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In memoriam Paul Montandon-Koenig (1858—1948)

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Paul Montandon-Koenig 1858—1948

Glockenthal bei Thun Mitglied des Schweizer Alpenclub seit 1879 Ehrenmitglied des S.A.C., des englischen Alpine Club und der Sektionen des S.A.C. Bern, Blümlisalp ( Ehrenpräsident ), Alteis und Wildhorn Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die Gegenwart fand in Bergsteigerkreisen der Schweiz — aber auch in England, Frankreich, Österreich, Deutschland, Italien, man darf sagen in der ganzen Welt — ein mit « P. M. » gezeichneter Artikel oder selbst nur eine kleine Notiz Beachtung. Sofort ward bewusst: Da spricht ein Berufener, steht doch hinter diesen beiden Initialen Paul Montandon, der unentwegte schweizerische Vorkämpfer für das selbständige, führerlose Bergsteigen. P. M. darf denn auch mit seinen 90 Jahren als Nestor der Bergsteiger bezeichnet werden — und es ist noch hinzuzufügen, dass er 69 Jahre lang dem S.A.C. angehört und damit die längste Mitgliedschaftsdauer erreicht hat.

Um die Bedeutung und das Wirken dieses Mannes zu würdigen, ist ein Rückblick in seine Zeit nötig. Welcher Geist beseelte die damaligen Bergsteiger? Welchen Vorurteilen und Widerständen sind sie begegnet? Wie wenig Verständnis ist ihnen entgegengebracht worden, als sie die Bergwelt erschliessen wollten!

Die Anfänge des Bergsteigens in der Schweiz. Dogma in den Kreisen des S.A.C.: « In die Berge nur mit Führern! » Der Kampf dagegen In den Anfängen des Bergsteigens in der Schweiz hat die wissenschaftliche Forschung im Vordergrund gestanden. Es war gegeben, dass Leute wie Agassiz, Desor, Hugi usw. sich der Unterstützung und Hilfe guter Bergführer bedienten und diese ihre Führer, Begleiter und Träger waren. Auch die ausländischen, meist englischen Touristen nahmen Lokalführer mit und liessen sich von ihnen die Wege weisen. Die bernischen Bergsteiger Studer, von Fellenberg, Lindt, Aebi, Wäber, Dübi zogen stets nur mit zwei Führern aus; einzig der St. Galler Weilenmann ging allein und machte damit eine beachtete, viel kritisierte Ausnahme. Es galt in den Kreisen der schweizerischen Alpenclubs, aber auch des englischen Alpine Club, als begründete Weisung — ja Forderung, Hochtouren nur in Begleitung ortskundiger Führer zu unternehmen, und ganz allgemein wurden die kühnen Führerlosen, die selbst die Verantwortung tragen wollten und auf die eigenen Fähigkeiten bauten, als Vermessene betrachtet. Um zu verstehen, aus welcher Richtung der Wind kam, der damals im S.A.C. wehte, verweise ich auf ein Gedicht im « Fröhlichen Murmeltier », dem Liederbuch des S.A.C., Seite 127:

Die Alpen - 1948 - ies Alpes25 An die Führerlosen ( Melodie: Goldne Abendsonne ) O ihr Führerlosen,Und ein Andrer — lumpig, Wie seid ihr so schönSchweissig, schmutzigroth Nie kann ohne « Täubi»Liess sich so begaffen Euer Thun ich seh'n.An der table d' hôte.

Kürzlich traf ich einen,Und sie renommiren, Blutig comme il faut,dass es kratzt und kracht — Weil am Mönch er stürzteNiemand hat 's gesehen, Ich war schadenfrohWie sie es gemacht.

O ihr Führerlosen — Wenn ich einen seh ', Hoff ich es sei Keiner Aus dem S.A.C.

G. Strasser ( Oberland ) Es kann wirklich kein Zweifel bestehen, dass schon damals begeisterte Bergsteiger nicht führerlos gingen aus Renommiersucht und ebensowenig, um den Führern das Wasser abzugraben. Gerade unsere tüchtigsten Alpinisten erkannten die hohen Eigenschaften seriöser Führer und wussten sehr wohl, dass dieser Beruf einen steinigen Weg bedeutet und oft nur mit dem Einsatz des Lebens gangbar ist. Verständlicherweise sind von Seiten der Führerlosen Fehler begangen worden. Dazu kamen aber Unglücksfälle, die ihrer guten Sache geschadet haben. Es fiel am 6. August 1886 EmiJ Zsigmondy an der Meije. Am 17. Juli 1887 verunglückten an der Jungfrau sechs hoffnungsvolle Leute: Karl Ziegler, Heinrich und Alex Wettstein, Gottfried Kuhn, Wilhelm Bär und Gustav Bider. Sie haben führerlos die Jungfrau vom Rottal her bestiegen und sind auf dem Abstieg zum Rottalsattel in einem Schneesturm umgekommen. Man kann sich heute keine Vorstellung mehr davon machen, welche Sparinung in der ganzen Schweiz herrschte, bis die Gewissheit über das tragische Schicksal der jungen Leute bekannt wurde. Als ob es gestern gewesen wäre, kann ich mich noch an die Vermisstmeldung erinnern, an die Suchaktion und endlich an die traurige Nachricht, dass die Leichen geborgen auf Hotel Eggishorn angekommen waren. So kann man wohl verstehen, dass immer wieder der Ruf ertönte: « In die Berge nur mit guten Führern! » Überall konnten Warnungen in diesem Sinne vernommen werden. So berichtet Charles Simon in seinem Buch « Erlebnisse und Gedanken eines alten Bergsteigers », Seite 42 ( 1896 machten Dr. Andreas Fischer, Dr. René Koenig und Charles Simon eine führerlose Kampagne im Dauphiné. Man kann sich kaum eine bessere Seilschaft vorstellen ):

