La Maiella
VON ERWIN ROTH, WINKEL ( ZH )
Mit I Bild ( 113 ) Sechzig Kilometer südöstlich des Gran Sasso und 35 Kilometer von der Adriaküste entfernt, erheben sich die Apenninen nochmals zu Höhen von mehr als 2700 Metern. Die Montagna della Maiella beherrscht dort als geschlossenes, allseitig steil abfallendes Gebirgsmassiv das Küstenvorland mit relativen Höhen von mehr als 2000 Metern.
Als Suzanne und ich zu unserer spätherbstlichen Italienreise aufbrachen, wussten wir über diesen Berg nur das, was die italienische Landeskarte 1:100000 ( Blatt Lanciano Nr. 147 ) aussagt. Bei der uns bekannten Ungenauigkeit dieser Karten war dies nicht allzuviel. Wir waren uns zuerst auch225 noch nicht schlüssig, ob unser bergsteigerischer Seitensprung dem Gran Sasso oder der Maiella gelten sollte. Schliesslich lockte uns der unbekannte Berg im Süden aber mehr als der vielbeschriebene Gran Sasso.
Bei Ortona sahen wir die Maiella ( 2793 m ) zum erstenmal. Ihre breite, hellgraue Kuppe schwebte hoch über dem herbstlichen Dunst des flachen Vorlandes. Fern im Norden zeichnete sich die zackige Kette des Gran Sasso in den Himmel. Dieser erste Anblick der beiden höchsten Apenninenberge vom Meeresufer aus wird uns unvergesslich bleiben.
Die freundlichen Leute in Ortona halfen intensiv bei der Planung unseres Unternehmens mit. Ihre Ratschläge erwiesen sich insbesondere dort als nützlich, wo es sich um Strassen handelte. So erfuhren wir von ihnen, dass eine Strasse vom Passo Lanciano bis auf die der Maiella nördlich vorgelagerte Maielletta ( etwa 2000 m ) hinaufführt. Ohne diese Information hätten wir auf der Südostseite angesetzt, wo wir die doppelte Höhendifferenz zu überwinden gehabt hätten.
Weniger zuverlässig klang jedoch, was unsere Gastgeber über den nicht befahrbaren Teil unserer Tour wussten. Offenbar waren sie noch nie mehr als ein paar Schritte über das Ende der Strasse hinaus vorgedrungen; denn sonst hätten sie wohl kaum behauptet, dass man den Gipfel von dort aus in einer Stunde erreichen könne. Distanz und Höhendifferenz entsprechen immerhin dem Aufstieg von der Ebenalp zum Säntis. So bewahrte die Tour für uns den Charakter einer kleinen Expedition in ein uns unbekanntes Gebirge.
Die Fahrt zur Maiella geht durch fruchtbares, hügeliges Gelände. Die Dörfer kuscheln sich auf schmalen Bergrücken eng aneinander; die Landschaft aber wird überschattet von der 10 Kilometer breiten und mehr als 2000 Meter hohen Ostfront der Maiella.
Die Strasse zur Maielletta ist bis zuoberst breit und gut ausgebaut. Hotels, Skilifte und zahllose Ferienhäuser ernüchterten unsere Expeditionsstimmung. Wir hatten hier kein Fremdenverkehrszentrum, sondern eine unberührte Abruzzenlandschaft erwartet.
Als wir um die Ostecke der Maielletta bogen, änderte sich dieses Bild mit einem Schlage: Jenseits eines viele hundert Meter tiefen Tales baut sich das Massiv der Maiellagipfel in steilen, zerrissenen Wänden auf. Von der Maielletta führt ein langer, mit Legföhren bewachsener Grat an den eigentlichen Gipfelstock. Der letzte Aufstieg auf diesen über einen 500 Meter hohen, felsdurchsetzten Schutthang schien nicht ganz den gemächlichen Höhenkurven der Karte zu entsprechen.
Nach wenigen hundert Metern war die Strasse zu Ende. Eine sanfte Weide führte bis unter die erste Graterhebung. Auf dem Trasse einer neuen Wasserleitung umgingen wir diese Kuppe ( P. 2142 « Blockhaus » ) und stiegen dann durch einen Legföhrenwald zum Gipfel des Monte Cavallo auf ( 2171 m ). Nach Westen bietet sich hier ein imposanter Tief blick in den Schlund des Valle die Selva-romana. Dieses Tal hält den Vergleich mit den wildesten Seitentälern der Bavona aus. Darüber hinaus gleitet der Blick über das dunstbedeckte Vorland bis zur Küste der Adria.
Auf der andern Seite senken sich Schutthänge in die Macchia di Caramanico, ein weitverzweigtes, mit dichtem Buschwald bewachsenes Tal. Kilometerlange, merkwürdig geformte Felsbänder geben dem scheinbar unberührten Tal eine treppenförmige Gliederung. Das Tal mündet in eine weite Senke, aus der sich in der Ferne die Gipfel des Gran Sasso erheben.
