Kleine Wanderungen im Reservat Bietschhom
Mit 4 Bildern ( 126-129Von A winterberger
( Thun ) Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges vollendete Dr. J. G. Stebler, Ehrenmitglied des S.A.C., seine Monographie « Sonnige Halden am Lötschberg ». Leider ist diese, mit viel Sachkenntnis und mit viel Liebe geschriebene Arbeit längst vergriffen und wohl in mancher Bibliothek der S.A.C.Sek-tionen nicht mehr vorhanden. Die Feststellung Steblers: « aber nur wenigen Auserwählten war es vergönnt, die Berghalden, Schluchten und Täler, die Dörfer und Weiler zu durchwandern, obschon diese dem für eine grossartige Natur und patriarchalisches Volksleben empfänglichen Besucher reichen Genuss bieten », hat noch heute Gültigkeit trotz Steblers Nachsatz: « Der Allgemeinheit ist die Gegend aber erst erschlossen worden durch die Eröffnung der Lötschbergbahn. » Die « Allgemeinheit », der grosse Strom der Reisenden, bewundert auf der Fahrt über die Südrampe der B. L. S. die kühnen Bahnanlagen, freut sich der Aussicht in grosse Berglandschaft, die in ihrer Art in den Alpen nicht viel Ähnliches hat, und nur wenige « Auserwählte » erblicken auf der raschen Fahrt auf der Bergseite die wilden Talausgänge von Ij olii, Bietsch und Baltschieder mit den gischtenden Gletscherwassern und den kühnen Wasserleitungen. Nur vereinzelte Naturschützer und Kenner der sonnigen Halden verlassen auf den aussichtsreichen Stationen Hohtenn, Ausserberg, Eggerberg oder Lalden den Zug, um ihre Wanderung an sonnigen Halden zu beginnen.
Jeder Besucher des Wallis kennt mehr oder weniger die harte Arbeit des Bergbauern auf magerer Scholle, und der Walliser Bauer ist Sinnbild der Treue zu der Heimaterde. In wieviel Büchern und Vorträgen wurde diese Verbundenheit mit dem Boden geschildert, wurden lobende Worte gefunden. Was die Menschen an den sonnigen Halden im Kampfe gegen die sengende Sommersonne und den immer wehenden Wind leisten, das nötigt uns Achtung und Bewunderung ab.
Von den zehn Gemeinden an sonnigen Halden liegen Niedergestein, Raron, Baltschieder, Lalden und Brigerbad im Rhonetal, ihre Weinberge und Wässermatten erstrecken sich aber bergaufwärts.
Die folgende Tabelle gibt Aufschluss über die Verschiebung in den Bevölkerungszahlen seit der ersten Volkszählung von 1846. Die Zahlen von 1910 spiegeln die Zunahme der Bevölkerung durch die fremden Arbeiter bei dem Bau der Lötschbergbahn wider. Von 1846 bis 1941 hat die Bevölkerung an den sonnigen Halden um 82,9 % zugenommen. In verschiedenen Gemeinden beträgt die Zunahme mehr als 100 %, in Baltschieder und Lalden über 200 %.
KLEINE WANDERUNGEN IM RESERVAT BIETSCHHORN Einwohner1846 Niedergestein190 Raron403 Baltschieder. 101 Brigerbad119 Hohtenn122 Ausserberg284 Gründen36 Eggerberg212 Lalden116 Mund477 Birgisch167 2227 1910 1941 296 328 1158 821 357 317 138 124 499 306 1020] 77/ 612 622 327 246 386 578 651 230 205 5221 4077 Weil der bebaubare Boden in den Gemeinden am Berg nicht zugenommen hat, sind viele Einwohner gezwungen, ihr Brot bei der B. L. S., in den Fabriken von Gampel und Visp oder in den Betrieben von Brig zu suchen. Die « neue Zeit » dringt auch in die abgelegensten Bergdörfer ein und bringt ihre lichten und dunkeln Seiten. Gleich geblieben ist aber die harte Arbeit auf der trockenen Scholle, gleich geblieben ist die Bearbeitung des Heimatbodens, gleich geblieben ist auch der jahrhundertlange Kampf gegen die Trockenheit und auf manchen Alpen auch der Kampf gegen Lawinen und Steinschlag. Die grosse Kinderzahl in vielen Familien bindet auch den Fabrikarbeiter an die Scholle. Er ist Kleinbauer und arbeitet neben der « Schicht » mit den Angehörigen vom Frühling bis in den Herbst hinein, je nach der Arbeitsfolge, im Rebberg im Rhonetal oder oben in den Äckerlein an der Grenze der Alpen. Die vielen kleinen Parzellen, eine Folge der Erbteilung, verursachen viele « Lauf und Gang » zu jeder Jahreszeit, und das « Wässerren » Tag und Nacht gibt Mühen, von denen der Bauer im Unterland keine Ahnung hat.