« Herr Tairraz, Hotelier in La Bérarde, erkannte mich, nahm mich freundlich auf, neugierig, was wir unternehmen wollten. Unseren Plan, die Meije zu besteigen, konnten wir nicht wohl verheimlichen, es hätte schlimm ausgehen können. Als wir nach der Chatellerethütte aufbrachen und an den Gruppen von Führern grüssend vorbeigingen, hörten wir den alten Gaspard sagen: ,Ces Messieurs veulent faire la Meije, ils s' y casseront les dents. ' » Der Höhepunkt der Spannung zwischen Führern und Führerlosen fand wohl im Jahrbuch des S.A.C. 1896, Seite 126, seinen Ausdruck. Nach der gelungenen Erstbesteigung des Kleinen Lauteraarhorns durch Paul Montandon, Robert von Wyss, Dr. Hans iBiehly berichtet letzterer wie folgt:

« Etwas abgeklappt liessen wir uns zur Mittagsrast — es mochte etwa 12 Uhr sein — auf einem Felsvorsprung nieder. Montandon zog mit liebevollem Blick die einzige Flasche Wein, die wir mit hatten, aus dem Rucksack und steckte sie mit Sorgfalt zur nötigen Abkühlung in den Schnee. Dann machten wir uns ans Auspacken der Esswaren und standen bereits im Begriff, uns einige kräftige Koteletten zu Gemute zu führen, als es über unseren Köpfen zu poltern und zu krachen anfing. Jetzt rasch! Jeder sprang auf und suchte Deckung, soweit das Seil es erlaubte. Montandon schrie mir in der grössten Seelenangst noch zu: ,Biehly, hol' doch no d'Fläsche! ' Der also Angeredete zog es jedoch vor, unter einem Felsblock zu verschwinden. Und nun kam 's herunter; zuerst ein rauschender Strom von nassem Schnee und darauf eine donnernde Kanonade von Steinen — alles dies über unsere Köpfe hinweg. Als es wieder still wurde, blickten wir um. Alles fort! Unser gutes Dîner und auch die Flasche! Schnell packten wir die Rucksäcke wieder auf und begannen in beschleunigtem Tempo den Abstieg, immer von neuem Steinschlägen verfolgt. » Diesem Intermezzo, das noch glimpflich abgelaufen war, Hess Dr. Biehly als Abschluss seiner Erstbesteigungsschilderung die Sätze folgen:

« In fröhlicher Stimmung zogen wir talwärts auf dem neuangelegten Weg, der uns von der Schwarzegghütte in zwei Stunden nach Grindelwald brachte. Hier machten wir uns möglichst rasch und ungesehen aus dem Staube, um uns nicht dem bekannten Brotneid der Grindelwaldner Führer auszusetzen. » Diese Worte, die der damalige Redaktor des S.A.C.-Jahrbuches, Dr. Heinrich Dübi, nur widerwillig und einzig deshalb im Manuskript stehen liess, weil Dr. Hans Biehly darauf beharrte, wurden von der Führerschaft und in den offiziellen Kreisen des S.A.C. sehr übel aufgenommen und scharf kritisiert. Bei der jungen Generation der Führerlosen dagegen lösten sie helle Begeisterung aus, ja, sie wurden zum geflügelten Wort. Doch, welche Ironie des Schicksals! Am 6. November 1897 ist am Wetterhorn zwischen Hans Biehly und Robert von Wyss der junge Berner Hans Wäber, Sohn des früheren Redaktors des S.A.C.J.ahrbuches, beim Ablegen der Steigeisen von einem Stein erschlagen worden; und der gleiche Hans Biehly, der den Führern Brotneid vorgeworfen hatte, musste nach Grindelwald hinunter eilen, um den Gletscherpfarrer Gottfried Strasser — den Verfasser des erwähnten Schmäh-gedichtes auf die Führerlosen — zu ersuchen, die Führer zu einer Rettungskolonne aufzubieten. Als die Freunde des Verunglückten im Friedhof Grindelwald den Sarg auf der Tragbahre zum Grab bringen wollten, wies sie der Führerobmann barsch weg: « Laht das, mir hei ne au gholtl » Nicht ohne Spitze gegen die Führerlosen stellt Dr. Heinrich Dübi bei seiner jährlichen Berichterstattung über die Unglücksfälle im Jahrbuch 1897, Seite 330, fest: « Die Leiche wurde von der durch Dr. Hans Biehly geholten Führerkolonne nach Grindelwald gebracht. » Es ist verständlich, dass auch auf der Führerseite eine gewisse Erbitterung bestand; sie haben das auch die Führerlosen fühlen lassen. Es ging sogar so weit, dass — wie mir von zuverlässiger Seite mitgeteilt worden ist — einige Grindelwaldner Führer auf der Schwarzegghütte einer führerlosen Partie eine Route empfohlen hatten, von der sie wussten, dass die Schneeverhältnisse besonders mühsam waren. Es war das bei Anlass einer Winterbesteigung ( noch ohne Ski !) des Finsteraarhorns durch Hans Biehly, Robert Helbling, René Koenig und R. von Wyss. Einzelne der Führerlosen haben dann, um den ewigen Anfechtungen und Plackereien zu entgehen, sich zur Führerprüfung im Kanton Bern angemeldet. Diese bestand damals in einem eintägigen, mehr theoretischen Examen. Der Präsident der Kommission, Pfarrer G. Strasser in Grindelwald, hat heftig gegen die Zulassung von Führerlosen zur Führerprüfung opponiert. Er musste sich dann aber dem Wortlaut des Gesetzes fügen, und Dr. René Koenig besitzt seit 1. Juni 1889 das Buch als patentierter Führer im Kanton Bern.

