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Kingspitz-Nordostwand direkt

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Michel Piola, Vernier

Die ca. 600 m hohe Nordostwand des Kingspitz ( Engelhörner, BO ) 9. September 1988, bei Tagesanbruch Dring... dring... Wie mühsam ist das Aufstehen noch vor dem Morgengrauen ( es ist 4.45 Uhr morgens ), vor allem, wenn man im warmen Bett zu Hause liegt und nicht in einer Hütte oder einem Biwak! Die Enge und Unbequemlichkeit eines solchen fördert naturgemäss einen ziemlich schnellen Wechsel in die Senkrechte. Und das gleiche gilt für den durch das bevorstehende Unternehmen ( Anmarschweg oder Klettertour ) ausgelösten Wunsch nach Bewegung. Ausserdem braucht man die Unannehmlichkeiten nicht allein zu ertragen! Dagegen fehlt zu Hause, wenn die ganze Stadt noch schläft, erschöpft von der Arbeit des Tages oder einem stürmischen Samstagabend, ein solcher Anreiz vollkommen.

Dring... dring... Diesmal muss ich reagieren; los, auf!

Schnell ziehe ich mich an, esse eine Schale Getreideflocken mit gutem Zitronensaft, nehme den am Vorabend sorgfältig gepackten Sack auf meinen noch vom Schlaf steifen Rücken und öffne die Tür: Alles scheint in Ordnung, einige blasse Sterne schimmern durch den üblichen Smog der Stadt; es wird heute schön werden. Bus, Bahnschalter, Ab-fahrtsgleis: ( Achtung, Achtung! Einfahrt des Intercity-Zuges von Genf/Aeroport nach Bern, Abfahrt 6.02 Uhr, Wagen 2. Klasse an der Spitze, Speisewagen in der Mitte, ...> Bequem in einem leeren Wagen installiert, sinne ich darüber nach, wie diese beiden Klettertage mit Daniel Anker, einem meiner getreuen Gefährten des Sommers, wohl sein werden. Mit Daniel, der mir am Telefon von seinem Wunsch erzählt hat, am Kingspitz, einem berühmten Gipfel in der Gruppe der Engelhörner, eine neue Route zu eröffnen. Da ich dieses Massiv in den Berner Alpen noch nicht kenne, kann ich mir nur ausmalen, was es wohl mit dieser fast 600 Meter hohen Kalkwand auf sich hat, die in einer Region liegt, in der es nur wenig Wände von dieser Art und Ausdehnung gibt ( natürlich abgesehen von der 1650 Meter hohen Eigernordwand ). Und wie wird die Qualität des Gesteins sein? Die von M. Lüthy, H. Haidegger und H. Steuri 1938 eröffnete klassische Route der Nordostwand geniesst einen besonderen Ruf: Im Führer ist von einem im ganzen guten Fels die Rede, dann wird aber präzisiert, dass es sich um eine dolomitenähnliche Wand handelt und darum gewisse Vorsichtsmassnahmen nötig sind, vor allem, wenn sich andere Seilschaften in der Route befinden. Zudem, und das wird unser Hauptproblem sein, werden wir uns beeilen müssen, denn Daniel wird morgen abend in Bern zurückerwartet. Das Rennen gegen die Uhr hat begonnen!

Schon Bern. Ein Heer von Arbeitern ergiesst sich aus den Wagen und verschwindet in der Tiefe des Bahnhofs. In dieser Menge, zwischen einer nach billigem Parfum duftenden Sekretärin und zwei sehr ( zu ?) dynamischen Kaderleuten, kann ich nicht anders, als mit meinem Rucksack in der von der Menge bestimmten Richtung zu treiben und dabei zu hoffen, das Gedränge möge ein wenig nachlassen und mir eine Chance geben, zu entwischen und Daniel zu treffen - aber wo eigentlich?

Mir bricht der Schweiss aus: Wir haben versäumt, einen Treffpunkt auszumachen! Was tun, damit wir uns in dieser Menschenflut finden?

Zum Glück wird der Menschenstrom langsam etwas dünner, das Vorankommen ein bisschen leichter, und ich habe gerade noch Zeit, ein Stück einer roten Hose und einen Trekkingschuh zu entdecken, die um eine Treppen-ecke verschwinden. Mit der Überlegung, dass der durchschnittliche Beschäftigte im Dienstleistungssektor im allgemeinen nicht solche Attribute hat, beginne ich eine wilde Verfolgungsjagd, die mich bald in die Nähe des fraglichen Schuhs bringt, neben dem netter-weise ein zweiter auftaucht, so dass sie ein Paar bilden. Diese beiden setzen sich, wie es sich gehört, nach oben in zwei Röhren fort, den Beinen, dann ein Körper, ein offenes und echtes Lächeln, zwei Arme, deren einer mir bereits herzlich die Hand schüttelt: Es ist wirklich Daniel!

