führt in die Wandstufen hinauf, meist etwas rechts der Kante. Ein Riss wird spreizend überwunden. Dann folgt eine auserlesene Seillänge, senkrecht. Eine abstehende Platte wird mit beiden Händen gepackt, messerscharf, von edelster Form ist der letzte Absatz: die Hand sucht um die Ecke nach einem Griff — und ich juble fast vor Freude, wie ich da mit der ganzen Hand ein f örmliches Felsgeländer umfassen kann! Kurze Rast auf dem Gipfel. Dann geht 's hinüber zur Winklerscharte, wo sich der Totenkirchl-SO-Grat mit einem Überhang jeden Zutritt zu versperren scheint. Eine kurze Traverse nach rechts um eine sehr exponierte Ecke, und es folgen sechzig Meter schönste und luftigste Gratkletterei, und dann geht es über leichteres Gelände zum Gipfelkreuz. Der Abstieg zum Stripsenjoch ist mühsam und für eine ortsfremde Partie bei schlechtem Wetter schwer zu finden.
Im Bett des Stripsenjochhauses! Wir lassen 's uns gefallen! Und doch möchte ich nicht, dass alle unsere Schweizer Hütten so wären. Aber hierher passt dieser Typ: ein Tag sportlichen Kletterns, das weniger die Härte und Charakterstärke als vielmehr Gewandtheit und Mut auf die Probe stellt, passt gut zu diesem komfortablen Lager. In unsern Hochalpen aber wünsche ich mir die kleine Hütte mit dem Herd, an dem ich selbst meine « Hörnli » kochen kann, mit den klappernden Holzschuhen und den beissenden Wolldecken. Aber gut schläft man hier — und lang!
Predigtstuhl-Nordkanfe: Völlig unnahbar springt dieser Grat 500 Meter hoch empor. Mächtige, senkrechte Abbruche drängen sich übereinander. Und doch führt ein Kletterweg dort hinauf — und was für einer: er ist Genuss von A bis Z, nie zu schwer, immer aus bestem Gestein und von einer grossartigen Linie. Die Krone findet man in einem engen Durchschlupf mit dem Namen « Opel-Band », wo die eine Hälfte des Körpers über der steinernen Rinne baumelt, während die andere sich auf dem abgerutschten Zeug zu halten versucht. Durch eine tiefe Narbe führt der Abstieg durch eine wilde Schlucht mit Klemmblöcken und Höhlen, tief im Berg drinnen: durch den Botzongkamin. Kein schöner Abstieg, aber einer von einzigartiger Wildheit.
« Die Ostwand — das ist für den jungen Kletterer ein Wunderwort, ein geheimnisvoller Begriff, zusammengesetzt aus Ahnungen von erlesenen Schwierigkeiten und seltensten Genüssen, ein Zauberschlüssel, der einem zugleich den Zutritt ins schönste Kletterparadies und zur Zahl der Auserwählten gibt — wenn man sie eben gemacht hat. » So schreibt Leo Maduschka über die Wand, die Fleischbank-Ostwand. Nun, sie hat uns nicht enttäuscht, nur die « Zahl der Auserwählten » scheint mir etwas gross geworden zu sein, denn im untern Teil ist sie fürchterlich « abgeschmiert » von den vielen Begehungen. Der Weg durch diese Wand ist von einer grossartigen Ausgesetztheit. Erst geht es hinauf durch steile, flache Risse, über Höhlendächer immer höher, bis eine grössere Zahl noch « diensttauglicher Haken » den Beginn des grossen Querganges ankündigt. 10, 12 Meter geht es über die glatten Platten, und mit ehrfürchtiger Bewunderung muss ich an den Mann denken, der schon 1912, zu einer Zeit, da das Klettern bei uns noch in den Kinderschuhen steckte, diesen Weg gegangen ist: Hans Dülfer. Das Quergangseil ist eingezogen, zusammengedrängt stehen wir in der engen Nische. Etwas leichteres Gelände wird nicht ungern in Angriff genommen, haben uns doch die ersten Seillängen schon ziemlich zugesetzt. Ohne Zweifel würden sie im Alpsteinführer mit « äusserst schwierig » taxiert. Dabei liegen die grössten Schwierigkeiten noch vor uns! Vorerst geht es'leicht rechts hinauf zum zweiten Quergang, dann über herrliche Wandstellen zur grossen Höhle: an sich ein idealer Biwakraum .; doch uns gelüstet mehr nach der Sonne, die hoch oben in den weissen Blöcken des Gipfelgrates leuchtet. Dort hinauf zieht ein achtzig Meter langer Riss, bald eng, bald weit, gespickt mit Überhängen, garniert mit einigen rostigen Haken: der Ausstiegsriss. Schwer zieht das Seil nach unten, es reibt sich am rauhen Überhang und an mehreren Karabinern. Angestrengt klemmt man sich in einem Riss höher, um ihn gleich darauf wieder mit Schwierigkeiten verlassen zu müssen. Schon zwei Seillängen sind ausgegeben. Jetzt fordert ein Höhlendach eine Traverse nach links, und ein lauter Jauchzer kündigt das überraschende Ende der Schwierigkeiten an. Gemeinsam pilgern wir zum Gipfel, wärmen uns in der Abendsonne und freuen uns an der herrlichen Tour, die uns heute wieder geschenkt wurde.