Die innerlich starke, selbständige Persönlichkeit P. M.s musste ihr inneres Verlangen nach den Höhen irgendwie verwirklichen. Aber wie? Sollten die Berge — so fragte er sich — das ausschliessliche Privileg jener bleiben, die das Glück hatten, bei tüchtigen Führern in die Schule zu gehen und mit ihnen auszuziehen? Die Führertaxen waren für ihn nämlich ein unüberwindliches Hindernis. Wie sollte er sie aufbringen, wenn die grösste Sparsamkeit nötig war, um nur das Bahngeld bis zur Talstation zu erübrigen? Die bescheidene Verpflegung kam aus Mutters « Chuchichäschtli ». Aber die Berge standen unentwegt vor ihm und lockten. Seiner gründlichen, sorgfältigen Natur entsprechend versuchte er, sich vorerst theoretisch vorzubereiten. Aber als Literatur kamen seinerzeit nur die S.A.C.J.ahrbücher in Frage, und was er darin fand, war spärlich genug. Doch eines war wertvoll: das Panorama von Bern mit Schilderungen der in Berns Umgebung sichtbaren Gebirge von Gottlieb Studer, Bern 1850. P. M. hat sich bei einem Berner Antiquar ein Exemplar dieses ausgezeichneten Büchleins verschafft; es war fortan sein Brevier geworden. An Hand der sehr wertvollen, zuverlässigen Angaben Studers studierte er vornehmlich die Vorberge und fasste zugleich den Entschluss, sie zu besteigen und dort Erfahrungen zu sammeln. Er wiederholte gewisse Besteigungen im Winter und eignete sich damit gründliche Kenntnisse in Fels und Schnee an. Sein vier Jahre jüngerer Bruder Charles war ihm ein prachtvoller, kongenialer Kamerad. Mit ihm und gleichgesinnten Freunden aus Thun und Bern zog er aus, sooft es das Portemonnaie erlaubte. Systematisch steigerte er die Leistungen, und so erwarb er sich mit der Zeit nicht nur grosses technisches Können in Fels und Eis; er sammelte auch Erfahrungen über die mannigfachen Gefahren und Tücken der Bergwelt. Er legte grossen Wert auf sorgfältige Vorbereitung seiner Touren und erwies sich darin als ein meisterhafter und gestrenger Lehrer. Wehe dem, der sich gegen die geheiligten Regeln des Sicherns im Fels verfehlte oder die Stufen in Schnee und Eis austrat! Er wurde streng gerügt. Und wer unsauber kletterte, Steine löste, wurde von ihm überhaupt nicht wieder mitgenommen. Innerhalb seiner Seilpartie war er unbedingter Herrscher; wer sich ihm anvertraute, war aber auch geborgen und gut aufgehoben. Alle Pflichten des guten Kameraden waren für ihn selbstverständlich. Auch liess er es sich keineswegs verdriessen, in den Hütten Ordnung zu schaffen und sie stets nur in tadellosem Zustand zurückzulassen und in Ruhetagen den Hüttenweg auszubessern. Als umsichtiger Tourenleiter kümmerte er sich um alle Details; ja selbst die Rucksäcke seiner Kameraden kontrollierte er wegen gerechter Gewichtsverteilung. Seine Gewissenhaftigkeit hatte einmal einen gänzlich unbeabsichtigten Missgriff zur Folge. In der Promontoirehütte vor der Meije-besteigung verstaute er zwei gebratene Poulets, die Charles Simon für die Gipfelrast gestiftet hatte, in den Rucksack einer anderen Partie. Charles Simon erzählte mir, er habe auf der Meije seinen Zeiss vermisst, um die erstaunten Gesichter der anderen Partie auf dem Râteau zu beobachten, als sie die angenehme Entdeckung der ihnen nicht zugedachten Güggeli machten. Als im darauffolgenden Winter auf der Au eines jener berühmten « dîners des alpinistes » gefeiert wurde, gab es Poulets. Madame Simon liess P. M. ostentativ zuerst servieren. Da überfiel diesen ein maliziöses Lachen, und mit der ihm eigenen Selbstironie wandte er sich an den Gastgeber: « C' est bien la revanche pour les poulets de la Meije! » Durch seine Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit wurde er zum eigentlichen Lehrer der jungen Bergsteigergeneration. Diese unablässige Tätigkeit hat sich in der Stille und erst allmählich ausgewirkt; vorerst weniger im S.A.C. als vielmehr in den Kreisen der akademischen Alpenklubs, die ihre jungen Mitglieder anlernen, mitnehmen und zum Bergsteigen erziehen. Die heute allgemein üblich gewordenen Trainingskurse der Sektionen des S.A.C. gehen im weiteren Sinne auf Grundideen von P. M. zurück. Bei seiner Gesinnung und dem Ernst, wie er das führerlose Bergsteigen betrieb und betrieben wissen wollte, darf es nicht verwundern, dass er bei der heftigen Diskussion über das Unglück vom 26. Juli 1897, das die führerlosen Dr. Hans Brun und Carl Seelig am Schreckhorn betroffen hatte, losbrannte und seine Meinung derb heraussagte. So schrieb er in einem Artikel über führerlose Hochtouren ( « Alpina » 1897, S. 106 fg. ): « Es scheint wirklich an der Zeit zu sein, die führerlosen Touren endlich auch bei uns als eine berechtigte Spezies der Bergtouren überhaupt gelten zu lassen. Oder glauben die Herren mit den dicken Bäuchen und den dünnen Beinen, wenn sie führerlos nichts zustande bringen, uns Führerlosen die Berge zu verbieten oder uns zwingen zu können, dieselben auf ihre Façon zu besteigen? Gehören die Berge den Führern und ihren Herren oder sind sie Gemeingut? Sollten diejenigen, welche in jahrelanger Lehrzeit das Handwerk gelernt haben und sich befähigt fühlen, ohne fremde Hilfe auch Hochgipfel zu erklimmen, gezwungen sein, für jede Tour zwei Führer zu 50 bis 100 Franken zu engagieren und ebensoviel Geld für unzählige Flaschen Wein, Cognac und Geflügel auszulegen? Denn die Führer machen bekanntlich ganz andere Ansprüche als wir. » Dann fährt er aber fort und ermahnt die Führerlosen: « Lernt euren Sport, indem ihr progressiv vom kleineren zum grösseren übergehet, diskreditiert eure gute Sache nicht durch unbedachte Waghalsigkeiten! Macht keine Dummheiten; es ist dieser kein guter Bergsteiger, der mehr als einmal knapp dem Schicksal entgeht! Und noch ein Letztes: Seid bescheiden und begegnet den Führern in freundlicher Weise ohne Herausforderung! Es sind im ganzen sehr brave, in der Ausübung ihres Berufes auch meist überlegene Leute, von denen auch der tüchtigste unter Euch noch etwas lernen kann. Auch ohne sie in Dienst zu nehmen, ist es nicht schwer, sich dieselben zu Freunden zu machen. » Das war echt P. M.! So hat er als der unentwegte Vorkämpfer jenen echt schweizerischen Typus des selbständigen Bergsteigers geschaffen, der die nötige Achtung vor den Bergen und ihren Gefahren hat, der etwas kann und versteht, und der jederzeit bereit, aber auch fähig ist, eine seriöse Tour durchzuführen, als erster voranzugehen und als letzter im Abstieg die ganze Partie zu sichern.

