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Klein Wellhorn-Südwand

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Erster Durchstieg 15. Juli 1950. _.

öVon Ernst Reiss

Mit 2 Bildern ( 153, 154Oberhasli ) Warum ist es gerade diese unbekannte, einsame Felsmauer über dem wilden Gletscher, die schon vor Jahren und nun auch in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit von so manchem Kletterer auf sich gezogen hat? Betrachten wir vorerst deren geographische Lage und besondere Eigenart, um die Antwort zu finden.

Im Rosenlauital, hoch über dem anmutigen Gschwandtenmad mit seinen sonnenbraunen Alphütten, umgeben von mächtigen, alten Ahornbäumen, wachsen die beiden Wellhörner zum Himmel empor. Das Kleine Wellhorn bildet mit seinen silbergrauen Plattenfluchten den äussersten nördlichen Eckpfeiler des Wetterhornmassivs. In weit steileren, fast haltlosen Felsbastionen fallen die beiden Seitenflanken bis in den Gischt des Berg- und Gletscherbaches. Nahezu ungegliedert, ohne einen Unterbruch, verliert sich der gewachsene, lotrechte Fels im Südosten direkt im Spaltengewirr des Rosenlauigletschers. Mausgrau, schwarz und rotbraun türmen sich die massigen Gesteinsformen aufeinander. Lautlos gleitet dann und wann eine Bergdohle hoch oben um die unnahbaren Pfeiler und Kanten, wo kaum mehr ein kühner Gedanke hinzueilen wagt. Diese stolze, grosse Felswand hatte auch meinen Kameraden Dolf Reist in ihren Bann gezogen. Sie hatte unsere Sehnsucht nach dem Unerreichbaren oft geweckt, wenn wir auf den lichten Zinnen der Engelhörner in glückhaftem Gipfeltraum Denken und Sehen in die nahe Umgebung vertieften.

Klein und wie fremde Eindringlinge fühlen wir uns jetzt, da wir nun diesem unwiderstehlichen Locken gefolgt sind. Zuversicht und Zweifel zugleich bewegten unsere Herzen, als wir an einem schönen Sommerabend die Seile und Haken zwischen Kalkblöcken und blühenden Steinrosen am Fusse des Kleinen Wellhorns deponierten.

6. Juni 1950 Ein zartblauer, wolkenloser Morgenhimmel grüsst uns auf dem Weg von der Klubhütte zum Fuss der Wand. Die Sonne steigt eben hinter dem hohen Gratkamm der Gstelliburg hoch. Annähernd in der Gipfelfallinie beginnen wir an der am Vortage erkundeten, sehr schwierigen Einstiegsverschneidung den geheimnisvoll dräuenden Plattenpanzer zu erklimmen. Nur ein alter, rostiger Mauerhaken gibt uns die Gewissheit, dass hier vor einiger Zeit schon einmal andere Kletterer einen Durchstiegsversuch unternommen haben. Eine bange Frage erweckt ein steinschlagzerfetzter, schwarzer Lodenhut in der anschliessenden, etwas weniger ausgesetzten Rinne. Nach einem kleinen, vorspringenden Sperriegel stehen wir wieder auf luftiger Kante, gut hundert Meter über dem schmutziggrauen Gletscherboden. Rechts ausholend gelangen wir an die riesige Plattenmuschel unter dem kompakten, lotrechten Fels. Dieser äusserst ausgesetzte Gang ermöglicht uns aber in die zuweilen überhängende Die Alpen - 1951 - Les Alpes30 Kaminrissreihe der rechtsseitigen, grossen Pfeilerflanke vorzudringen. Unerlässlich werden nun Standhaken und Stehschlinge. Während ein Ausstieg an die Kante erfolglos bleibt, können wir höher oben auf ein fussbreites Band zur Rechten ausweichen. Das folgende, griffarme Wandstück läuft im stumpfen Winkel unter die für uns fast dimensionslose, rotbraune Senkrechte des Pfeilers. Dort oben wollen wir in ausgesetztem Quergang einen Ausbruch nach dem Trichter, nahe der Kantenperipherie, versuchen.