Die kühnen, alten « Wasserleiten », die aus den vier Bergtälern das belebende Wasser hinaus an die sonnigen Halden in die Wässermatten und in die Äcker führen, erregen das Interesse des Wanderers. Was das Wasser, das « Heilige Wasser », für die Menschen an sonnigen Halden bedeutet, kann nur der ganz ermessen, der das Bergvolk in jeder Jahreszeit an der Arbeit sah. Die Gletscher im Bietschhorngebiet bilden den Lebensquell, sie sichern den Menschen an den Hängen über dem Rhonetal das Brot. Die grossen Lärchenkänel an den Flühen sind bis auf ganz wenige verschwunden. Mit den neuen Sprengstoffen wurden die Felsen bezwungen, Tunnels führen das segnende Nass unter den Steinschlaggräben durch, und in den Felsen fliesst es durch steinerne Wasserrinnen neben der schmalen Gangplatte. Der Naturfreund folgt den « Wasserleiten » in die wilden Täler. Die « Lald-nerin », eine Wasserleitung aus dem Baltschiedertal, wurde in einer Urkunde schon im Jahre 1312 erwähnt, und um viele « Suonen » ( Wasserleitungen ) ranken sich allerlei Sagen und Erzählungen. Geniesser nehmen sich Zeit, einmal von der « Schöpfi », wo das Wasser im Gletscherbach gefasst wird, der Leitung durch Felsen, Gräben, Schutthalden, Wälder und Weiden bis an ihr Ende in den sonnigen Halden zu folgen, und sie erfreuen sich bei der mühelosen Wanderung an den Ausblicken in das breite Rhonetal und auf die Rarner Schattenberge. Das « Niwerch », die oberste Wasserleitung ob Ausserberg, hat eine Länge von 14 Kilometern, und das « Ulzwasser » von Mund misst 12 Kilometer. Wenn der Wanderer mehr wissen will, als was Stebler in seiner Arbeit über die « Wasserleiten » schreibt, so geben ihm freundliche Männer und Frauen, die das Wasser auf ihre durstigen Wiesen und Äcker leiten, immer gerne Auskunft. Aus den folgenden Zahlen lassen sich interessante Schlüsse auf die Bedeutung der Wasserleitungen und auf die Arbeit bei dem « Wässerren » und auf die Zersplitterung der Arbeit bei den vielen kleinen Parzellen ziehen.
Landwirt- Hauptberuf p-_,pn„_ MittlereFläche Gemeindenschaftliche Landwirt4„7 " :>, Grossebewässert BetriebeSchaft pr0 Betrieb ArenAren Birgisch4544161710 406 Mund115107211219 417 Ausserberg937259415 913 Hohtenn43322641853 Lalden. 57271116984 Eggerberg554029911422 Jede Jahreszeit lockt uns, die sonnigen Halden zu besuchen, und der besinnliche Wandersmann weiss nicht, ob er dem Bergfrühling mit den blumenreichen Heumatten und der vielgestaltigen Flora der Bergweiden und Gräte oder den milden Oktobertagen mit den warmen Farbentönen der Alpen, mit den goldenen Lärchenwäldern den Vorzug geben will. Aber auch Wintertage haben ihren eigenen Zauber, wenn die Rarner Schattenberge im Blaudunkel liegen, die schwarzen Häuser sich noch enger um die weisse Dorfkirche zu scharen scheinen, wenn der graublaue Rauch über den grauen Dächern schwebt und die Berge über den Lärchenwäldern in einem unsagbaren kalten Weiss in die Täler schauen.