Wie mancher Jüngling ist durch das Bergsteigen zum Mann geworden. Wer in der Familie, in der Schule, im Kontor immer aufs engste behütet und gebunden ist, dem sind ja Bergtouren die einzige Gelegenheit, um sich einmal frei, ohne Bemutterung, ohne Lehreraufsicht, tummeln zu können und seine Kräfte zu messen. Da widerstrebt es einem im Innersten, auch für diese freien Stunden und Tage sich an das Gängelband eines Führers binden zu lassen. Wie mancher Mann im Wirtschaftsleben der Schweiz hat auf diese Weise seine inneren Kräfte gefunden und sich zum tüchtigen, selbständigen Leiter seiner Unternehmung durchgerungen.

So erkennt man, dass diese ganze Entwicklung vom geführten zum führerlosen Bergsteigen tiefe innere Gründe hat und sich in keiner Weise gegen die Führer als solche richtete.

Hervorzuheben ist noch, dass die ganze Bewegung urschweizerisch war und aus dem inneren Bergtrieb unserer jungen Männer erwachsen ist. In t Àkeinem Lande sind der Entwicklung des Bergsteigens so viele Hindernisse in den Weg gelegt worden wie gerade in der Schweiz. Wohl bestanden auch in anderen Ländern gleichzeitig ähnliche Bestrebungen. Sie hatten ihre besonderen Rufer und Streiter. So die Österreicher Gebrüder Zsigmondy, Lamm er, Loria und A. Böhm, den deutschen Purtscheller, die Engländer Girtlestone, Curt, Colgrove, Cawood, Pilkington und Gardiner, die Franzosen Puiseux und Ordinaire und die Italiener Fiorio, C. Ratti, Canzio und Mondini \ Die Schweizer hatten wohl Kunde von den Taten ihrer ausländischen Gesinnungsgenossen und bewunderten sie, aber eine Verbindung und Zusammenarbeit ist nie angestrebt worden.

P. M. hat die weitere Entwicklung mit grösstem Interesse und Genugtuung verfolgt. Er selbst blieb unablässig bestrebt, sich weiter auszubilden. Er studierte alle Artikel in alpinen Zeitschriften über technische Fragen, das Gehen mit Steigeisen, Abseilmethoden usw. Als es ihm seine Mittel erlaubten, engagierte er einmal für einen Tag den alten Grindelwaldner Führerkönig Christian Almer, um mit ihm im oberen Grindelwaldgletscher zu hacken und von seiner Kunst zu lernen. Von P. M. stammt auch der Rat: Ein Führerloser sollte jedes Jahr mit einem der besten Führer auf eine schwierige Tour gehen, nur um zu sehen, wie diese es machen und was sie können. Er hat es sich in späteren Jahren auch nicht versagt, mit guten Führern zu gehen, so insbesondere mit Joseph Knuibel in den AiguiUes de Chamonix und im Baltschiedertal.

So hat er sich selbst gewandelt und zum Ausgleich der Gegensätze beigetragen. Die heutige Bergsteigergeneration weiss von dem allem nichts mehr. Sie zollt heute den Führern den nötigen Respekt, und diese anerkennen auch neidlos die Taten der Jungen. Aber auch in anderer Richtung hat sich P. M. im Laufe der Jahre gewandelt. Die Geister, die er gerufen hat, wurden ihm zu wild. Als um die Jahrhundertwende und nachher gerade bernische Bergsteiger in ungestümem Draufgängertum nach dem Spruche handelten:

Der Berg ist wie ein Frauenzimmer — Von einer Seite kriegt man 's immer!

und ohne sorgfältige Vorbereitung neue Probleme keck anpackten und einfach probierten, da wurde er nachdenklich. Der bereits erwähnte Unfall am Wetterhorn von Hans Wäber ( 16. November 1897 ), sodann die rasch sich folgenden Unfälle seines Schwagers Paul Koenig am Grenzgletscher ( 26. Februar 1902, erstes Skiunglück auf Gletscher wegen Nichtanlegens des Seiles, da man damals glaubte, die Winterschneedecke in Verbindung mit Ski genügte, um einen Sturz in Spalten zu vermeiden ), von Ernst Krebs am Doldenhorn ( 19. Juni 1904, Ausgleiten am steilen Hang ), Egon von Steiger am Wildelsigengrat des Balmhorns ( 19. Juni 1904, Absturz auf verfehlter Route ), Paul Baumgartner am Türmlihorn ( 22. Juni 1913, Nachgeben eines Felszahnes ) fielen ihm auf die Seele, denn alle diese jungen Studenten waren ihm persönlich bekannt, zum Teil sogar mit ihm befreundet. War es nicht jammerschade 1 Siehe ebenfalls in diesem Sinne Dr. Heinrich Dübi in seinem schönen Nachruf auf Charles Montandon, « Alpina » 1923, S. 228.

um alle diese prächtigen Leute, die berufen waren, später im politischen oder Wirtschaftsleben der Schweiz ihren Mann zu stellen, und die alle durch die Berge dahingerafft worden waren? Die Berge sollen doch die Menschen über den Alltag erheben, ihnen neue Kraft zur Arbeit geben und sie nicht dahin-raffen. So wurde P. M. vom Rufer zum Warner.

