Meije-Nordwand - Couloir du Corridor | Club Alpin Suisse CAS
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Meije-Nordwand - Couloir du Corridor

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Ruth Steinmann-Hess, Zürich

Schon drei Jahre sind 's her, als wir während eines der Dauphiné gewidmeten Tourensom-mers in La Grave Rast machten. Interessiert durchstreiften wir damals das am steilen Berghang sich anschmiegende alte Dorf mit seinen Natursteinhäusern und seiner romanischen Kirche. Genüsslich kosteten wir anschliessend vom braunen Bauernbrot, das man uns mit einheimischem Käse und einem Glas « vin du pays> servierte. Doch immer wieder schweiften unsere Blicke hinauf zu dem alles beherrschenden Massiv der Meije, deren höchster Punkt, der Grand Pic, 3982 Meter in den Himmel ragt. Wie wohl jeder Alpinist hat mich die Schönheit und der wilde Charakter dieser Berge tief beeindruckt.

Befasst man sich mit der Erschliessungsgeschichte der Region, stösst man schon im Jahre 1864 auf bekannte Namen. So stiegen Moore, Walker, Whymper bereits dazumal mit den Führern C. Almer und M. Croz zur 3357 Meter hoch gelegenen Brèche de la Meije auf. Noch vor Ende des letzten Jahrhunderts konnten dann die meisten Gipfel erstmals bezwungen und verschiedene Routen vollständig begangen werden. Auch hier finden wir unter den Erschliessern wieder derart berühmte Männer wie E. und O. Zsigmondy, Purtscheller, Gaspard und Sohn, Boss, Mayer, Dibona, Rizzi und andere. Aber erst verhältnismässig spät, nämlich im Jahre 1961, ist der Eisanstieg auf der Nordseite über das Couloir du Corridor vom Ehepaar Déchamp mit den beiden Führern M. Liotier und J. Véron eröffnet worden.

Jetzt, im Sommer 1978 haben wir uns erneut in La Grave eingefunden. Diesmal ist die Nordwand der Meije, die uns als passionierte Eisgeher natürlich besonders lockt, unser Ziel. Von unserem Standort aus können wir nun die dunkel über dem Meije-Gletscher hochstrebenden Felszähne und Spitzen, die von zwei markanten Eisrinnen durchzogen sind, beobachten. Ihnen gilt unsere ganze Aufmerksamkeit.

Der Aufstieg zur Aigle-Hütte weist eine Höhendifferenz von 2000 Meter auf und beansprucht damit gute 6 Stunden. Diese Tatsache und der Umstand, dass die Sonneneinstrahlung mittags zwischen 1400 und 3400 Metern eine beachtliche Hitze zu entwickeln vermag, veranlassen uns, am nächsten Morgen bereits um 6 Uhr früh die Rucksäcke zu schultern.

In unzähligen engen Windungen führt der schmale Pfad bergan. Immerhin lässt uns die vielfältige Bergflora den ruppigen Anstieg etwas vergessen. Nebst Berganemone, Vergissmeinnicht, Hauswurz und sogar Edelweiss begegnen uns auch weniger beliebte Pflanzen wie Brennessel und kleine Bolacken. Später kreuzen einige hier ziemlich verloren wirkende Schafe und Lämmer unseren Weg auf der abschüssigen Moräne. Die letzten 21/2 Stunden führen uns schliesslich über den zerklüfteten Tabuchet-Gletscher, bevor wir, hinter einem kleinen Felszahn, die Aigle-Hütte auf 3450 Meter entdecken.

Erst später vernehmen wir, dass dieser Anmarschweg kaum mehr benützt wird und jetzt ein besserer Pfad von Villar-d'Arêne ( bei Pont Vieux ) heraufführt. Vorläufig bietet die bescheidene, nur zwanzig Plätze umfassende Berghütte, die 1910 erbaut und seither nicht mehr vergrössert wurde, ein Bild des Friedens und der Ruhe. Eine blonde, junge, als Hüttenwartin tätige Studentin kocht für einige Touristen Cassoulets, während ein paar müde Alpinisten auf den Matratzen schlafen.