Vom Monte Cavallo senkt sich der Grat etwa 100 Meter in einen flachen Sattel am Fusse des 50C Meter hohen Aufschwunges zum Monte Focalone ( 2676 m ), dem nördlichen Eckpfeiler des Maiella-Gipfelstockes. Wir hätten nun dem Grat direkt über diesen Aufschwung folgen können. Er ist sehr steil und fällt rechts in senkrechten, hellen Kalkmauern ab. Wir liessen uns deshalb dazu verleiten wieder unserer Wasserleitung zu folgen, die uns, steil links ansteigend, in ein Tobel hineinführte Eisige Kühle wehte uns hier entgegen. Das Bachbett war zu unserem grössten Erstaunen dick vereist Ein paar Italiener waren bis hieher vorgedrungen, offenbar, um der seit Wochen herrschenden Hitze zu entfliehen.
An dieser Stelle befindet sich die Wasserfassung - und gleichzeitig das Ende des Weges. Über Eis, Schutt und schneeweissen Fels kletterten wir nach rechts aus dem Tobel hinaus und erreichten ein hüfthohes Legföhrenwäldchen. Höher oben verhinderten glattgescheuerte Felsstufen einen direkten Aufstieg, doch fanden wir dicht darunter eine Pfadspur, die durch Geröllhalden schräg links aufwärtsführt. Hoch oben querten wir die Eisrinne ein zweites Mal. Zuletzt auf einem überwölbten Felsband ansteigend, erreicht der Weg die Nordostschulter des Monte Focalone ( etwa 2500 m ) und damit den Rand des weiten, welligen Gipfelplateaus.
Unter uns lag ein trogförmiges, von bizarren Felsformen eingefasstes Kar, in dessen Grund die letzten spärlichen Gräser sprossen. Als braunglänzender, kahler Schuttrücken überragt der Gipfelgrat des Monte Acquaviva diese Talmulde, die gegen Osten in eine kaum erfassbare, dunstige Tiefe sinkt.
Die Wanderung über den breiten Rücken des Monte Focalone zum Monte Acquaviva ( 2737 m ) ist mühelos. Sie lässt dem Wanderer Zeit, die Eigenart dieses Gebirges zu erfassen. Die Schluchten und Felswände treten zurück, und oben, vom Monte Focalone an, wird die Landschaft beherrscht von dem Hochplateau, dessen vollständig kahle Schuttfelder sich kilometerweit mit geringem Höhenunterschied hinziehen. Der Berg gleicht hier eher einer Wüste als den Alpen. Kein Geräusch dringt bis in diese Einöde herauf; einzig das trockene Klirren der Gesteinssplitter unter den Schuhen durchbricht die Stille.
Auch der Monte Acquaviva erhebt sich nur als gelbe, etwas höhere Schuttkuppe aus der Hoch-ebene.Vier Stunden nach unserem Aufbruch auf der Maielletta machten wir die letzten Schritte über seinen Gipfelrücken. Die Aussicht ist monoton und grossartig zugleich. Zuerst ist nichts zu sehen als ein uferloses Dunstmeer auf der einen und grau glänzende Schuttfelder auf der andern Seite. Kein Vorgebirge trennt die Maiella vom flachen Küstenvorland; unvermittelt fällt ihre Ostflanke 2400 Meter tief ab. Erst allmählich durchdringen die Augen die über der Ebene lagernde Dunstschicht. Helle Flecken kennzeichnen die Dörfer und Städte. Eine schwach gekrümmte Linie scheidet die dunkleren Farbtöne im Vordergrund vom Meer, das sich in der Ferne im Blau des Himmels verliert.
Die übrigen Apenninengipfel treten vor diesen beherrschenden Eindrücken in den Hintergrund, obwohl die Sicht vom Monte Gargano im Süden bis zum Monte Vettore im Norden reicht. Einförmig sich einordnend, ragen ihre Ketten, eine hinter der andern, aus der herbstlichen Dunstschicht. Vergeblich sucht das Auge hier oben nach den bunten Farbkontrasten, die die Aussicht von unsern Alpengipfeln beleben. Der Eindruck der kontinentalen Weite wird durch keine Einzelheiten aufgelockert. Karg in Form und Farbe, hinterlässt die Sicht vom Monte Acquaviva den Eindruck des Unendlichen, Endgültigen.
Die Sonne stand schon tief, als wir über den Monte Focalone und seinen steilen Nordgrat abstiegen. Der Dunst über dem Küstenvorland ballte sich zu einer kompakten Nebeldecke zusammen, auf die unser Berg seinen wachsenden Schatten warf. Rasch hereinbrechende Kälte begleitete den Sonnenuntergang, der die kahle Felslandschaft für kurze Zeit mit südlicher Farbenpracht übergoss.