Die Bedeutung des Ski für die Erschliessung des winterlichen Hochgebirges hat P. M. als einer der ersten erkannt und gefördert. Die weitere Entwicklung des Bergsteigens, das Überhandnehmen des Technischen bis zur Schlosserei, die Erstürmung der Nordwände unserer Berge verfolgte er immer noch mit gesteigertem Interesse, ohne sie zu kritisieren, aber im Grunde auch ohne sie zu billigen. Etwas erstaunt, aber als ganz in seinem Sinn und Geist liegend, hat er einmal vernommen, dass Walter Mittelholzer seine Freunde bei der Fahrt von Zürich ins Ötztal mit den Flugaufnahmen aus dem beabsichtigten Tourengebiet überraschte, die er zwei Tage vorher vom Flugzeug aus aufgenommen hatte, um festzustellen, wo Spalten zu befürchten waren. Als « hochmodern », aber als durchaus richtig bezeichnete P.M. eine fliegerische Rekognoszierung der Ostwand des Monte Rosa, die Mittelholzer mit einem Freunde einige Tage vor der beabsichtigten Tour, die dann leider durch schlechtes Wetter vereitelt wurde, aufgenommen hatte. Einige Bilder jener Rekognoszierung haben im Buche Dr. Kugys « Im göttlichen Lächeln des Monte Rosa » nachträglich noch eine nützliche Verwendung gefunden.

Alle Aufmerksamkeit widmete P. M. den grossen Expeditionen im Kaukasus, Himalaya. Er verfolgte jede Unternehmung, war über alles orientiert und machte sorgfältige Aufzeichnungen über die erzielten Erfolge. Dieses Interesse hat ihm geholfen, seine letzten Lebensjahre, da er ans Bett gebunden war, damit erträglicher zu gestalten.

Nun wenden wir uns aber seinem Lebenslauf zu, den er selbst verfasst hat. Es ist kennzeichnend für die Sorgfalt, mit der er alles besorgte, wie er in einer letzten Verfügung kurz vor seinem Tode das Manuskript mit folgender Weisung versehen hat: « Nach meinem Begräbnis leihweise an Dr. Hans Koenig, Zürich, zu übersenden ( chargiert ) für einen Nachruf in den .Alpen'samt Photo. » Diese Aufzeichnungen seien hier wiedergegeben.

Selbstbiographie Paul Montandon, geboren am 7. Dezember 1858 in Wabern bei Bern, starb am 31. Juli 1948 in seinem Heim im Glockenthal bei Thun im vorgerückten Alter von 90 Jahren. Er stammte von Le Lode und Travers im Kanton Neuenburg. Die Familie führte ihre Herkunft väterlicherseits zurück auf jene südfranzösischen Albi-genser, welche im 13. Jahrhundert auf Veranlassung des Papstes Innozenz III. durch den Grafen Simon de Montfort grausam verfolgt und zum Teil vernichtet wurden oder nach Norden flohen. Einer der Ex-Vulkane in der Auvergne trägt noch heute den Namen « Puy de Montandon ». Diese Flüchtlinge gründeten in der Folge das noch jetzt bestehende Dorf Montandon in. '. '.

der Franche-Comté und später in der Schweiz die Ortschaft La Brévine, wo wir den Montandon vom Ende des 14. Jahrhunderts weg öfters begegnen.

P. M. und sein etwas jüngerer Bruder Charles ( 1862-1923 ) brachten ihre Jugendzeit zu in Wabern bei Bern und später in Münsingen. Ihr Vater starb sehr früh und liess die Witwe mit fünf Kindern in sehr bescheidenen Verhältnissen zurück. Charles wurde mit der Zeit Notar. Paul, obwohl nicht speziell dafür eingenommen, ergab sich der Bankkarriere. Sie brachte ihn im Laufe der Jahre nach Absolvierung seines Militärdienstes nach Genf, Paris, London und hernach zurück nach Bern. Nach seiner Verheiratung 1892 mit Fräulein Sarah Koenig, deren Bekanntschaft er — ein gutes Omen — in der Konkordiahütte gemacht hatte, übernahm er, zuerst mit Schwiegervater und Schwager und hernach allein, die Leitung und später die umständliche Liquidierung der grossen Ziegelei Koenig & Cie. im Glockenthal bei Thun.

Obwohl anfangs in Zeit und Mitteln sehr beschränkt, begannen die beiden jungen Brüder schon früh — anfangs der 70er Jahre — Bergtouren zu unternehmen. F. von Tschudis « Thierleben der Alpenwelt », Geschenk eines Freundes der Familie, regte sie in hohem Grade an und begeisterte sie. Ebenso Schulreisen. Sie machten ihre alpine Lehrzeit im allgemeinen in der alten guten Weise. Anfangs wurden die Oberländer Vorberge, zunächst im Sommer und bald auch im Winter besucht. Dies stets über die Sonntage, wobei meist lange Nachtmärsche mit in Kauf genommen werden mussten. Es ergab sich dann ganz von selber, dass die Brüder und ihre Kameraden ( die Müller und Krebser von Thun, Abr. Ringier und Hermann Kümmerly von Bern, Ad. Rubin von Kiesen usw. ) nach und nach höher strebten, gewohnheitsgemäss ohne spezielle Führung. So bestiegen die Brüder und ihre Begleiter nebst anderen Gipfeln zum erstenmal ohne Führer die Wilde Frau ( 1877 ), das Mittaghorn ( 1878 ), den Eiger und das Blümlisalphorn ( 1878 ), den Bietschhorn-Nordgipfel ( 1882 ), das Tschingelhorn ( 1882 ), das Schreckhorn ( 1883 ), das Rinderhorn ( 1884 ) und das Gspaltenhorn ( 1885 ), den Tödi ( 1886 ), das Doldenhorn ( 1887 ). Ferner erfolgten von ihrer Seite in den 70er Jahren und später die ebenfalls erste führerlose Besteigung des Studerhorns, Oberaarhorns und Fleckistocks, der Weissen Frau und des Silberhorns. Ebenso in der Folge und in gleicher Weise eine Reihe von Gipfeln im Wallis, in den grajischen und französischen Alpen. Es war in der Zeit, als die Pilkington-Gardiner, die Purtscheller-Zsigmondy, die Brüder Puiseux, die Fiorio-Ratti und ihre Freunde ihre bekannten führerlosen Unternehmungen ins Werk setzten. Das Schweizer Kontingent, dem auch die Genfer Gebrüder Thury, S. Miney, A. Brun und ihre Kameraden beizuzählen sind, entwickelte sich ganz unabhängig von jenen Ausländern, deren Taten ihnen zumeist erst nachträglich bekannt wurden. Das selbständige Gehen lag in der Luft, musste entwicklungsgemäss kommen und wurde nach und nach bei der jungen Generation zur Regel. Selbständigkeitsdrang und nicht zuletzt die teuren Führertaxen lagen ihm zugrunde. Notwendig war — und ist noch jetzt — dass eine progressive Lehrzeit dem Angehen der grossen Gipfel vorausgehe. Aber einige schwierige Klettereien unter guter Begleitung resp. Führung berechtigen die männliche Die Alpen - 1948 - Les Alpes26 und weibliche Jugend noch jetzt keineswegs dazu, sich als Kenner der Berge und ihrer Gefahren zu gerieren und sogleich Unvernünftiges zu unternehmen.