Von der Station Hohtenn führt ein guter Weg hinauf zu dem aussichtsreichen Sommerdorf Tatz, wo Edmund von Fellenberg 1878 nächtigte und die Aussicht wie folgt schilderte: « Den köstlichen Abend brachten wir auf der Rampe vor der Kapelle zu und genossen die herrliche Aussicht. Tief zu unseren Füssen liegt der flache Talboden der Rhone, von dem Silberband des Flusses durchzogen, der jetzt dank eidgenössischer Hilfe und Bruderliebe nicht mehr regellos durch Sümpfe und Tümpel dahinschleicht, sondern in schön eingedämmtem Bett, einem breiten Kanal ähnlich, zwischen mächtigen Sporren dahinrauscht. In hehrer Pracht stehen im Süden vom Blindenhorn bis zum majestätischen Weisshorn die Walliser Alpen, deren Gipfel in zarter Glut aufleuchten, während sich ihr Fuss mehr in nächtliche Schatten hüllt. Die prächtige Alp ,Tatz ', ihre freie Lage auf sanft ansteigender Lehne die Nähe duftiger Tannen- und Lärchenwälder alles dies sowie die herrliche Luft eignet diesen Punkt zu einem Sommeraufenthalt und Luftkurort. Nach Sonnenuntergang genossen wir das Abendbrot und suchten auf mächtigen Pritschenbetten die gewünschte Ruhe. Die Hitze im engen hölzernen Räume und die unvermeidlichen Angriffe zahlloser nächtlicher Quälgeister jagten uns früh vom Lager. » Wir freuen uns, dass sich Tatz nicht zum Luftkurort entwickelte und uns in seiner Eigenart, wie es Fellenberg sah, erhalten blieb. Wir können Fellenbergs Spuren in das Seetal und zum Blumhorn folgen oder der Wasserleitung nach in das Ijollital wandern, beides ist schön und genussreich. Wir denken an eine Klubtour der Sektion Blümlisalp im Jahre 1926. Damals nächtigten wir in der einfachen Sennhütte auf Stockalp, stiegen in der Morgenfrühe den Steilhang hinauf in das Seetal, schauten den tiefblauen See im untern Satz und wanderten über den Blumgrat zum Blumhorn und die Seetalmulde empor auf den Schintigrat, und wir dachten an den Ausspruch des Führers Henzen, der Fellenberg einst begleitete, « etwas so Schönes an Farben und Felsen habe ich noch nie gesehen ». Wir fanden an dem klaren Nachsommertage alles bestätigt, was Fellenberg von der Aussicht von den Gipfeln der Lötschentaler Kette geschrieben hat.
Wer in das Ijollital wandert, findet oben an der Waldgrenze bei Beginn des flachen Talbodens in der Nähe schöner Quellen, ganz nahe am rauschenden Ijollibach, Fellenbergs Biwakstein, und gerne tauscht man das Freilager auf weichem Rasenpolster gegen die unruhige Nacht in dem engen Räume einer Sennhütte. Bergsteiger lockt es, den Spuren Fellenbergs zum Wilerhorn zu folgen. Naturschützer können stundenlang das Steinwild in den Flanken der Praghornkette beobachten, oder sie steigen hinauf zu den aussichtsreichen Schafweiden von Prag, und wer gegen Abend der Wasserleitung entlang nach Stockalp und durch den Lärchenwald nach dem Sommerdorf Laden und der Station Hohtenn absteigt, der hat nirgends etwas gesehen, was die Unberührtheit dieser Berglandschaft stören könnte.
