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Jungfrau 1867. Über die Nordseite

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Über die Nordseite.

Es war dem Jahre 1867 vorbehalten, einen meiner sehnlichsten Wünsche auf bergsteigerischem Gebiete zu erfüllen und endlich an einem unserer Bernerriesen für viel erlittene Unbill und Schmach süsse und vollständige Rache zu nehmen. Die strahlende Jungfrau hatte uns schon im Jahre 1866 einen abweisenden Wink gegeben und wurde die Ursache, dass wir uns damals aus Ärger dem Eiger zuwandten. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hatte ich nach jedem, teils durch die Witterung, teils durch den Zustand der Brüche am Guggigletscher vereitelten Ersteigungsversuch gedacht, und als ich am 10. August 1867 in Grindelwald anlangte, tauchte beinahe wider meinen Willen wiederum die verwünschte Idee auf: Könntest du nicht von hier aus in das Lötschental gelangen und so nebenbei die Jungfrau mitnehmen? Allerdings war seit unserer letzten Guggigletscherwallfahrt das Problem der Jungfraubesteigung von der Nordseite aus den 29. August 1865 durch H. B. George und George Young vom englischen Alpenklub unter Anführung Christian Almers und Hans Baumanns gelöst worden, was jedoch für mich kein Grund war, nicht noch einmal mein Glück zu versuchen und die erste schweizerische Besteigung von dieser Seite aus auszuführen.

Die Idee wurde stärker als ich, und da ein herrlicher, wolkenloser Himmel bei leichtem Südostwind dazu seinen Segen geben zu wollen schien, wurden in aller Stille die Gletschermannen Peter Michel, Peter Egger und Schlegel aufgeboten. Und unter dem Vorwand, wir beabsichtigen auf dem kürzesten Wege das Eggishorn oder den Faulberg zu erreichen, trafen wir in aller Stille die nötigen Vorbereitungen.

In der Kühle eines herrlichen Sommerabends wandelten wir gelassen der Wengernscheideck zu. Peter Schlegel und ein Träger namens Michel waren vorangegangen, um für mich bei Eimer Quartier zu bestellen und droben Nahrung auf zwei Tage zu fassen. Wie oft war ich schon diese Wengernalp in gleicher Absicht hinaufgebummelt! Wie oft kleinmütig und enttäuscht, wie oft mit siegreicher Fröhlichkeit denselben Weg talzu geranntNach neun Uhr kamen wir bei Eimer an und wurden auf gewohnte, herzliche Art bewillkommt. « Söll's würklich no einisch sy? » fragte verwundert und besorgt die freundliche Wirtin. « More und übermore, so Gott will, zum letschde-mal! » war die Antwort.

Der 13. August stieg wolkenlos herauf. Da wir an diesem Tag nur in die Schneehornfelsen zu gelangen gedachten, hatten wir mit dem Abmarsch keine besondere Eile. Es war acht Uhr, als wir von unsern Freunden auf Scheidegg Bemerkung: Diese Erzählung stammt vom hervorragendsten Pionier der Berneralpen, von Edmund v. Fellenberg. Sie ist in etwas erweiterter Form im S.A.C.J.ahrbuch 1869 erschienen. Eine Buchausgabe der alpinen Schriften Fellenbergs ist in Vorbereitung. E.J.