Es ist zwecklos, diese schwierigste Seillänge zu beschreiben, denn sie steht an der Grenze unseres Verantwortungsbewusstseins. « Zurück », lautet hier unwiderruflich unser schwerer Entschluss; ist es doch schon Mitte Nachmittag, und wir wissen, das bedeutet die letzte Möglichkeit, noch heute dieser ungeheuren Mauer zu entrinnen. Mit Bangen fällt unser Blick in den bodenlosen Abgrund, auf die wachsenden Schatten über dem 400 Meter tiefer liegenden Rosenlauigletscher. Bei den Vorbereitungen an der ersten Abseilstelle entwischt uns unglücklicherweise die 30-Meter-Reepschnur. Eine langstielige Silberdistel am Fusse einer Kaminvertiefung kann den trägen Fall zufälligerweise aufhalten.

Etwas fragwürdig sitzen zwei kurze Eisenhaken im stumpfen Riss. Seil und Reepschnur hängen in die gähnende Leere, ohne an ihren Enden dem Fels irgendwo nahe zu sein. Nur zu leichtsinnig vertraue ich darauf, in der Tiefe einen Standplatz mit Pendeln zu erreichen. Nach 20 Metern stoppe ich die freie Fahrt ab, schlenkere an die Wand, um gleich wieder in das Nichts zurückgeworfen zu werden. Jetzt dreht es mich im Kreise herum, und mit Entsetzen verspüre ich in der rechten Hand die leeren Seilenden. Höhnend scheint mich der allerorts überhängende Fels anzugrinsen. Entschlossen reisse ich die Seile aus dem Dülfersitz um den einen Oberschenkel. Dann bringe ich meinen Körper nochmals zum Schwingen, doch wieder stösst mich der Berg hinaus ins Leere. Mit Schrecken stelle ich fest, dass ich schon zu tief hänge, um eine zerschrofte Nische, links oben, zu erreichen. Abermals treibt es mich an die Wand und — mir stockt der Atem — ich kippe nach aussen! Im gleichen Augenblick spüre ich jedoch, dass ein Rucksackriemen an einem winzigen Felszacken angehängt hat. Schnell stecke ich einen bereitgehaltenen Haken in die nächste Ritze. Ich atme kaum, denn der Stein, an dem ich mich langsam hochschiebe, ist locker. Noch ehe ich, wie durch ein Wunder, aus dieser unheimlichen Situation befreit bin, ruft Dolf von der unsichtbaren Kanzel: « Ich komme nach! » Geradezu flehend brülle ich zu ihm hinauf, sich stillzuhalten. Zentimeter um Zentimeter bewege ich mich unter dem nachlassenden Seilzug in die Nische. Erst als ein Stahlstift seine Tonleiter singt, werde ich von all den schweren, dunkeln Gedanken befreit, so dass der angespannt wartende Gefährte nachfolgen kann.

Es eilt die Zeit. Aber noch oft haben wir die Fahrt am Seil durch diese abgrundtiefe Wand anzutreten. Schwarze Gewitterwolken wälzen sich über die nahen Engelhörner. Die ersten grossen Regentropfen verdampfen auf dem warmen Fels. Wieder sind die Seile « verhangelt », und wir müssen uns, um sie einziehen zu können, zuerst festnageln. In der ausgesetzten, schrägen Einstiegsverschneidung droht es uns sogar in die senkrechte Wand hinauszu- stossen. Langsam und schwer steigt die Dämmerung aus dem Tal zu dem noch Helle reflektierenden Gletscherstrom.

Abgekämpft, einer harten Probe unserer Nerven enthoben, sinken wir aus den Seilen auf den rettenden Firn. Unsere Gesichter und Augen brennen. Noch zittern die angestrengten Hände, aber in unseren Herzen beginnt dieses grösste Erlebnis im Fels nachzuklingen, zu nagen und zu fragen. Und mit uns versinken die vielen Wellen des wilden Rosenlauigletschers in die Nacht.

