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<Andinismo> in der bolivianischen Cordillera Real

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in der

bolivianischen Cordillera Real

Ruedi Horber, Niederscherli

Namenloser Indiofried-hof auf 4500 m vor der eindrücklichen Kulisse des Huayna Potosi Alto, liegt auf gegen 4100 m Höhe, was einem Weltrekord entspricht. Es passt daher durchaus ins Bild, dass, entgegen den allgemeinen Grundsätzen, die in den höhergelegenen Quartieren und die möglichst zuunterst in der Stadt wohnen, wo es sich leichter leben und vor allem besser atmen lässt. Und gibt es wohl eine andere Stadt auf der Erde, die sich über tausend Höhenmeter erstreckt, von über 4000 m bis gegen 3000 m hinunter, und wo praktisch keine Strasse eben verläuft? Oder welche andere Hauptstadt hat einen von über 6000 m Höhe, den 6460 m hohen Illimani, das Wahrzeichen von La Paz? Um noch mit wei- 45 ( Alpinismus ) ist in Lateinamerika kein Begriff. Da hier die Anden aufragen und nicht die Alpen, ist dies auch nicht überraschend, sondern eigentlich ganz natürlich. So spricht man denn in Lateinamerika von . Wer mit Pickel, Seil und Steigeisen ausrückt, ist folgerichtig ein . Dies gilt selbstverständlich auch für mein Reiseziel Bolivien.

Ein ungewöhnliches Land voller Kontraste Bolivien ist ein ganz spezielles Land und kann sich verschiedener Rekorde rühmen. So muss die Andenrepublik als das ärmste, am stärksten isolierte und am wenigsten entwickelte Land Südamerikas bezeichnet werden. Und La Paz ist mit rund 3600 m über dem Meeresspiegel die höchstgelegene Hauptstadt der Welt. Schon die Anreise ist ungewöhnlich: Der Flughafen von La Paz, El Im Aufstieg zum hinteren Chacal-taya-Gipfel. Im Hintergrund Mururata ( links ) und Illimani ( rechts ) teren Superlativen fortzufahren: Mit einem Anteil von 52 Prozent Indios und 27 Prozent Mestizen an der Gesamtbevölkerung ist Bolivien das am wenigsten Land Südamerikas, und vor einigen Jahren dürfte die Andenrepublik mit einer Inflationsrate von rund 25000 Prozent ( I ) wohl alle bisherigen derartigen Rekorde geschlagen haben. Schliesslich: Welches andere Land auf der Welt nimmt 60 Prozent seiner Exporteinnah-men aus dem Verkauf von Kokain ein und musste bis zu den siebziger Jahren fast jedes Jahr einen Staatsstreich über sich ergehen lassen? Die Liste der Rekorde und Besonderheiten liesse sich beliebig verlängern.

Nun, in der Realität sind die Gegensätze eher noch grösser als diese ersten paar An- gaben vermuten lassen. Altes neben Ultra-modernem, zur Schau getragener Reichtum neben grösster Armut, der elegante Geschäftsmann neben dem bettelnden Indio mit ausdruckslosen Augen. Tagsüber sommerlich warm, nachts bitter kalt, Schweiss-ausbrüche an der Sonne, Frösteln im Schatten. So kann es durchaus auf der Sonnenseite des Murillo-Platzes in La Paz annähernd 30 Grad warm sein, während die Temperatur gleichzeitig auf der Schattenseite nur null Grad beträgt.