Kurzweilig und schön ist ein Spaziergang von Ausserberg nach den Alpen von Raft und Leiggern. Ein breiter Fussweg führt von dem Ausgang von « Trogdorf » ( die Touristen nennen es meistens Ausserberg ) in angenehmer Steigung nach Raftalp. Schon wenige Minuten nach Verlassen des Dorfes taucht über der Moosalp ob Zeneggen der weisse Nadelgrat auf, und während der ganzen Wanderung bildet das formenreiche Massiv der Mischabel das Glanzstück in der weiten Rundsicht. Freunde der Farbenphotographie finden hier zu jeder Jahreszeit dankbare Bilder, und wer nicht photographiert, hat Zeit, den Kameraden zu warten und immer wieder neue Schönheiten in der näheren Umgebung und in der sich immer mehr ausdehnenden Rundsicht zu entdecken. Wo der Weg die oberste Wasserleitung, das « Niwerch », bei Punkt 1205 kreuzt, legen wir den Rucksack ab und folgen der Suone gegen das Baltschiedertal und blicken um die Felsennase, wo die Wasserleitung 1914 in die Felsen eingesprengt wurde, und wir können uns von der Gefährlichkeit und den Schwierigkeiten eines Känelzuges eine richtige Vorstellung machen. Wir denken der Worte von J. G. Stebler: «... und nach einem Menschenalter wird es dann von dem Chänilzug der Ausserberger auch heissen: ,Die Sage erzählt... » Die Sennhütten von Raft, die Nachtquartier für die Besteigung des Wiwannihornes bieten, liegen auf aussichtsreicher Terrasse, und wenige Schritte führen von dort an die Felsenkante gegen das Baltschiedertal, dessen unterer Teil in seiner ganzen Wildheit vor uns liegt. Wir schauen die Lawinenfurchen, die vielen Steinschlaggräben und sehen auf den gegenüberliegenden, steilen Flanken die Sennhütten von Hohenalp, Ebnet und Eril sehr verwegen hingebaut. Durch Weiden und lichten Lärchenwald führt ein kurzweiliges Weglein zu P. 1747,5, biegt hoch über der Mankin in die Mulde, die sich gegen die Leiggeralp hinaufzieht, und wir queren den schönen, urweltlichen Lärchenwald ob Leiggern zum « Bizziturru », zu den Abstürzen in das wilde Bietschtal. Wer viel in den Alpen gewandert ist, hat manches packende, grosse Landschaftsbild schauen dürfen, aber selten hat uns eine Aussicht so gefesselt, wie diejenige vom Holzerrück. Durch Lärchengrün schauen wir tief hinab in das Bietschtal mit den angeschliffenen Granitbuckeln des Rämi, über dem sich das Bietschhorn als ebenmässige, stolze Pyramide aufschwingt, links flankiert von den gezackten Kletterbergen zwischen Ijolli- und Bietschtal und rechts von den Steilabstürzen des Augst-kummenhornes. Eine gute Photographie, ein Farbenbild auf der Projektions-leinwand sagen wohl mehr als alle Worte, und doch können sie nur einen kleinen Abglanz der Grosse und Wildheit dieser Aussicht wiedergeben.
Man kann nicht sagen, wie schön und stimmungsvoll ein Abend in Leiggern sein kann, und nur wer vom Rhonetal oder von den Rarner Schatten-bergen nach Leiggern hinaufschaut, kann ahnen, welche Aussicht sich dort dem staunenden Auge öffnen muss.
In Kirchen, Kapellen und Bethäuschen findet man an sonnigen Halden manches schöne Madonnenbild, manche Darstellung aus dem Leben der Heiligen, oft ganz einfach, oft naiv, oft auch sehr realistisch — wie aber die spätgotische Madonna, wohl das Werk eines oberrheinischen Meisters, in die Kapelle auf Leiggern gekommen ist, kann man sich nicht recht erklären. ( Das Original befindet sich im Landesmuseum in Zürich. ) Wer je auf « Bitziturru » stand, den lockt der Abstieg über den « Bärenfad » in den Talkessel des Bietschi. Die Wegspur ist in der neuen Landeskarte angedeutet, doch Steinschlag und Lawinen haben das Weglein zum Teil weggerissen, man verliert die Spur leicht, und man ist froh, wenn man den Talgrund des Bietschtales erreicht hat. Bei dem Jägerstein, der alten Biwakstelle, erinnert man sich auch als Veteran gerne der grossen Fahrten grosser Bergsteiger auf das Bietschhorn, und anhand der guten Skizzen im Klubführer verfolgt man mit dem Zeiss die kühnen Anstiegsrouten vom sicheren Port. Der Aufstieg über Uechtwang ist wohl etwas steil und streitbar, aber als Lohn winkt die mühelose Wanderung durch Schafweglein über die Flanken von Galen gegen Seileggen. Man wähle für den Besuch von Galen den Juni mit der reichen Flora oder den Weinmonat mit dem bunten Farbenspiel, aber man breche früh auf, man nehme sich Zeit zum Schauen und zum Geniessen.