Wir steigen in seinen kleinen Wagen, um den Ausgangspunkt unserer Unternehmung zu erreichen, den Parkplatz oberhalb Rosenlaui, kurz hinter Meiringen.

Zum Kingspitz Zuerst müssen wir das für unsere Besteigung notwendige Material auswählen, wobei einige wichtige Entscheidungen nötig werden.

Obgleich uns das Biwakieren im Freien viel Freude macht ( wir tun es so oft wie möglich ), entschliessen wir uns gleich zu Beginn, in der Hütte zu übernachten. Das erspart uns Gewicht, weil wir nur eine Nacht in den Bergen zubringen werden.

Anschliessend müssen wir uns entscheiden, welche Taktik wir für die Ausrüstung der Route wählen wollen: Sollen wir die Seillängen und Standplätze vollkommen mit Bohrhaken ausgerüstet lassen, wie man es im allgemeinen im Klettergarten macht? Oder sollen wir einen Mittelweg einschlagen, der darin besteht, nur die Standplätze ( zum Abseilen ) und jene kompakten Partien auszurüsten, bei denen eine Sicherung mit Klemmkeilen nicht möglich ist? Wir entscheiden uns für diese zweite Lösung, einerseits aus finanziellen Gründen, dann aber auch, weil wir meinen, es sei heutzutage wichtig, Kletterer zu grösserer Verantwortung im Gebirge zu veranlassen. Die Tatsache, die Klemmkeile selbst anbringen zu müssen, seine Route sowenig wie möglich auszurüsten und manchmal Rücksicht auf die direkte Umgebung zu nehmen, begünstigt, wie uns scheint, einen Reifeprozess beim Kletterer.

Diese sogenannte Technik der ( Minimalab-sicherung ) ist die im allgemeinen im Hochgebirge angewandte Methode, vor allem in Granitwänden, in denen die freiliegenden Risse eine verhältnismässig einfache Sicherung ermöglichen. Sie wird dagegen in Kalkwänden selten benutzt, weil sich einerseits diese Gesteinsart weniger gut eignet und andererseits der Einfluss der Klettergärten, wo die ganze Ausrüstung an Ort und Stelle vorhanden ist, sich dort entscheidend bemerkbar macht.

Mancher wird sich wundern, dass wir nach dem Gesagten nicht weniger als 58 Bohrhaken in der Route beliessen. Aber man muss diese Zahl im richtigen Verhältnis sehen. Nach Abzug der an den Standplätzen angebrachten Haken bleiben nur noch etwa dreissig Sicherungspunkte für die Seillängen, also im Schnitt drei Bohrhaken für jede.

Den Kletterer ( zur Verantwortlichkeit veranlassen ) soll aber nicht heissen, ihn in ein lebensgefährliches Unternehmen zu treiben oder zum Rollstuhl zu verurteilen. Ganz besondere Aufmerksamkeit muss in dieser Hinsicht dem Problem eines Sturzes auf den Boden und des möglichen Anpralls gegen eine Besonderheit im Gelände ( z.B. gegen eine Ver-schneidungswand oder von einem Überhang auf eine geneigte Platte ) gewidmet werden.

Schliesslich ein letztes, ethisches Problem: die Verwendung des batteriebetriebenen Bohrers. Für uns gibt es keinen Grund, sie in Frage zu stellen. Der einzige und schwere Verstoss gegen die sportliche Herausforderung ist die Eröffnung der Routen von oben ( vor allem im Gebirge ), ein Vorgehen, das die Ausrüstung von Routen erlaubt, deren Schwierigkeitsgrade der Autor nicht notwendigerweise beherrscht.

Nachdem diese Probleme gelöst sind, müssen wir nur noch unsere Lasten so ordnen, dass sie dem Aufnahmevermögen unserer Rucksäcke entsprechen, und dann mit munterem Schritt den herrlichen Weg zur Engelhornhütte in Angriff nehmen. Es ist 11 Uhr vormittags.

Ende des ersten Aktes Über die Kletterei selbst ist eigentlich wenig zu sagen, ausser dass wir am Anfang des Nachmittags die Besteigung des Sockels der klassischen Route von 1938 bis zum Beginn des ersten steilen Aufschwungs ( etwa 100 Meter über dem Wandfuss ) in Angriff nehmen. Nachdem wir dieser Route noch einige Seillängen gefolgt sind, um uns in dem Plat-tenlabyrinth zu orientieren, kehren wir auf die Höhe des Sockels zurück, um uns links einer markanten braunen Ader zuzuwenden, deren Fels etwas stärker strukturiert wirkt als die benachbarten schwärzlichen Platten.