25 Abschied nahmen und langsam über die blumigen Weiden dem blinkenden Guggi zuschlenderten.

Am Rande des Guggigletschers unter den Mönchfelsen nahmen wir eine ältere Leiter zur Hand, welche von einer Überschreitung des Jungfraujoches vom Eggishorn her hier war, und übergaben sie dem trefflichen Träger Michel zur Besorgung. Auf die Höhe des Gletschers hatten wir eine ziemliche Anzahl Stufen zu hacken. Der Gletscher selbst war, wie im Spätsommer immer, sehr zerschrundet, aber doch im ganzen gut zu begehen. Die Leiter half uns über die breiteren Spalten weg, so dass wir gegen Mittag schon am Fusse des grossen Eisbruchs standen. Der Bruch selbst zeigte, wie immer, ein phantastisches Gewirre von mächtigen Eiswänden, Klüften und sturzdrohenden, würfelförmigen Klötzen. Besonders ein wohl gegen achtzig Fuss hoher, ziemlich runder Eisturm zog unsere Aufmerksamkeit mehr als alles andere auf sich, da unser Weg dicht an ihm vorbeiführen musste. Wir mussten diesmal* ) ziemlich links halten gegen eine unter dem obern Bruch hervortretende, nackte Kalksteinplatte, von welcher aus wir durch einen Schrund ein gutes Stück in den Eisbruch hinein gerieten, ohne viel Hackarbeit zu haben. Erst am Fusse dieses mächtigen Eisturmes, welcher eben diesem Schrunde entstieg, fing das Stufenhauen an, und wohl gegen drei Viertelstunden dauerte es, bis wir wendeltreppenartig um den Turm herum die Höhe des Absturzes gewannen. Nun standen wir vor den zwei bekannten grossen Schrunden, welche den ganzen Gletscher durchziehen und deren oberer mit seiner überhängenden blauen Eiswand schon mehreren Bergsteigern sein « Bis hierher und nicht weiter! » zugerufen hat. Der untere Schrund gab uns ordentlich zu tun, Seil und Leiter mussten gebraucht werden. Der obere, grosse Schrund jedoch war diesmal ganz leicht, da ihn eine vom Jungfraujoch wahrscheinlich kurz vorher heruntergekommene Eislawine beinahe ganz aufgefüllt hatte. Hier liessen wir an sicherm Ort die Leiter stehen, deren wir nun nicht mehr bedurften, und um drei Uhr nachmittags hielten wir auf der kleinen Talebene über dem grossen Guggischrund unser einfaches, durch herrliches Wetter und fröhlichste Stimmung gewürztes Mittagsmahl.

Der Aufstieg zu den Schneehornfelsen verlief rasch. Wir mussten auf dem etwas zerbröckelten Gneis des Schneehorns ziemlich lange suchen, bis wir an dem steilen Felsabsturze einen einigermassen ebenen Platz zum Übernachten ausfindig gemacht hatten, und als wir die beste Stelle gefunden zu haben glaubten, fingen meine Mannen unverdrossen an, den Platz durch Wegräumen von Steinen, Auf pickein alten Eises und Schnees zur Aufstellung des Zeltes dienlich zu machen. Ein Pickel wurde in eine Ritze eines überragenden Felskopfes getrieben, und daran banden die Führer das Zelt. Glücklicherweise, wie wir gleich sehen werden. Nach dem Mahle rauchten wir gemütlich ein Pfeifchen. Noch fanden wir, wir hätten noch nie eine so angenehme Beiwacht gehabt bei so ruhiger, verhältnismässig warmer Luft; noch dehnten wir uns zum tiefen Schlafe aus, als ein Ereignis eintrat, an das ich ohne Schaudern nie zurückdenken kann.

Mitternacht war vorbei. Wir hatten alle schon eine Weile des sanften Schlummers genossen, als ich, um mich auf eine andere Seite zu wenden, die Beine zum Zelt hinausstreckte und mich unwillkürlich an einen festen Körper stemmte. Plötzlich gibt dieser feste Körper nach, die Erde unter mir erzittert — ein Geräusch, Gepolter, dann ein donnerähnliches Krachen von nachstürzenden Steinen, das dumpfe Dröhnen einer SteinlawineUnser Zelt und der Boden unter uns zittert. Atemlos kriechen wir hinaus. « Herr Jeses, Herr Jeses, was het 's gäh? » rufen Michel und Egger aus, « Schlegel, Michel, wo syd er? » — Mit leiser, bebender Stimme rufen beide: « Mer sy gottlob no da, aber gheie gwüss bald alii z'Tod! » — Wie wir spähten, es war Sternenzwielicht, blickten wir unmittelbar vor der Zeltöffnung in den Abgrund, in eine neu geöffnete Runse, in welche immer noch Steine nachstürzten, jenseits am Felsen klebend Schlegel und der Träger Michel, aufrecht, mit zitternden Beinen und schlotternden Knien. Vom aufrecht stehenden Block, der uns gegen den Abgrund schützen sollte, von unsern Pickeln, dem Räf, den Hüten, dem Proviant — nichts mehrDas war alles zur Tiefe gefahren, und noch hörte man das Rollen nachgerissener Steine und Schneemassen. Schnell reichte Egger den in Lebensgefahr Schwebenden über die Runse den Arm und riss sie zu uns herüber. Das Zelt brachen wir ab und drückten uns fest umschlungen so nahe an den Felsen als möglich. Denn wer konnte uns dafür bürgen, dass unserer Lagerstätte nicht auch der Halt benommen sei, und wir unserer Habe nachstürzen müssten? Nach einer viertelstündigen Pause, in der wir uns von unserm jähen Schreck allmählich erholten ( denn anfangs klapperten allen die Beine ), erklärte Peter Michel, des Bleibens sei an dieser Stelle nicht. Nachdem wir Zelt und Plaid aufgerollt hatten, zogen wir dem Felsen entlang etwas weiter nördlich und kauerten nieder, jeder, wo er etwas Platz finden konnte. Wäre das Seil nicht mit hinuntergestürzt, so hätten wir uns hier angebunden; denn keiner konnte recht sitzen, und stehend einzuschlafen war auch zu gewagt. So verbrachten wir den Rest der bangen und langen Nacht, mit dem Chlupf im Magen und in der Ungewissheit, ob wir bei dem Mangel an aller Ausrüstung die Reise würden fortsetzen können, frierend und weder sitzend noch stehend, ohne Schlaf und Ruhe.