Zur Zeit ist Bolivien ein ruhiges, gastfreundliches Land. Dank einem rigorosen Sa-nierungsprogramm ist es der Regierung des legendären Präsidenten Paz Estenssoro Mitte der achtziger Jahre gelungen, die bolivianische Volkswirtschaft zu stabilisieren. Ja, es ist nicht übertrieben, von einem kleinen Wirtschaftswunder zu sprechen, obwohl die sozialen Probleme natürlich bei weitem nicht gelöst sind. Die Inflationsrate beträgt gegenwärtig für lateinamerikanische Verhältnisse bescheidene 10 Prozent pro Jahr. Und die öffentlichen Dienste funktionieren recht gut; Pünktlichkeit ist Trumpf, und der Kunde ist hier noch uneingeschränkt König. A propos Sicherheit: Die Behauptung ist kaum gewagt, dass La Paz Städte wie Zürich oder Bern bereits überholt hat. Also sowohl für den ( gewöhnlichen ) Touristen als auch für den ein höchst attraktives Land, zumal neben den Bergen zahlreiche Sehenswürdigkeiten aufwarten: Zunächst natürlich der berühmte Titicacasee, auf 3810 m Höhe gelegen und 15 mal grösser als der Bodensee, dann die Silberstadt Potosi, im 17. Jahrhundert mit rund 200000 Einwohnern die grösste Stadt Amerikas, ferner Sucre, die schmucke faktische Hauptstadt Boliviens, schliesslich das tropische Tiefland, die Yun- gas, von La Paz durchaus als Tagesausflug machbar. Und für den historisch und kulturell interessierten Besucher ist die rätselhafte Ruinenstadt Tiahuanaco inmitten der Weite und Öde des Altipiano ein absolutes ( Muss>.

Das höchste Skigebiet der Welt Bolivien ist stolze Besitzerin eines weiteren Rekordes: Es kann sich der höchstgelegenen Skipiste der Welt rühmen. Der Chacaltaya, an dessen Gletscherflanke auf über 5000 m Höhe bereits Ende der dreissiger Jahre ein einfacher Skilift angelegt worden ist, kann von La Paz aus bequem in einem Tag besucht werden. Der Lift ist etwa 1000 m lang und überwindet 340 Höhenmeter. Der leichten Besteigbarkeit und der Nähe zur Hauptstadt verdankt der Chacaltaya den Bau einer Strasse, die bis zur Skihütte des Club Andino auf 5180 m Höhe hinaufführt. Der Skilift ist allerdings nur an Wochenenden in Betrieb; für rund 20 Dollar liegen der Transport von La Paz, Miete des ( meist mangelhaften ) Skimaterials sowie das Liftabonne-ment drin. Die beiden eigentlichen Chacal-tayagipfel sind 5345 und 5395 m hoch und zu Fuss bequem zu erreichen - wenn nur die Höhe nicht wäre!

Um 9 Uhr morgens verlassen wir La Paz mit dem Ziel Chacaltaya. Zuerst geht es auf der modernen Autobahn hinauf zum Flughafen El Alto, dann folgt eine Naturstrasse, die streckenweise eher einem Bachbett gleicht. Dafür entschädigen schönstes Wetter und atemberaubende Ausblicke auf den Huayna Potosi und den Illimani sowie in den Talkessel von La Paz hinunter. In vielen engen Kehren führt die Strasse bis zur Skihütte des Club Andino hinauf, wobei die mittlere Geschwindigkeit 15 km/Stunde beträgt, was alles über den Zustand der Piste aussagt. Um mich besser zu akklimatisieren, verlasse ich das Fahrzeug auf 4800 m Höhe - der Montblanc lässt grüssen - und steige langsam zur Skihütte auf. Dann folgt der erste Chacal-tayagipfel. Obwohl es auf gutem Weg nur 150 Höhenmeter sind, bin ich oben etwas ( geschafft ). Nach einer längeren Rast nehmen wir den zweiten Berg in Angriff. Zuerst geht es in eine kleine Scharte hinunter, dann etwa 100 Höhenmeter über den Gletscher zum Hauptgipfel. Ein phantastisches Pan- orama entschädigt für die Anstrengungen. Der Huayna Potosi ist zum Greifen nahe, und am Horizont reihen sich Berge an Berge. Auf der andern Seite ebenso eindrücklich die unendlich weite Ebene des Altipiano, und ganz im Hintergrund grüsst der Sajama, mit 6520 m der höchste Berg Boliviens. Nach längerer Rast kehren wir am frühen Nachmittag nach La Paz zurück.