Aber nach und nach füllt sich die Unterkunft. Bereits beginnt der Raum zwischen Tisch, Bank, Rucksäcken, Bergschuhen, behaarten oder besockten Beinen knapp zu werden. Abwartend ziehen wir uns auf die obere Schlafkoje zurück... und wieder betreten drei Männer die Hütte, bald gefolgt von einer Partie junger Leute... Das Summen verschiedener Kocher vermischt sich mit Stimmengewirr in französischer, englischer und deutscher Sprache. Ein Parfumgemisch, als dessen Hauptbestandteile sich der Geruch von Gas, Erbsensuppe und ungewaschenen Socken eruieren lässt, erfüllt bald die Luft. Sauerstoff wird zunehmend zur Mangelware, vor allem, weil einige Insassen sich standhaft weigern, die Türe auch nur einen Spalt breit zu öffnen. Ihr Wahlspruch scheint eben zu lauten: Verstunken ist noch niemand, erfroren sind schon viele...

Ich vermag nicht genau zu sagen, wie viele Menschen sich in dieser Nacht schlafend oder dösend hier aufgehalten haben. Es mögen an die 45 gewesen sein. Jedenfalls sind wir froh, als es 2 Uhr und damit für uns Zeit zum Aufstehen ist. Eng aneinandergedrückt, ziehen wir uns an, ständig bestrebt, die benachbarten Schläfer nicht aufzuwecken. Ein Blick über die Kante des oberen Matratzenlagers zeigt uns im Lichtkegel der hinabzündenden Taschenlampe, dass auch der Fussboden über und über mit Menschen bedeckt ist. Gleich Hering-filets in einer Dose drängt sich hier Körper an Körper, und selbst der Raum auf und unter den Tischen haben verschiedene zu ihrer Ruhestätte gemacht. Erst als es uns gelingt, unsere Plätze mit zwei abzutau-schen, können wir es wagen zwischen den Schläfern Fuss zu fassen. Während wir in Schuhe und Gamaschen schlüpfen, summt auf dem blechernen Apothekerkasten, der einzigen nicht besetzten Ablagefläche, der Kocher...

Mit Steigeisen und Pickel bewehrt, traversieren wir, nur von ein paar Sternen begleitet, im Schein der Stirnlampen den Tabuchet-Gletscher nach Westen bis zum Col du Serret du Savon. Anschliessend steigen wir etwa 170 Meter über ein steiles Couloir ab, das in eine gähnende Randkluft ausmündet, wo der Lichtstrahl unserer Lampe sich im unergründlichen Schlund verliert. Nach dessen Überwindung wenden wir uns gegen Südwesten und erreichen nach 1 Vi Stunden ( ab Hütte ) den Wandfuss des Couloir du Corridor. Hier versperrt uns der bös zerklüftete Bergschrund mit einer unübersteigbar sich aufbäumenden Oberlippe den Weiterweg. In der Hoffnung, die gewaltige Kluft irgendwo überlisten zu können, stapfen wir suchend ihrem vielfach zerrissenen Rand entlang.

Inzwischen ist noch eine Zweierseilschaft, ein Bergführer mit seinem Gast, zu uns gestossen, die nun wie wir nach einer gangbaren Einstiegsmöglichkeit Ausschau halten. Eine halbe Stunde später finden wir tatsächlich eine solche Stelle, wenn auch sehr weit links ( d.h. in östlicher Richtung ).

Mit der rechten Hand den Pickel hoch oben verankernd, mit der Linken den Eishammer einschlagend, ziehen wir uns mit angehaltenem Atem über die den Schrund überspan-nende, filigrandünne Schneebrücke empor. Glücklicherweise bricht das wenig vertrauen-erweckende Gebilde unter unserem Gewicht nicht zusammen. Dafür steht uns jetzt die Route offen. Nun wieder etwas westlich haltend, steigen wir gleichzeitig bis zu einem Felsvorsprung an. Der neue Tag beginnt zu erwachen. Felsen, Eiscouloir und der unter uns liegende Gletscher zeichnen sich allmählich im fahlen Dämmerlicht ab. Während die Füh-rerseilschaft die Felsrippe rechts ansteuert und diese zum Aufstieg benutzt, versuchen wir es etwas mehr links. Beide Varianten er- weisen sich als gangbar, und wir treffen weiter oben im Eis wieder aufeinander. Dieses steilt sich jetzt auf und bildet eine 50° geneigte Rippe, die jedoch mit Firn gepolstert und dementsprechend gut begehbar ist.

Französische Bergführer sind höflich zu Frauen, selbst wenn sie nicht zu ihren Gästen zählen und sich in Eiswänden herumtreiben. Man kann ja nie wissen, ob sie nicht eines Tages einen Führer benötigen...