Nachdem wir zweieinhalb Seillängen in diesem merkwürdigen Felsband geklettert sind, können wir uns nach rechts wenden, um den Anfang der zentralen Zone grauer Platten zu erreichen, eine grossartige kompakte Rutschbahn, die eine anhaltende, schwierige und technisch anspruchsvolle Kletterei verheisst.

Gleich darauf bestätigt sich diese Verheissung. Doch die auftretenden Gleichgewichts-und Adhäsionsprobleme können uns nicht daran hindern, Gedanken und Blicke über die Grate und Gipfel rings um uns schweifen zu lassen.

So bewundern wir mit Vergnügen zwei Seilschaften, die den Westpfeiler der Vorderspitze ersteigen. Es ist eine sehr schöne klassische Route des oberen vierten Schwierigkeitsgrades; die Form des Pfeilers hebt sich dank des Spiels von Licht und Schatten, in dem der Fels irisiert, verblüffend klar ab.

Wir selbst bleiben an unserer kalten Nordostwand im Schatten. Darum halten wir, als wir beschliessen, unser Material am fünften Standplatz zu deponieren, unsere Faserpelzjacken nicht für überflüssig. Danach kehren wir um, seilen uns ab in Richtung Hütte, wo wir kurz vor Einbruch der Nacht eintreffen.

Die Engelhornhütte besitzt noch den etwas altmodischen, aber so liebenswerten Reiz einer echten Berghütte, die von unmässigen Vergrösserungen und Modernisierung verschont geblieben ist. Der Bau hat bescheidene Ausmasse, die Schlafräume sind merkwürdig ineinandergeschachtelt, und die Küche bildet einen Teil des Aufenthaltsraumes, der dadurch eine gewisse gesellige Note erhält.

Die an der Waldgrenze erbaute Hütte weckt zusammen mit ihrer bukolischen Umgebung im Besucher ein schwer zu beschreibendes Gefühl, eine Art inneren Frieden und Heiterkeit, Garanten für Erholung und einen unvergleichlichen Schlaf. Wir beeilen uns, das zu beweisen!

Samstag, 10. September 1988: zweiter Akt Während wir am Vorabend allein in der Wand waren, gibt es heute mehr als zehn Seilschaften, Anwärter auf die klassische Route. Das bestärkt uns in unserem Entschluss, den Heim zu tragen. Wir sind besonders froh über ihn, als ein zischendes Geräusch herunterkommende Steine ankündigt; aber die zum Glück bemerkenswerte Seltenheit herunterregnenden Gerölls verdient es, die Korrektheit und Meisterschaft der uns benachbarten Seilschaften zu betonen.

Im Plattenpanzer der Kingspitz-Nordostwand Im Augenblick, als wir unser Materialdepot erreichen, kommen wir in den Genuss der einzigen, allerdings nur kurzen sonnigen Phase des Tages. Wir nehmen die Fortsetzung unserer Route in Angriff, an unserem achten Stand kreuzen wir die klassische Route von 1938. Es sei noch bemerkt, dass wir an Stand 5 und Stand 7 zu unserer Überraschung uns unbekannte alte Reihen von Haken und Bohrhaken gekreuzt haben, zwei einstige Routenführungen, die sich offensichtlich zu unserer Linken fortsetzen.

Der zweite Teil unserer Route, oberhalb von Stand 8, erfordert bald grössere Vorsicht wegen der Qualität des Gesteins, dies um so mehr, als wir jetzt oberhalb der in der klassischen Route kletternden Seilschaften sind.

Eine letzte Verschneidung, eine letzte abdrängende Stelle, und wir sind wieder in der Nähe der klassischen Route, am Ende der Schwierigkeiten und wenig unterhalb des Gipfels. Dort erleben wir die Überraschung - sie ist gegenseitig -, unsern Freund Kaspar Ochsner zu treffen, den grossen Spezialisten dieser Region ( Kaspar hat zahlreiche, sehr schöne Routen gerade gegenüber, am Simelistock, eröffnet ).