Ein unbekannter Fünftausender Ziel der meisten in Bolivien ist die Cordillera Real, die Königskordillere, die wohl imposanteste und schönste Gebirgskette Lateinamerikas nach der Cordillera Blanca in Peru. Sie erstreckt sich nordwestlich bis südöstlich von La Paz auf einer Länge von 150 Kilometern und weist eine ganze Reihe von stolzen Bergen auf: von Nordwesten nach Südosten die Sechstausender Illampu, Ancohuma, Chearoco, Chachacomani, Huayna Potosi und Illimani. Nicht nur ihre Schönheit macht sie für den Bergsteiger besonders attraktiv, sondern auch die Vielzahl der Routen in allen Schwierigkeitsgraden und die leichte Erreichbarkeit von der Hauptstadt La Paz aus. So können verschiedene lohnende, zum Teil selten begangene Fünftausender bequem in einem Tag bestiegen werden. Das warme Hotelbett ersetzt hier das kalte Biwak, was angesichts der tiefen Temperaturen nicht zu verachten ist. Denn auf 5000 m Höhe kann es nachts ohne weiteres minus 15 Grad oder kälter werden. Dazu gesellt sich in der besten Tourenzeit, von Mitte Mai bis Mitte August, oft ein kalter, schneidender Wind. Tagsüber wird es jedoch meistens sehr heiss; Temperaturunterschiede von über 40 Grad innerhalb von 24 Stunden sind keine Seltenheit. Diese Strapazen werden durch das überwiegend stabile Wetter, die geringen objektiven Gefahren und nicht zuletzt die wohltuende Abgeschiedenheit - mit Ausnahme des Skihau-ses auf Chacaltaya gibt es keine einzige Schutzhütte - mehr als aufgewogen. Bei Unfällen ist allerdings keine Hilfe aus La Paz zu erwarten; das Rettungswesen steckt noch in den Kinderschuhen.

Für heute schlägt mir mein Bergführer einen der vielen unbekannten Fünftausender vor, den 5324 m hohen Cerro Wila Manquilizani nordöstlich von La Paz. Ich bin nicht nur vom klangvollen Namen angetan. Vielmehr noch steigern seine recht steile Schnee-/Eis- flanke und die Tatsache, dass er äusserst selten bestiegen wird, mein Interesse. Warum immer nur auf die bekannten Berge? Liegt der Reiz des nicht gerade darin, auch einmal Gipfel anzusteuern? Wetten, dass kaum ein europäischer Alpinist diesen Berg kennt! Und es gibt noch viele in Bolivien und anderen Ländern. Die Sache ist somit für mich sofort klar, heute geht es auf diesen Gipfel. Und ich sollte nicht enttäuscht werden.

Ausgangspunkt ist diesmal El Cumbre, der 4643 m hohe Übergang ins Tiefland nach Coroico hinunter. Weiter führt uns der Wagen über eine schlechte Sand- bzw. Steinpiste, deren Konturen kaum erkennbar sind. Dank den Fahrkünsten des Chauffeurs können wir uns ein gutes Stück unserm heutigen Ziel nähern, was die Anmarschzeit wesentlich verkürzt. Um 8 Uhr nehmen wir die Rucksäcke auf, und über Geröll geht es auf und ab zum Fusse des Gletschers. Auf halbem Weg treffen wir auf die Überreste eines Flugzeuges. , bemerkt der Führer trocken,

Der Sechstausender der Welt Eigentliches Ziel und Höhepunkt meiner Bolivienreise ist die Besteigung des Huayna Potosi, eines gewaltigen Berges von unver-gleichbarer Schönheit. Zu Recht wird der mächtige Eisriese oft als ( Königin der Cordillère ) bezeichnet. Auf alten Karten wird der Huayna Potosi zuweilen noch mit dem Ay- marà-Namen geführt. Da er auf der Normalroute technisch relativ einfach zu machen ist und die Anfahrtszeit von La Paz nur anderthalb Stunden beträgt, gilt er allgemein als der Sechstausender der Cordillera Real. Seine Erstbesteigung erfolgte am 3. Juli 1919 durch die beiden Deutschen R. Dienst und O. Lohse. Meistens wird der Huayna Potosi in zwei Tagen bestiegen, denn gegen 1500 m Höhendifferenz sind in dieser Hochlage nur bei ausgezeichneter Akklimatisation und bester körperlicher Verfassung zu schaffen. Ich will es trotzdem in einem Tag versuchen. Gibt es wohl einen anderen Sechstausender auf der Welt, der sich in einem Tag ohne Biwak erklimmen lässt? Bis jemand den Gegenbeweis angetreten hat, glaube ich es jedenfalls nicht. So ist die Behauptung kaum gewagt, dass der Huayna Potosi der Sechstausender der Welt ist. Er wird denn auch heute relativ häufig von Expeditionen und kleineren Bergsteigergruppen besucht. Bei guten Verhältnissen ist meistens eine Spur vorzufinden, und oft sind gleichzeitig mehrere Seilschaften unterwegs.