Ebenso reichen Genuss wie das Wandern an den Hängen zwischen Bietsch- und Baltschiedertal bieten uns die Spaziergänge über der Lötschberglinie zwischen den Tälern von Baltschieder und Gredetsch. Wie so gerne gedenken wir sonniger Oktobertage des letzten Jahres. Die Arbeitsgemeinschaft der drei Photographen trennt sich bei der Haltestelle Eggerberg, und wir wollen uns bei P. 1567 unterhalb Aebi wieder treffen. Die Kameraden steigen von Mühlachern den steilen Fussweg hinauf zu dem abgelegenen Weiler von Eggen, und ihre Bilder erzählen von dem Blick in das Baltschiedertal, über dem hoch die weisse Kapelle von Raft durch Lärchengold schimmert, und das Wiwannihorn so stolz herunterschaut, von dem kurzweiligen Aufstieg nach dem grossen Sommerdorf Finnen, von dem Ausblick in das breite Rhonetal bis zum Illgraben, von dem Tiefblick in das Vispertal, von der strahlenden Mischabelgruppe — Bilder so farbenfroh und gross, die Erinnerungen an längst vergangene, liebe Fahrten wecken.
Wir andern folgen von der Station Lalden dem Weglein nach der Kapelle im Gstein und wandern über den Weiler von Wartflühen hinauf nach Mund, dessen schöne Kirche weit in das Tal hinausschaut. Überall sind die Leute am Einbringen der Herbstfrüchte. Kniend graben sie mit der Spitzhaue die Kartoffeln aus der trockenen Ackererde, während andere den Boden für die Herbstsaat umbrechen. Mund hat eben das elektrische Licht erhalten, und der Photograph ärgert sich über die Drähte in den engen Dorfgassen, die in den Farbenbildern der schwarzbraunen Häuser mit dem schönen Blumenschmuck, den Reihen gelber Maiskolben und den an Schnüren aufgezogenen, rotbraunen Äpfelscheiben so störend wirken. Wir möchten gerne die berühmten Safrankulturen von Mund photographieren, aber des schlechten Herbstwetters wegen kommen die Safranpflanzen erst später zum Blühen.
Die Aussicht von dem grossen Kreuz auf dem sagenumwobenen Mundstein, P. 1450,4, verdient ihren Ruf, und gar gerne möchte man auf diesem einzigartigen Punkt recht lange verweilen, doch den Farbenphotographen locken die Landschaftsbilder von Bodmen und Aebi mit dem berühmten notwendigen Vorder- und Hintergrund und der richtigen « Staffage ». Ein intelligentes, lustiges Büblein macht uns bei der Wanderung durch den Hormattenwald viel Kurzweil und Spass. Schaf- und Ziegenherden weiden auf Hormatte, und das Licht spielt auf dem Rücken der einzelnen Tiere, leuchtet in den goldenen Lärchen, erfüllt das Rhonetal mit einem blaurötlichen Schimmer, und über dem Nanzertal erhebt sich das Fletschhorn, die Steilabstürze gegen Simplon in blauem Schatten, die Firne aber gegen Saas spiegeln zarten Silberglanz.