P. M. hat im ganzen, gemäss seinen Notizen, über 600 Gipfel von 2000 bis 2600 m ü. M. und viele höhere, verteilt über das ganze Alpengebiet, erstiegen. Dabei sind über 40 Gipfel über 4000 m. Er war nicht « Sammler von Viertausendern » und wählte die Berge, die ihn anzogen, auch wenn sie jene Höhe nicht erreichten. Seine Berggenossen waren zunächst sein Bruder und die Vorerwähnten. Sodann in der Regel seine Frau, eine sehr gute, sichere und ausdauernde Bergsteigerin. Dann auch spätere Freunde und Begleiter, wie sein Schwager René Koenig, Adolf Bernoulli, Henri Rieckel, Dr. Robert und Max von Wyss, Albert Weber, Carl Seelig, Frédéric Montandon, Dr. E. Farner, der Maler E. Platz, Ch. Simon, Otto Fahrni, Dr. Ch. Jeanneret, K. Knecht, J. Wipf, W. Schaedelin, Otto Koenig.

An Erstbesteigungen und neuen Wegen erwähnt P. M.s gedruckte Liste ca. 50 über 3000 m und 20 niedrigere. Die Grosszahl dieser Neutouren spielte sich ab in der Grimsel-, Urbach- und Oberaarregion sowie in jenen einsamen Tälern südlich des Bietschhorns, dem Jjolli, dem Bietschi und dem Baltschieder. In diesen wilden Felsgebieten war es trotz Fellenbergs und Gallets Erfolgen doch noch möglich, sich in kleineren, aber sehr ergötzlichen Forschungsreisen zu ergehen und viel Neues zu finden. P. M.s höchste Erstersteigungen sind das Fiescher Gabelhorn, 3876 m, der Weiss Nollen, 3609 m, das Hugihorn, 3632 m, das höchste Kleine Lauteraarhorn, 3742 m ( Traverse ), die Lauteraar Rothörner, 3485 und 3478 m, die vier Baltschiederhörner, 3200 bis 3550 m, die Bietschhorn-Südostschulter, 3535 m, die östliche Aiguille de Mourti, 3570 m. Ferner das Grosse Gelmerhorn, der Galenstock-Nordost-gfat, der Südostgrat ( im Abstieg ) des südlichen Baltschieder Jägihorns, der Sirac auf neuem Weg und andere mehr. Seine « beste Woche » war wohl im August 1898, als ihm, meist einzig mit Robert von Wyss ( welcher leider 1907 an der Aiguille Méridionale d' Arves verunglückte ), in fünf Tagen Matterhorn-Traverse, Dent Blanche ( bei Hochgewitter ), Obergabelhorn und Zinalrothorn gelangen, diesen letzteren Gipfel in Begleit von Dr. H. Lorenz von Wagner. Anstrengendere Touren waren unter anderen anno 1878 der Eiger von Interlaken aus hin und zurück zu Fuss von Samstag abend bis Montag früh —, der Mönch mit Nachtaufstieg von Grindelwald aus —, das Gspaltenhorn über die Roten Zähne, eine grossartige Tour, die eigentümlicherweise bis 1935 erst viermal unternommen wurde. Nicht zu vergessen ein Abstieg in tiefem Neuschnee von der südlichen Matterhornhütte zum Col du Lion, ein gefährlicher Gang unter diesen Umständen, und ein ähnlicher vom Weisshorn.

Die beiden Brüder Montandon waren mit unter den ersten, die Winterbesteigungen ( damals noch ohne Ski ) von Hochgipfeln ausführten: Alteis, Balmhorn, Blümlisalp usw. P. M., der ältere der beiden, praktizierte schon früh, anfangs der 90er Jahre, den Skisport, damals einige Preise einheimsend. An hohen Gipfeln, denen er und seine Freunde Dr. Ch. Simon und René Koenig auf Skiern nahten, sind unter anderen die Aiguille du Chardonnet, 3822 m, zu nennen, ferner das Grosse Fiescherhorn, 4049 m, das Mittaghorn, 3895 m, und die Ebnefluh, 3964 m —, diese vor Eröffnung der Jungfraubahn.

P. M. und seine Begleiter waren auch die ersten, welche die berühmten Skiabfahrten vom Rinderberggrat und vom Simmentaler Niederhorn ins Werk setzten. In all diesen Jahren begleitete ihn die treue Kamera, anfangs mit Platten und im Format von. 13 x 18 cm, später 9 x 12 cm.