Unsere Zeit geht zu Ende, wir können den Gipfel heute nicht mehr erreichen. Darum beginnen wir nach einer letzten, mit der klassischen Route von 1938 zusammenfallenden Seillänge - zur Beruhigung meines Gewissens -, uns abzuseilen. Wir erreichen das Tal in Rekordzeit. Vergebene Mühe: Wenn Daniel sein schönes Bern erreicht, wird das Nachtessen kalt sein und die Tischgesellschaft etwas enttäuscht. Mir bleiben dann noch einige Stunden Bahn und Bus, ehe ich wieder in das schöne weiche Bett schlüpfen kann, das ich kaum vierzig Stunden vorher verlassen habe.

Blick au. __. ..„pitz- Nordostwand auf Vorderspitze ( rechts ) und Gross Simelistock ( links ) Technische Angaben Vgl. MB 3/89, S. 116 Nordostwand des Kingspitz: Route .

AS-/ 550 m / Passagen 6b zwingend / 6c in Freikletterei. Sehr interessante Kletterei, besonders in der mittleren Zone, die ein gewisses Engagement verlangt und den Charakter einer grossen Kalkwand bietet. Stellenweise erfordert der Fels einige Vorsicht.

Material: Friends und Klemmkeile / 45-m-Seile / Heim ratsam Zugang: Bern-Meiringen-Willigen-Rosen-laui, dann Aufstieg zur Engelhornhütte ( 1901 m ) in 1 Std. 30 Min., von der Hütte 40 Min. bis an den Wandfuss des Kingspitz ( Gipfel 2621 m ) Eröffnung: von unten Belassenes Material: Haken, 58 Bohrhaken Abstieg: Abseilen von Stand 13 ( 45-m-Seile; maillons rapides vorhanden ) oder vom Gipfel über die Westflanke Erstbegehung: Daniel Anker und Michel Piola, 9. und 10. September 1988 Aus dem französischsprachigen Teil. Übersetzt von Roswitha Beyer, Bern.

Inhalt 61 Peter Donatsch Korsika - ein Gebirge fällt ins Meer 69 Andreas und Claudine Mühle-bach-Métrailler Skitouren in Kalifornien 80 Daniel Santschi Am Huascaran in der Cordillera Blanca 88 Christian Weiss Bergtouren im Altai, Sowjetunion 96 Johann Jakob Burckhardt Eine Alpenreise von Rudolf Wolf im Jahre 1835 Herausgeber Redaktion Schweizer Alpen-Club, Zentralkomitee; Helvetiaplatz 4, 3005 Bern, Telefon 031/433611, Telefax 031/446063.

Publikationenchef CC Gotthard 1989-1991 Dr. Hansjörg Abt, Telefon 01/2581261, Telefax 01/251 4424.

Umschlagbild:

Etienne Gross, Thorackerstr. 3, 3074 Muri, Telefon 031/525787, Telefax 031/521570 ( verantwortlich für den deutschsprachigen Teil ). François Bonnet, Eplatures-Jaune 99, 2304 La Chaux-de-Fonds, Telefon 039/26 7364 ( verantwortlich für den französischen, italienischen und rätoromanischen Teil ).

Graphische Gestaltung Gottschalk+Ash Int'l Layout Thomas Petraschke G + A Markus Lehmann, Stämpfli + Cie AG Anzeigenverwaltung Künzler-Bachmann AG, Geltenwilenstrasse 8a, Postfach 926, 9001 St.Gallen, Telefon 071/235555, Telefax 071/236745. Anzeigenleiter: Albert Signer.

Druck und Expedition Stämpfli + Cie AG, Postfach, 3001 Bern, Telefax 031/240435, Postscheck 30-169-8.

Erscheinungsweise Monatsbulletin in der zweiten Monatshälfte, Quartalsheft in der zweiten Hälfte des letzten Quartalsmonats.

Blick vom Hochland auf die Gipfel der Cordillera Blanca ( Peru ) Photo: Daniel Santschi, Solothurn 102 Michel Ziegenhagen Ein Berg der Überraschungen 114 Michel Marthaler Die penninischen Decken in den Walliser Alpen Preis Abonnementspreise ( Nichtmitglieder ) für Monatsbulletin und Quartalsheft zusammen ( separates Abonnement nicht möglich ): Schweiz, jährlich Fr. 42., Ausland, jährlich Fr. 58..

Quartalsheft einzeln für SAC-Mitglieder Fr. 7., für Nichtmitglieder Fr. 10.; Monatsbulletin Fr. 2..

Allgemeine Angaben Adressänderungen: auf PTT-Formular 257.04. ( Mitglieder-Nr. beifügen !) Inhalt: Die Beiträge geben die Meinung des Verfassers wieder. Diese muss nicht unbedingt mit derjenigen des SAC übereinstimmen.

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Beglaubigte Auflage: 71 176 Exemplare.

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