Im letzten Abendlicht stehen wir noch bei dem Kreuz auf dem Bethorn, P. 2169,2. Blaue Dämmerung steigt aus allen Tälern herauf, alles weich umhüllend, doch die Hochgipfel zeigen noch lebhafte Farbentöne. Sie wechseln, je nach dem Auffallen des Lichtes — ein Spiel von Licht und Schatten, gleich dem Spiel der Erinnerungen bei der Rückschau eines Veteranen auf sein Wanderleben in den Alpen. Ein Spiel von Licht und Schatten, doch die zarten und lichten Töne überwiegen, wie bei allem, was hinter uns liegt, wie bei allem, das nie wiederkehrt.
Am prasselnden Herdfeuer in einer Sennhütte auf Brischeren plaudert sich so leicht von alten Erlebnissen in den Alpen, und in später Stunde gehen wir noch einmal vor die Hütte. Über der dunkeln, grossen Landschaft wölbt sich ein Sternenhimmel, wie er sich in seiner ganzen Pracht nur in klarer, trockener Walliser Herbstluft wölben kann, und über dem Dunkel der Täler und Vorberge schimmert in bleicher Tönung der schönste Berg der Alpen, das Weisshorn. Ein Kamerad sagt still und dankbar: « Schöneres und Grösseres kann man nie mehr schauen. » Noch vor des Tages Erwachen prasselt wieder das Feuer in der Feuergrube, und als der erste Lichtschimmer den Gipfel des Weisshornes und des Matterhornes trifft, schreiten wir über die bereifte Alp hinauf zu dem Kreuz auf dem Bethorn. Man kann das Erwachen des Herbsttages in dieser grossen Bergwelt nicht in Worte kleiden, namentlich nicht für C. Kameraden, die das immer wieder Neue, Erhebende selbst so oft in den Bergen erlebt haben. Wir können uns für einen Bergsteiger, den die Gebrechen des Alters zwingen, langsam zu verzichten, keinen schöneren Punkt für einen stillen, dankbaren Abschied von grosser Bergwelt denken als das aussichtsreiche Bethorn an der obersten Grenze des Lärchenwaldes.
Vom Rhonetal tönt das ferne Rollen eines Eisenbahnzuges, der sich dem Simplon nähert, heller und lauter schallt es, wenn ein Zug der B. L. S. über eine der kühnen Brücken der Südrampe donnert. Ein blauer Rauchschleier über dem Rhonetal verhüllt die Lonzawerke in Visp, die ihre Produkte in die Plantagen aller Weltteile senden — und ganz nahe neben der neuen Zeit liegen stille Bergdörfer, leben die Menschen an sonnigen Halden, fast wie ihre Vorfahren vor Jahrhunderten. Alte und neue Zeit, grosse Gegensätze nebeneinander, nirgends findet man das so ausgeprägt wie hier.
Es folgt ein leichtes Wandern über Vieh- und Schafweiden unter der Gerstenhalde zu P. 2278 an die Kante, die den Blick freigibt in das so enge, von steilen Flanken und Felsen umschlossene Gredetschtal, das noch im dunkeln Schatten liegt. In den jähen, braunen Grashalden weiden die Schafe. Mit dem Zeiss beobachten wir die Gemsen, die in den letzten Grasplätzen unter dem Schilthorn und auf der andern Talseite unter dem Grisighorn äsen. Wir suchen die Abstiegsroute Fellenbergs über die Eggen und Felsen, die vom Foggenhorngrat so jäh in das Gredetschtal abfallen. Wir rasten lange im braunen Herbstgras bei P. 2483, und dann, bei jedem Schritt bergwärts, weitet sich der Horizont, und als wir die Gratkante unterhalb des Gipfels des Gerstenhornes erreichen, schauen wir staunend auf den Beherrscher des ganzen Gebietes. Das Bietschhorn hebt sich über die wilden Gräte des Baltschiedertales wie eine lodernde Flamme empor, eine Berggestalt, « gross und nach allen Seiten ihre Ehre wahrend » wie wenige Berge in den Alpen. ( Charles Simon nennt Weisshorn, Finsteraarhorn, Mont Blanc, Barre des Ecrins, Monte Viso und Monte della Disgrazia. ) Wir überblicken