Wie aus der erwähnten Druckliste ersichtlich ist, hat P. M. im Laufe der Jahre eine grosse Anzahl Berichte und Aufsätze alpinen Inhalts veröffentlicht. Die meisten sind in deutscher Sprache geschrieben ( « Alpina », « Jahrbuch S.A.C. », « Die Alpen », « Österr. Alpenzeitung », grössere Beiträge zu Dübis Hochalpenführern, « Bund », « Oberländer Tagblatt » usw. ), andere französisch ( « Echo des Alpes ».«Psicologia dell'Alpinista » von Hess usw. ) und einige englisch ( im « Alpine Journal » und « British Ski Year Book » ). Er beherrschte Deutsch, Französisch, Englisch, zum Teil auch das Italienische und Spanische. An grösseren Werken, die er verfasste, sind einzig zu nennen das handliche zwei-stimmige « C. Liederbuch » 1921 und die Denkschrift « Die ersten 50 Jahre der Sektion Blümlisalp S. A„ C. » 1924. In letzterer Schrift kamen auch seine Ideen und Wünsche, die Entwicklung und Zukunft des Alpinismus betreffend, einigermassen zum Ausdruck.

Obwohl an führerloses Gehen gewöhnt und es stark bevorzugend, machte er doch Ausnahmen. Seine erste Gletschertour, das Wildhorn ( 1876 ), wurde von ihm und seinem Bruder mit Führer unternommen. Im Jahre 1895 bereiste er mit seiner Frau während drei Wochen die Dolomiten, wo sie elf grösstenteils schwierige Gipfel bestiegen, meist unter Führung von Sepp Innerkofler, jenes sympathischsten aller Führer, und von Gius. Zecchini. Darunter waren Grohmannspitze ( Nordostweg ), Winklerturm, Sass Maor und Madonna ( beide tra versiert; Abstieg via Winklerkamin ). Wenn er sonstwie mit seiner Frau allein reiste, begleitete sie gewöhnlich der Klein-Hotelier Anatole Pellaud von Martigny als Träger. In späteren Jahren war es besonders Josef Knubel, mit dem er in den Chamonix-Aiguilles und auch in Zermatt Nachlese hielt. Gewohnt, nach alter Väter Sitte den besten Weg auf einen Gipfel zu suchen und nicht den schlechtesten, verlegte sich P. M. nicht darauf, der jüngsten, extremen Entwicklung zu folgen und allzu riskierte Unternehmungen ins Werk zu setzen. Man kann sich auch ohne solche genügend in den Bergen ausleben. Wie jeder seriöse Bergsteiger, hatte er den grössten Respekt vor ihren Gefahren, und Leichtsinn war nicht seine Sache. Im übrigen fühlte er sich nie vollständiger in seinem Element, als wenn er in schwierigen Lagen die volle Verantwortung einer Expedition zu tragen hatte. In früheren Jahren verteidigte er mehr als einmal in Wort und Schrift die Sache des führerlosen Gehens gegen unkundige Kritik. Andererseits verstieg er sich nicht zur Behauptung von Unfehlbarkeit. Aus grösstenteils eigener Schuld ( wie er sagte ) fiel er einst als Vorangeher am Seil fünf Meter tief in eine riesige Spalte des Tribolazionegletschers, welche die Gesellschaft am gleichen Morgen in voller Sicherheit überschritten hatte. Ein anderes Mal verletzte er sich in bedeutendem Masse eine Hand durch Unachtsamkeit auf dem gewöhnlichen Abstiegsweg vom Col du Géant nach Courmayeur. Zweimal war er einer fatalen Katastrophe nahe und trug durch Schuld von Begleitern starke Verletzungen davon. Es blieb ihm eine Verkürzung und Steifheit des rechten Armes, die ihn aber in der Folge nicht erheblich behinderten. Ohne andere Hilfe zog er einst einen unvorsichtig gehenden Touristen aus einer elf Meter tiefen Spalte ans Tageslicht. Bei einem weiteren Anlass hielt er von hoch oben her an einer Felswand am Seil drei Begleiter, von denen einer ausgeglitten war und die anderen nachgerissen hatte, vom endgültigen Fall zurück. Dabei wurde das Seil nicht über einen Felsvorsprung gelegt und blieb, von seinem elastischen Körper gehalten, daher intakt. Biwaks fochten ihn wenig an. So sprach er stets mit Vergnügen von einem solchen in der Silbernlücke, einem anderen in den Büttlassenfelsen ob dem Sefinental gegenüber der Jungfrau ( beides gewollte ) und einem solchen am Petit Dru ( bei dem Tee auf einer Laterne « gekocht » wurde ). Ein anderes Freilager, 4000 m hoch am Weisshorngrat ( mit seinem Bruder und René Koenig ), scheint weniger vergnüglich gewesen zu sein, da der Platz äusserst beschränkt war und es — wenn auch ohne Wind — während der ganzen Nacht schneite. Nach derartig strengen Nächten ist doppelte Vorsicht nötig, denn man ist nicht mehr ganz normal. Spezielles Interesse bereitete es ihm, in schwierigen Gletscherbrüchen den besten Weg durchzufinden.

Im Alter suchte ihn Arthritis deformans heim, während einiger Zeit in einem Masse, dass er trotz mehreren Kuren keine fünf Minuten weit gehen konnte. Die Widerstandskräfte seines guten Organismus errangen aber schliesslich die Oberhand, und als 75jähriger, anno 1934, und nach einigem Training, bestieg er noch, an Hand von zwei Stöcken, mit seiner getreuen Begleiterin die Suldenspitze, 3383 m, und den 3774 m hohen Cevedale. Die Nachwirkung war eine nur gute. Mit 79 Jahren ging er noch auf die Fründenhornhütte, mit 80 Jahren vom Brienzer Rothorn zum Brünig und auf die Spi da Maisas, und mit 82 Jahren noch auf die Torrentalp und die Illhorn-Klubhütte.

P. M. hätte den Stoff gehabt zu einem Forschungsreisenden in entlegene Berggebiete, wenn ihm dazu rechtzeitig die Mittel zu Gebote gestanden hätten. Alle fernen Expeditionen, der Himalaya im besonderen, interessierten ihn in hohem Grade. Musik, Kunst, Literatur waren ihm immer Bedürfnis. Zahlreichen Reisen mit seiner gleichgesinnten Frau nach Italien, Spanien, Frankreich, Korsika, Algerien und Ägypten usw. verdankten sie Genüsse hoher Art. P. M. besass früher unter anderem eine Anzahl Daumierscher Lithographien. Leider hat dieser ganz grosse Zeichner und Maler die Landschaft kaum gekannt ( seine wenigen landschaftlichen Blätter sind grossartig in ihrer Einfachheit ) und die Berge nie zu Gesicht bekommen.