Endlich, endlich wurde es Tag, und wir kehrten zu der unglücklichen Biwakstelle zurück. Erst jetzt erkannten wir die Grosse der Gefahr, in der wir geschwebt hatten. Ich hatte offenbar durch mein Anstemmen den grossen Felsblock, der besonders den Träger und Schlegel gegen den Abgrund schützen sollte, losgemacht, und alles darüberliegende lockere Material war nachgestürzt. Schlegel und Michel hatten sich noch rechtzeitig an den festen Felsen anklammern können, sonst wären sie unfehlbar nachgestürzt. Wäre nun gar, wie wir anfangs zu tun im Sinne hatten, unser Zelt am besagten Felsen befestigt gewesen, so wären wir, wie in einen Sack eingewickelt, nachgerissen worden, und diese Zeilen würden ungeschrieben geblieben sein. Zu unsrer nicht geringen Freude sahen wir nun, dass die Unterlage des Zeltes doch noch fester Fels war, so dass wir uns dort wieder lagerten, während Egger und Schlegel der hinuntergestürzten Ausrüstung bis auf den Gletscher nachgingen. Da die Kochmaschine nicht zu Fall gekommen war, so konnten wir uns unterdessen die sehr notwendige Erwärmung bereiten und getrost abwarten, was uns die beiden aus der Tiefe wieder heraufbringen würden. Es dauerte über eine Stunde, bis sie zurückkamen, und ihrem fröhlichen Jauchzen nach hatten sie gute Ausbeute gemacht. Und in der Tat war das meiste wieder aufgefunden worden. Das kleine leichte Räf des Trägers Michel war unten auf dem Gletscher zuoberst auf dem Lawinenschnee beinahe unversehrt gelandet; einen Habersack mit Proviant hatten sie auf einem Fluhsatz gefunden; ebenso waren die Filzhüte der geehrten Gesellschaft hier und dort auf Felsen herumgelegen. Mein Bergstock stak ganz unversehrt unten im Lauischnee. Eine zylindrische Blechbüchse mit Zeichnungspapier wurde ziemlich zerquetscht am Fusse der Felswand aufgefunden. Von drei hinuntergestürzten Pickeln waren zwei noch heil, der dritte gänzlich zerbrochen; mein Plaidriemen war in mehrere Stücke zerschnitten, und von meinen geologischen Hämmern, welche in einem Futteral von Leder aufbewahrt waren, fand sich nur noch einer weit draussen auf dem Gletscher; die beiden andern samt Futteral waren verschwunden. Zum Glück war der Blechkessel mit Wein bei der Kochmaschine geblieben und nicht zu Fall gekommen. Leider fehlten die Gletscherbrillen Peter Michels und ein Paar Überstrümpfe. Aber Seil und Gurt waren wieder da.

Hatten wir nun unsere Ausrüstung so ziemlich wieder beisammen, so waren wir natürlich zur Weiterfahrt entschlossen. Nach rasch eingenommenem Frühstück, bei welchem sich der erschrockene Magen nicht recht freudig beteiligen wollte, sandte ich Schlegel und den Träger Michel mit dem Zelt und der überflüssigen Ausrüstung zurück, da ich ihrer nicht mehr bedurfte.