Dagegen scheint es dem Gast gar nicht zu behagen, dass sich ein weibliches Wesen hier herumzutreiben wagt. Sooft es ihm Steigen oder Sichern erlauben, schiesst er giftige Blicke wie Pfeile nach mir, die freilich alle an meinem Heim abprallen. Schliesslich versuche ich die Situation mit weiblichem Charme zu entschärfen. Ein Unterfangen, das in Anbetracht meiner wenig eleganten Kleidung allerdings zum Scheitern verurteilt ist. Derbe, weibliche Reize diskret verhüllende Lodenhosen, die in abgewetzte, blaue Gamschen münden, Bergschuhe mit messerscharfen Steigeisen, statt hübsche Schuhe mit spitzen Absätzen, ein abgenützter, ehemals weisser Heim anstelle eines koketten, blumengeschmückten Sommerhütchens, das bietet wohl eine allzu schlechte Ausgangslage. Angesichts dessen gebe ich meinen freundschaftlichen Annäherungsversuch bald auf und nehme zur Kenntnis, dass Frauen von einigen Herren der Schöpfung nicht immer und überall gerne gesehen werden.

Der Tiefblick wird nun zunehmend eindrucksvoller. Links unter uns die grosse Serakzone, deren drohend-bläuliche Türme und Abbruche uns im Aufstieg an das gigantische Werk eines Bildhauers erinnert und eine gefährliche, aber zugleich faszinierende Ansicht geboten haben. Dann die sich in der Tiefe des Gletscherkessels langsam zurückziehenden Schatten der Nacht. Schliesslich, weit unten einige Bergsteiger, die im Begriffe stehen, das Becken zu traversieren.

Da schreckt uns ein gewaltiges Krachen aus unseren Betrachtungen. Einer der Eistürme ist dem Druck der nachstossenden Gletschermasse gewichen und ergiesst sich nun als berstende, tosende, polternde Flut, einem enormen Wasserfall ähnlich, in die Tiefe. Tonnenschwere Brocken, Unmengen von zersplittern-dem Eisgeschiebe stürzen, fächerförmig sich ausbreitend, talwärts und bedecken den unteren Teil unserer Aufstiegsroute. Wir aber be- finden uns bereits in Sicherheit, wenigstens was die Gefahren aus dieser Zone anbelangt.

Darf man hier von Vorsehung sprechen? Warum haben wir heute morgen den ehrgeizigen Wettlauf mit der Führerpartie begonnen, wo ich mich doch sonst so ungern hetzen lasse? Warum ist der Turm nicht etwas früher eingestürzt? Fragen, die mir im Kopf herumgehen, die aber ohne Antwort bleiben. Bloss Vermutungen lassen sich anstellen.

Zwischen zwei Felsriegeln höherkommend, erreichen wir den Trichter, der uns mit äusserst brüchigem Blankeis empfängt. Das erfordert nicht nur härtere Arbeit, sondern auch sorgfältiges Gehen auf den Frontzähnen der Steigeisen, konzentriertes Einhacken von Pickel und Eishammer und das Setzen von Zwischensicherungen. Dies alles - Standplatz hacken, Schrauben eindrehen, Karabiner einschnappen, Seil einziehen - stellt eine Tätigkeit dar, die sich auf vielen gemeinsamen Touren eingespielt hat. Jeder kennt seinen Bereich, kann sich auf den andern verlassen.

Der Atem fliegt. Rechts von uns erhebt sich die Felsspitze des Grand Pic, zu der wir im Verlauf unseres Anstieges oft aufgeschaut haben. Jetzt, wo wir uns fast auf gleicher Höhe In der Meije-Nordwand befinden, hat sie ihren dominierenden Charakter verloren. Links davon schliessen sich der Pic Zsigmondy sowie die etwas niedrigeren Zähne an, die zum Pic Central überleiten.

Damit sind wir am Ende des Couloir du Corridor angelangt, seine Wülste und Blankeiszonen in nur Vh Stunden hinter uns bringend. Die Aussicht ist prächtig! Über dem Zackengrat wölbt sich ein tiefblauer Himmel, während sich weit unten im Tal das Dorf La Grave an die steilen Alphänge kuschelt. Mit seinen natursteinfarbenen Häusern fügt es sich gut in diese grüne Gebirgsregion ein.

Wir steigen zur Aigle-Hütte ab, die nun wieder ein friedliches Bild bietet. Die junge Hüttenwartin bäckt Speck und Spiegeleier, Leckerbissen für hungrige Bergsteiger. Auf den Schlafstellen ruhen einige Alpinisten...

Wir haben es eilig, ins Tal hinunterzukommen, möchten wir doch heute nacht mehr Platz und vor allem mehr Luft zum Schlafen haben!

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