die Bergwelt vom Tödi bis zu den Dents de Mordes, überschauen die ganze Kette der Walliser Alpen vom Gotthard bis zu den Grenzgipfeln Savoyens, erkennen im Zeiss Bernina und Adamellogruppe und folgen der Weite des Rhonetales vom Goms bis in das Unterwallis. Kein Berg des Bietschhornmassives gewährt einen so interessanten Einblick in das Rhonetal, in die Visper Täler und in das Simplongebiet, und denken wir heute zurück an die sonnigen, warmen Herbststunden auf dem Gerstenhorn, so passen die Worte Kugys, mit denen er die Aussicht vom Monte Leone preist: « Ein Lobgesang von unbeschreiblicher Herrlichkeit stieg von Tälern und Höhen zum Himmel empor. » Jeder Bergsteiger zählt bei einem Rückblick auf die. Bergerinnerungen die Aussicht von einem bestimmten Gipfel « zu den schönsten in den Alpen ». Das mag sehr von seiner Einstellung zu der Bergwelt und sehr von der Klarheit des Tages und der Stimmung abhangen, und es wird immer ganz persönlich gefärbt sein. Aber die Vielgestaltigkeit und Grosse der Nähe und Ferne haben wir nur auf der Haute Cime der Dents du Midi und auf dem Pic de Neige Cordier im Dauphiné an einem sehr klaren und kalten Morgen erlebt. Ein kleines aber genaues Bild der Wildheit des Dauphiné spiegeln uns in den Schweizer Alpen nur die zerhackten Gräte und die Trümmer im Bietsch- und Baltschiedertale wider.
Als Folge der niedrigen Jagdpatenttaxen und des Wildfrevels war das Gebiet Bietschhorn-Aletsch früher sehr arm an Wild. Die Gemsen und Murmeltiere waren fast gänzlich ausgerottet, und ein Bewohner von Mund erzählte uns, im ganzen Gredetschgebiet sei nur noch eine einzige Gemse gewesen, eine Gemse und viele, viele Jäger. Die Vorkämpfer für ein Wildreservat in dieser einzigartigen Bergwelt und der Schweizerische Bund für Naturschutz verdienen den Dank aller C. Mitglieder, die an der Erhaltung der Schönheit der Alpen interessiert sind. Die Steinbockkolonie im Bietschhorngebiet entwickelt sich erfreulich. In allen vier Tälern trifft man wieder grössere und kleinere Gemsrudel an, von den Gräten und Hängen tönt wieder der knarrende Ruf der Schneehühner, im Blockgewirr trippeln wieder die Steinhühner, im obersten Waldgebiet hört man im Frühling den Balzruf des Birkwildes, und in den vielen Lärchenwäldern hämmern die Spechte und zwitschert die bunte Vogelwelt, die uns Tschudi in seinem « Tierleben der Alpenwelt » so meisterhaft geschildert hat. Hoch über den Gräten zieht wieder der Adler seine Kreise, und der so selten gewordene Pfiff der drolligen Murmeltiere begrüsst den Wanderer in allen Tälern und auf allen oberen Hängen. Die Blätter « Schweizer Naturschutz » konnten im Sommer 1944, als ein Waldbrand den Aletschwald bedrohte, mit Recht feststellen, dass die gesamte schweizerische Presse und ein grosser Teil des Schweizer Volkes für die Löschmassnahmen grosses Interesse zeigten und dass im Volke viel Verständnis für die Bestrebungen des Naturschutzes vorhanden sei. Damals hörten viele für das Reservat Bietschhorn-Aletsch wohl zum erstenmal den Namen « Westschweizerischer Nationalpark ». Wer das Gebiet näher kennt, der versteht das stolze, inhaltsreiche Wort. Vielleicht trifft der Wanderer in kommenden Jahren einen der Wildhüter auf seinem Dienstwege und erhält von dem wetterharten, freundlichen Manne Auskunft über das Gedeihen und die Entwicklung des Reservates. Wer den harten Dienst dieser Wildhüter kennt, der dankt dem Naturschutzbund, der mit dem Bau von Schutzhütten den Männern die Arbeit erleichtert und die Schutzaufsicht verbessert hat.