Peter Michel, Egger und ich brachen am Morgen 6 Uhr 15 bei wolkenlosem Himmel auf, und diesmal galt es der Jungfrau!

Ohne Schwierigkeit erreichten wir Kamm und Gipfel des Schneehorns, 3415 m, dann die schöne Mulde oder das untere Hochtälchen am Fusse der Jungfrauwand, den Schoss des Giessengletschers. Der Gang über den gefrorenen Schnee, der wie Millionen von Diamanten glitzerte, war eine wahre Götterlust. Auch der Bruch beim Kleinsilberhorn gab nicht viel zu schaffen, da er noch tief eingeschneit war, und so wurde die stille Silbermulde rasch durchschritten, die kleine Eiswand mit Stufen erklommen, und um halb neun Uhr standen wir auf der Silberlücke, unseligen Angedenkensund fanden, noch im Schnee eingesteckt, einen Holzsparren, der seinerzeit berufen gewesen war, Fahnenträger zu werden. Hier wurde angesichts des erschütternden Blicks in die grausigen Tiefen des Rottales, welches tausend Meter tief zu unsern Füssen dämmerte, gerastet. Dann griffen wir mit gehobenem Mut den Grat an. Mir war, als brenne der Boden unter meinen Füssen, so drängte es mich, von der verwünschten Silberlücke wegzukommen.

Der Grat, der das Silberhorn mit der eigentlichen Jungfrau verbindet und die Silbermulde auf der westlichen Seite einschliesst, erhebt sich gleich über der Silberlücke in steilen, gerundeten, jedoch ganz festen Gneisfelsen. Gleich am Anfang setzte es während einer halben Stunde eine tüchtige Kletterei auf allen Vieren ab. Weiter oben wird der Grat zerrissener und lockerer, und nur mit Vorsicht darf der Fuss aufgesetzt werden, um nicht Steine zu lösen, zugleich ist der Blick sowohl in die ungeheuren Tiefen des Rottales als über die jähen Eishänge nach der Silbermulde hinunter ziemlich schwindelerregend, und einem nicht ganz sichern Kopf ist eine so « lautere » Passage nicht zu empfehlen. Stellenweise musste der Grat rittlings genommen werden.

Nach einer starken Stunde angestrengter Kletterei wurde der Grat breiter, wir näherten uns dem wundervoll gewölbten, von den höchsten Spitzen der Riesin herunterkommenden Hochfirn, welcher nach dem Rottal hin in blauen Eiswänden plötzlich abbricht und mehreremal im Jahr die gefürchtete « Silberlaui » in das Silberlauitobel und bis auf Stufensteinalp hinunterschickt.

Um halbelf Uhr betraten wir den Hochfirn da, wo der Grat vom Silberhorn her rechtwinklig auf die Nordwand der vordem Jungfrau stösst und die gewaltigen Firnmassen unterteuft. Wir machten hier einen kleinen Halt und fingen an zu ahnen, was unser da oben auf der so nahe scheinenden höchsten Spitze wartete. Schon lag der Silberhorngipfel tief zu unsern Füssen und schaute sehr bescheiden zu uns herauf. Wir wandten uns nun südwestlich und überschritten den Hochfirn in ziemlicher Höhe über seinem Abbruch nach dem Rottal hin, nicht ohne Grausen in die bodenlosen Abgründe blickend. Wir mussten einen steil gewölbten Firnbuckel umgehen und hielten uns dicht am Fusse einer von mächtigen Firnmassen gekrönten Felswand. Da bogen wir nach Osten um und stiegen ohne alle Schwierigkeit den ziemlich steilen Hochfirn hinan, hie und da die immer grossartiger sich entwickelnde Aussicht geniessend. Allmählich nimmt die Steigung ab. Wir überschritten ein kleines Plateau, welches sich gratförmig und in einem Dreieck nach Norden etwas ausspitzt und zu einer hohen Gwächte erhebt, und standen um halb 12 Uhr auf dem vordem Gipfel der Jungfrau, dem Kulminationspunkt jener riesigen Wand, welche von Norden gesehen die Spitze eines gewaltigen Pentagons bildet. Dieser Gipfel ist eine nach Nord steil abgerissene Gwächte von gut fünfzehn Meter Länge und einem Meter Breite. Hier stand auch richtig das halb im Schnee begrabene Tanngrotzli der ersten Besteigung durch George und Young.