Heute ist um 3.30 Uhr Tagwache; kurz nach 4 Uhr verlasse ich mit einem bolivianischen Bergführer das noch schlafende La Paz. Zuerst geht es wiederum Richtung Chacaltaya, dann nehmen wir die Fahrpiste Richtung Zongo-Pass am Fuss des Huayna Potosi unter die Räder. Hier auf etwas über 4600 m Höhe beginnt der Aufstieg. Es ist noch dunkle Nacht, als wir etwas vor 6 Uhr morgens losmarschieren. Insgesamt stehen uns gut 12 Stunden zur Verfügung, denn nach 18 Uhr wird es im bolivianischen Winter bereits wieder dunkel. Wegspuren und der Schein der Stirnlampe weisen uns die Route Richtung Gletscher. Langsam wird es Tag, und immer deutlicher zeichnen sich die Konturen des Huayna Potosi ab. Welch ein Schauspiel, wie die ersten Sonnenstrahlen den Nord- und Südgipfel in ein goldenes Licht tauchen. Nach etwas über zwei Stunden anstrengendem Aufstieg über Geröll und Moränen erreichen wir den Gletscher. Angeseilt und mit Steigeisen folgen wir der gut ausgetretenen Spur, wobei einige gefährliche Spalten und blanke Stellen zu überwinden sind. Es ist recht kalt, und ein bissiger Wind macht uns zu schaffen. Nach weiteren zwei Stunden sind wir beim Campamento Argentino, dem üblichen Biwakplatz auf etwa 5500 m Höhe. Hier treffen wir auf ein Zelt, das von zwei Trägern behütet wird. Bald geht es weiter, aber das Tempo nimmt nun merklich ab. Die Höhe macht mir zunehmend zu schaffen, obwohl ich den Rucksack im Zelt deponiert habe. In langen Kehren steigen wir weiter, zum Teil an phantastischen Eisgebilden vorbei. Welch eine grossartige Szenerie! Aber langsam werde ich mir bewusst, dass die Zeit für den Gipfel wohl nicht ganz ausreichen wird. Nach über sieben Stunden Aufstieg strecke ich auf gegen 6000 m Höhe die Waffen. Der Schlusshang würde zuviel Substanz kosten, zumal er ziemlich stark vereist ist. Ich bin zu müde, um enttäuscht zu sein. Nichts wie rasten, die grossartige Landschaft in mich aufnehmen, und dann hinunter! Nach einer ausgiebigen Rast treten wir am frühen Nachmittag den Rückzug an. Kurz vor dem Eindunkeln erreichen wir wieder den Zongo-Pass, wo uns das Auto erwartet. Auch nach diesem nicht ganz geglückten Versuch bleibe ich bei der Behauptung, dass der Huayna Potosi in einem Tag zu machen ist. Aber dazu reicht ein Aufenthalt von nur gut zwei Wochen in Bolivien, der nur eine ungenügende Akklimatisation zulässt, offenbar nicht aus.

Ausklang Jetzt, auf dem Rückflug in die Schweiz, irgendwo über dem Atlantik, weilen meine Gedanken immer noch in der bolivianischen Cordillera Real. Ich sehe den tiefblauen Titicacasee, den imposanten Huayna Potosi, die Weite des Altipiano mit den rätselhaften Ruinen von Tiahuanaco und den Kondor am Cerro Wila Manquilizani wie im Traum an mir vorbeiziehen. Bolivien ist ein faszinierendes, ein ungewöhnliches, ja dramatisches Land voller Kontraste.

Empfehlenswerte Literatur R. Pecher, W. Schmiemann, Die Königs-kordillere, Berg- und Skiwandern in Bolivien, München 1983 A. Mesili, La Cordillera Real de los Andes -Bolivia, La Paz, Cochabamba 1984 D. Swaney, Bolivia, a travel survival kit, Victoria ( Australien ) 1988 P. R. Romero, Bolivia, Madrid 1988 G. Müller, Peru und Bolivien ( DuMont-Reise-Handbuch ), Köln 1989 P. McFaren, An Insider's Guide to Bolivia, La Paz 1990

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