Vom Gerstenhorn steigt man über leichte Felsen und steile Hänge in die Brischerenkumme, wo die Bewohner von Mund den Stein gefunden haben, der sich so gut für Dachplatten spalten lässt, und der Wildhüter erzählt gerne von der Gemeinschaftsarbeit des Dorfes bei dem Transport der Steinplatten nach Mund. Auf der Melchegg möchte man gerne einmal einen ganzen Tag verweilen, in die grosse Landschaft blicken, im Klubführer nachblättern und die Kletterrouten auf die Gipfel und Gräte verfolgen oder anhand der geologischen Karten den wechselnden Aufbau der Ketten zu verstehen suchen. Zu der Liebe zur Bergwelt gesellt sich dann auch die Ehrfurcht vor den Erforschern der Alpen und vor den Wissenschaftern unter den einstigen und jetzigen Mitgliedern des S.A.C.
Von der Melchegg führt ein Weglein, das in der neuen Landeskarte nicht eingetragen ist, zu den einfachen Hütten der Alp Ebnet. Bei den Hütten von Eril treten wir in den Abendschatten, und als wir auf der untersten Wasserleitung hoch über dem untersten Teil des Baltschiedertales um die Kante gegen « Mühle » biegen, umfängt uns die Nacht, und in allen Dörfern, sonnen- und schattenseits, glitzern die Lichter.
Man kann wohl jahrelang an den sonnigen Halden, in den wilden Tälern wandern, auf die Gräte und auf die vorgelagerten Aussichtsberge steigen, aber man wird die Schönheiten, die sich dort dem Auge bieten, nie ganz ausschöpfen können. Wir glauben nicht daran, dass in dem Reservat Bietschhorn je ein Massenbesuch einsetzen werde; denn der Stützpunkte an der Lötschberglinie sind wenige, die Unterkunftsverhältnisse sind bescheiden, die Schlafgelegenheiten in den Alpen sind beschränkt, die Nächte für ein Freilager sind lang, und der liebe Walliser Boden ist oft hart. Die Aufstiege sind im unteren Teil recht heiss, zwar nicht heisser als überall im Wallis, alles Gründe, geschaffen für den Bergsteiger und Naturfreund, der da weiss, dass alles Schöne auch in den Bergen verdient werden muss.
Sehr schade ist es, dass so viele Wanderer erst in das Wallis reisen, wenn in den unteren Regionen der Frühling schon vorbei ist, und dass nach der zweiten Hälfte September die sonnigen Halden so selten Besuch erhalten. Etwas Schöneres an Farben als im Oktober, wenn die Lärchen in Gold schimmern, wenn das Gelb der Birken in das Tal hinunter glänzt, wenn das Laub der Kirschbäume um die braungebrannten Häuser blutrot ist, wenn der erste Neuschnee sein Silber bis in die obersten Schafweiden gestreut hat und sich über allem der tiefblaue Walliser Himmel wölbt, etwas so Schönes findet man nirgends in den Alpen, nicht in Bünden und nicht im herbstlichen Tessin, nicht im Berner Oberland mit den Buchen- und Ahornherbst-farben und nicht in den West- und Südalpen mit den vielen weichen, abgestuften Blautönen. Kein Maler kann das in dieser Grösse malen, keine Farbenphotographie kann das wiedergeben, und keine Feder kann das beschreiben, denn grösser, schöner, zauberhafter und inniger ist die Wirklichkeit. An grauen Wintertagen schauen wir im Kreise der nächsten Kameraden die Bilder, die uns an so manche gemeinsame Wanderung an sonnigen Halden erinnern, und in stillen Stunden greifen wir dankbar zu den Büchern der Freunde, die uns das Gebiet erschlossen. Und wer auf ihren Wegen gewandert ist, der nennt wohl ehrfurchtsvoll die Namen Fellenberg, Gallet und Stebler. Und einmal nach Jahren werden die Jungen, die uns einst ablösen, noch Eduard Tenger erwähnen, der sich für das Reservat Bietschhorn-Aletsch gegen viel Widerstand mit Erfolg eingesetzt hat.