Ein paar Wochen sind vergangen. Herrliche Sonnentage liegen über den Bergen. Immer wieder eilen unsere Gedanken hinauf zu jener rätselhaften Wand über dem schimmernden Gletscher. Noch sind wir erfüllt von Ehrfurcht und Dankbarkeit, wenn wir an den gut abgelaufenen Versuch zurückdenken. Anlässlich unserer Längsüberschreitung der Engelhörner konnten wir durch Beobachtung unseren damaligen Fehlgang verfolgen und beurteilen. Nach der grossen Plattenmuschel müssten wir vermittelst Seilquergangs den Pfeiler, der den Zugang zur Schlucht verwehrt, zu umgehen suchen. Etwas ungewiss erscheinen uns bloss mehr der Ausstieg und die Gipfelwand. Schon am folgenden Wochenende aber kann ich durch Abseilen vom Grat her das obere Wanddrittel als begehbar bezeichnen. Unwillkürlich erinnere ich mich der Worte von Gottfried Keller: « Was unerreichbar ist, das rührt uns nicht, doch was erreichbar, sei uns goldne Pflicht. » 15. Juli 1950 Eine sternklare Nacht weicht dem siegenden Tageslicht. Der raunende Wind hat sich in den vielen Tannenwipfeln und im ewigen Lied der Bergwasser verloren, und eine feierliche Stille liegt über Gipfeln und Tal. Die Sonne lässt im Höhersteigen den wolkenlosen Himmel in seltener Lichtfülle erstrahlen. Machtvoll stehen die schweigenden Bergzinnen gleich Götterburgen in naher Runde. Jubeln mag jeder, der, dem Tal entstiegen, in den Höhen einem neuen Tag entgegenschreitet!

Auch wir sind längst der Schwere der Morgendämmerung entronnen. Mit frohem Herzen, voller Zuversicht, halten wir Rast hoch oben in unserer Wand am Beginn des grossen Pfeilers. Nahezu senkrecht unter unserem luftigen Standort öffnen sich die unergründlichen Spaltenschlünde des Gletschers. Schmelzwasser glitzern im goldenen Sonnenlicht, und silbern brechen sich die vielen Strahlen auf den gefrorenen Firnkalotten.

Bis zum Beginn der Kaminrissreihe sind wir den gleichen Pfad wie im Juni gegangen. Dann queren wir mit Hilfe eines Seilquergangs hinüber in die grosse Schlucht: nach einer kurzen Abseilstelle können wir von fussbreiter Kanzel aus am lotrechten Fels den Querganghaken anbringen. In weiterer 15 Meter tiefer Fahrt und unter starkem Seilschrägzug gelingt es uns, auf einer handbreiten Leiste Fuss zu fassen. Schon der folgende äusserst ausgesetzte Quergang gibt den Eintritt zur Schlucht frei. Heiss brütet hier die Julisonne, doch es ist ein herrliches Klimmen über Absätze und durch die Kamine des silberweissen, rauhen Kalkgesteins. Aus der letzten Rinne, von einem den Weiterweg verdeckenden Überhang gesperrt, muss die glatte Ausstiegswand auf den Pfeiler in äusserst exponierter Kletterei erreicht werden. Noch ehe aber die zweite Nachmittagsstunde beginnt, hat Dolf diese prächtige Schlüsselstelle bewältigt. Über griffarme Absätze, an einem tiefen, höhlenartigen Adlerhorst vorbei, nähern wir uns nun dem Grat. Das obere markante Schrägband führt links durch die Gipfelwand und nach einigen steilen Absätzen direkt auf die Kuppe unseres langumworbenen Zieles.

Brodelnde Nebel fahren an den Lilienspitzen und am Grat des Grossen Wellhorns hoch. Sie verdecken den Ausblick nach dem dominierenden Wetterhorn.

0 glückliche kurze Gipfelrast! Wunschtraum und vermeintliche Erfüllung aller Sehnsucht, du bist Wirklichkeit geworden!

Im Auftürmen und Abbauen der wallenden Nebelgebilde erscheinen noch einmal die eindrucksvollen Bilder von der Begegnung mit dieser gewaltigsten Felsmauer, in welcher wir unser schönstes Edelweiss gefunden haben.

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