Die Morgensonne wird heute nicht eindeutig freudig begrüsst — sie verpflichtet: die Fleischbank-SO-Wand steht auf dem Programm. Wir wissen: diese Wand wird all unser Können fordern. « Die Wand ist 6 », hatte man uns bedeutsam gesagt — Haken, Karabiner, Traversenseil sind bereit. Aber das alleni genügt ja nicht — werden wir bereit sein?
Wärmend bestrahlt uns die Sonne am Einstieg. Das Doppelseil liegt fein geordnet am Boden. Die Gummipatschen sitzen: wir können beginnen. Schon nach der ersten Seillänge wölbt sich der erste Übergang hinaus. Wir schleichen uns an ihn an. Ein Haken steckt. Zug. Ein weiter Spreizschritt. Die Kante kann gefasst werden.Oben. Schnaufen. Ein kurzes Band. Dann Risse. Fast immer senkrecht. Dann der erste Quergang, nur kurz, aber mit nicht gerade idealer Landungsstelle. Weiter hoch, über Platten. Eigentlich immer schwierig; nirgends eine Gelegenheit zum Ansruhen, bis ein breiteres Band Gelegenheit zum Sitzen bietet. Über ein glattes « Wand! » geht 's mit Steigbaum. Höher zwängen wir uns, dorthin, wo ein weites Dach die Wand und unsern Weiterweg abzuschneiden scheint: der Rossiübergang. Die Finger schmerzen, als wir auf ihm stehen und uns das Grasband in der Wandmitte zu kurzem Verweilen einlädt. Die Wand ist durchgehend sehr schwierig. Das Schwerste ist aber auch hier auf den Schluss aufgespart. Aber Wetter und Fels sind herrlich. Mit neuer Lust packen wir die letzten drei Seillängen an. Überhang folgt auf Überhang, dürftige Hakenstellen, schliesslich eine kleine Höhle mit Blechtafel: « Dienstraum », wohl der luftigste der Welt. Kerzengerade fallen die Wände von ihm in die Tiefe, aalglatt — nur schräg rechts hoch zieht sich ein überaus steiler und flacher Riss, neigt sich oben nach rechts hinauf, quert den Plattenschuss und verschwindet um die Ecke. Wir wussten: « Um die Ecke... » das heisst: die Wand ist unserI Aber diese paar Meter fordern unser ganzes Können. Mit feinster Gleichgewichtsarbeit ist die erlösende Ecke schliesslich gewonnen. Stürmisch pocht das Glück des Erfolges im Herzen, wir steigen dem Gipfel zu. Herrlich lacht uns die Sonne an, dringt das Bild der Wiesen und Wälder, des Lebens auf uns ein, auf uns, die wir uns dieses Leben soeben neu erkämpft haben. Ruhig steigen wir zu Tal...
Sonntag — wir wollen ihn auf dem Totenkirchl feiern. Durch den dunstigen Herbstmorgen steigen Paul Aschenbrenner, Wastl Mariner und wir Schweizer die Winklerschlucht hinauf und über herrlichsten Fels durch die Südverschneidung auf den Gipfel. Eine Bergspitze wie gemacht zum Schauen, Sich-Besinnenl Weit übers Tirolerland schweift der Blick, zarter Dunst verbirgt das Tal, aus ihm heraus aber steigen die grünen Alpen, die silbernen Felswände, die leuchtenden Gletscher. Eine ganze Berggemeinde hat sich hier oben eingefunden, vor allem die alte Generation ist zahlreich vertreten: Franz Nieberl, Georg Sixt, Stigler. Sie alle wollen diesen Herbstsonntag in ihren Bergen verbringen. Und wenn 's auch mit dem Schnauf nicht mehr so gut geht, aus den alten Augen leuchtet dennoch jugendliche Begeisterung, das Glück in den Bergen sein zu dürfen.
Wir ziehen durchs Kaisertal hinaus, reich an Erinnerungen. Und wenn da einer von Kletterakrobatentum, von Bergen als Turngeräten reden sollte, so dürfen wir ihm sagen, dass auch diese Berge das Erlebnis der Alpen vermitteln, anders als die Hochalpen, aber nicht weniger schön. Wir dürfen ihm ferner sagen, dass diese schweren Kletterfahrten uns gutes Training für die Hochtouren sind, das uns die technischen Probleme jener Fahrten leichter lösen lässt. Dass dieses Training kein schlechtes, ist, beweisen uns Namen wie Weizenbach, Merkl, Peter Aschenbrenner, Erwin Schneider. Sie alle holten sich ihre Felserfahrung in den Kletterbergen des Kaisers. Aber diese Klettertouren sind nicht nur Mittel zum Zweck, sie haben auch einen hohen Eigenwert: das Gefühl, Herr über seinen eigenen Körper zu sein. Das Gefühl des Mutes ist nirgends so deutlich und so beglückend wie auf schwerer Kletterfahrt. Und nirgends wie am steilen Fels bildet die Seilschaft eine so enge Schicksalsgemeinschaft, ruht dein Glück oder Unglück derartig in der starken Hand und dem aufmerksamen Blick des Kameraden.
Ungern scheiden wir von dir, du Wilder Kaiser, deinen stolzen Gipfeln und steilen Klüften, deinem harten Fels, und wie wir hinausgehen durchs abendliche Tal nach Kufstein, schauen wir noch manchmal zurück, dorthin, wo die Westwand des Totenkirchls im Abendlicht einen letzten Gruss herüber-leuchtet.