Wir lagerten uns im weichen Schnee und blickten hinauf zur höchsten Spitze, die scharf in das Dunkelblau des Himmels stiess, ein Felsgerüst, mit schmaler Gwächte gekrönt — als plötzlich der höchste Gipfel lebendig wurde. Zuerst kam ein schwarzer Punkt über dem Kamme zum Vorschein; der wurde grösser, Kopf, Leib, Beine — ein — zwei — drei — vier Mann. Kräftig wurde dort oben der Schnee weggeschlagen, dass er stäubend über die Fluhsätze heruntersprühte. Dann lagerte sich die ganze Gesellschaft, und in diesem Augenblick liessen wir einen lauten gemeinsamen Jauchzer erschallen, der sogleich von oben beantwortet wurde. Einer der Männer stand wieder auf, jauchzte, schwenkte das Taschentuch — wir antworteten. Michel fragte an, wer sie seien. Wir hörten die Antwort, konnten sie aber nicht verstehen. Dann machten wir die Geste des Zutrinkens, welche erwidert wurde. Noch einige Jauchzer, und der Gipfel wurde wieder frei. An uns war es nun, ihn auch zu betreten.

Wir brachen auf, überschritten den wagrechten Grat, das kleine Schneeplateau und stiegen nun bereits im weichen Firn gegen die höchsten Felsen hinan. Wir umgingen ihren Fuss bis da, wo der oberste Gipfelgrat nach dem Rottalsattel absinkt, überschritten einen kleinen Bergschrund, kletterten über leichte Gneisfelsen, betraten den schon betretenen Schneegrat, stiegen noch etwa fünfzehn Meter nach Osten an und standen genau 12 Uhr 30 auf dem höchsten Gipfel der Jungfrau!

Man wird mir die Beschreibung der Aussicht gerne erlassen, da diese von berufener Hand schon gegeben worden ist. Es genügt, zu sagen, dass die Luft warm war und so still, dass man eine Zigarre mit frei brennendem Hölzchen anzünden konnte. Der Himmel, so weit das Firmament reichte, wolkenlos...

Die entferntesten Gebirge, Gebilde, die dem sonnigen Italien über der Einsenkung der Binntaler- und Tessinerberge traumhaft entstiegen, trank das Auge. Die Schweizerebene und ihre Seen, der heimelige Jura, der Schwarzwald und die Vogesen: nichts, was da oben sichtbar ist, entging unserm wonnetrunkenen Blick. So schön hatte ich es bis jetzt nur auf dem Eiger getroffen.

Der Gipfel muss seit den Vierziger jähren sich sehr verändert haben; denn der ganze halbmondförmige Eiskamm, der nach Nordost ausbog, war verschwunden. Wir standen auf einer fünfzehn Fuss langen und zwei Fuss breiten Schneegwächte, deren Unterlage ringsherum Felsen ist. Ja, wir hatten das Glück, nach einigem Suchen das unversehrte Fläschchen mit der Notiz der Besteigung durch G. Studer und F. Bürki von Bern, vom 14. August des Jahres 1842 — also auf den Tag vor 25 Jahren —, zu finden, welches wir mit wahrer Ehrfucht wieder am selbigen Ort verwahrten!

1 Uhr 30 traten wir den Abstieg nach Süden an. Unsere Vorgänger hatten auf dem steilen Kamm nach dem Rottalsattel hinunter den schon sehr erweichten Schnee ganz weggetreten, so dass das blaue Eis zum Vorschein kam. Wir schlugen uns daher rechts in die Felsen, hart am Rande der entsetzlichen Abgründe des Rottals und stiegen bedächtig am stets straff gespannten Seil über die glatten, vom Schneewasser triefenden Gneisplatten. Äusserst langsam rückten wir vor; denn erst um vier Uhr gelangten wir auf den Sattel, übersprangen daselbst den Bergschrund, trollten über den weichen Jungfraufirn dem Faulberg zu und gelangten beim freundlichen Lichte des Monds sehr ermüdet 11 Uhr 15 nachts auf die Märjelenalp.

Edmund v. Fellenberg, 1838—1902.

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