Abgesehen von zahlreichen Schweizer Gleichgesinnten — wie besonders Dr. Dübi, Ch. Simon und jüngeren — stand P. M. speziell mit einigen englischen Alpinisten in reger Verbindung. So seinerzeit mit Captain Farrar, dem kraftvollen Freunde unserer jungen und alten Garde, dem P. M. in den « Alpen » den Nachruf schrieb; mit H. F. Montagnier, Geoffrey Wintrop Young, mit Col. Strutt, dem früheren Redaktor und Präsidenten des A. C, und während langer Jahre mit Sydney Spencer, dem früheren Sekretär und sodann Vizepräsidenten des genannten Vereins. Auch mit dem Lumen alpinae, Rev. Coolidge, dem streitbaren Gelehrten in Grindelwald, hatte P. M. öfters friedlichen und interessanten Verkehr, ebenso mit dem Advokaten Henri Ferrand von Grenoble, mit Otto Zsigmondy und Purtscheller, von Freriks, Dr. Kugy, Ernst Platz, A. W. von Eaghen und de Bruyn vom Holländischen Alpen club usw. Seine jungen, unternehmenden Freunde erwiesen P. M., dem « Vater der Schweizer Führerlosen », wie sie ihn scherzend nannten, viel Zuneigung und Freundlichkeit. Desgleichen seine älteren Kollegen. Es wurde ihm seinerzeit, nach Aarau, das Präsidium des S.A.C. angetragen, welches Ehrenamt er aber nicht annahm. Es war überhaupt gegen seine Natur, sich vorzudrängen. Dies auch nicht im öffentlichen Leben, wenn er auch prinzipiell keine Abstimmung versäumte; manche grössere Tour hat er deshalb als selbstverständlich unterlassen oder verschoben. Im Grunde scheuer und zurückgezogener Natur hatte er zeitlebens mit Gemütsdepressionen zu kämpfen, die seine Tatkraft zum Teil lähmten und ihn nur bei der Arbeit und in seinen lieben Bergen verliessen. Diesen blieb er bis zum letzten Tage treu und war ihnen dankbar für die Befriedigung und den Trost, welche sie seiner Seele brachten.

Abschied Gehen wir noch zu einem Besuch in sein Haus im Glockenthal, wo er während 56 Jahren gelebt hat. Wir betreten ein einstöckiges Fachbauern-häuschen in kleinem, gepflegtem Garten mit Blick auf das Stockhorn. Hier hat er seine Bergkameraden und Freunde aus aller Welt empfangen und sich in aller Länder Sprachen mit seinen Gästen unterhalten. In gemütlicher Atmosphäre wusste seine Frau mit ihrer vorzüglichen elsässischen Küche aufzuwarten. Es gab herrliche Weine, urchigen Käse, aromatischen Kaffee und gute Zigarren. Diese irdischen Genüsse beschwingten die Gespräche über Berge, Kunst und Wissenschaft. Hie und da setzte er sich selbst ans Klavier und zeigte den ihm Vertrauten auch seine Schätze und Bergphotographien, die er in Erinnerung eigener Erlebnisse erklärte und verklärte. Er gab Einblick in seine Bibliothek, die auserlesene Stücke der gesamten Literatur verschiedener Sprachen enthielt, oder er nahm seine Lithographiensammlung von Daumier hervor und ergötzte seine Gäste mit den Kunstblättern dieses Satirikers und Karikaturisten menschlicher Schwächen, wobei es niemandem entgehen konnte, dass Schalkheit und ironische Selbstkritik zum Wesen P. M.s gehörten. Mit seinen Möbeln, Bildern und Kunstsachen umgab ihn seine eigene Welt, die in unverkennbarer Beziehung zu seinem reichen Innenleben stand. Aber er vermittelte auch seinen Freunden das Wesen hoher Kultur. Er war aufgeschlossen für jede Anregung menschlicher, geistiger und künstlerischer Bereicherung. Obschon Kaufmann von Beruf, aber ohne jede geschäftliche Ader, blieb sein ganzes Sinnen auf die ideellen Werte des Lebens gerichtet.

Wir schreiten zum Ausgang — da fällt uns der Wandspruch auf: « Die jetzige Stund und das zeitliche Glück Flucht'hin in einem Augenblick. » So sehr man sich eben noch durch seine lebendige Umgebung mit ihm verbunden gefühlt hat, wird es einem doch bewusst, dass dieses « zeitliche Glück » für uns versunken ist. Noch vor Jahresfrist, als ich ihm bei Anlass des 45. Un- glückstages von Paul Koenig geschrieben hatte, antwortete er: « Ich weiss nicht, was das grössere Unglück für einen Menschen ist, früh sterben zu müssen oder alt zu werden und nicht sterben zu können. » Seine letzten Lebensjahre waren schwer; er war kinderlos, hatte seine Frau verloren und war ständig zum Liegen verurteilt. Aber er trug sein Schicksal stillschweigend und stolz und wollte nicht bemitleidet werden. Der Tod ging schliesslich als Erlöser durch die Räume; er hat den letzten Spross dieser Familie dahingerafft. Tiefe Stille und Leere herrscht im Haus. Irgendwie bin ich an das Bild Albert Weltis erinnert worden vom « Auszug der Penaten » mit dem Spruch:

Mit dem Toten ziehen Geister aus, Die im Leben ihm den Becher reichten. Öd und leer wird nun das Haus, Ohne Glanz und Leuchten.

Für uns Schweizer Bergsteiger aber behält seinen Glanz und sein Leuchten, denn wir bewahren diesem aufrechten Mann ein dankbares Gedenken.

Zürich, August 1948.Dr. H. Koenig-Rütschi, Sektionen Bern und Uto, Ehrenmitglied des S.A.C.

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