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Mit Ski von Haute Ubaye bis Queyras

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON HANS SOMMER, GENF

( Cottische Alpen ) Mit I Skizze und 3 Bildern ( 35-37 ) Eine der wenigen Gegenden in den Westalpen, die vom Siegeszug der Bergbahnen bis heute verschont geblieben sind und noch keine « Touristenschwemme » erlebt haben, ist das Bergmassiv zwischen dem Mont Genèvre und dem Col de Lärche, beidseits der französisch-italienischen Grenze. Seine Gipfel erreichen eine Höhe von 3000 bis 3840 Meter, die zwar mit Ausnahme des Monte Viso den « Extremen », also den Kletterern des sechsten Grades, keine besondern Attraktionen bieten und mit sehr bescheidenen Gasthöfen und Hütten aufwarten; dafür kann man dort durch herrliche Pinien- und Lärchenwälder streifen, unzählige Murmeltiere beobachten, und die wenigen ärmlichen Bewohner sind liebenswürdig und gastfreundlich. Dort herrscht die Stille der unberührten Natur, weiden in aller Ruhe und Einsamkeit die Schafe, während die Berge ihre stolzen Häupter in den bereits südlichen Himmel recken.

Ich habe Queyras und Haute-Ubaye im Sommer 1963 kennengelernt und mir damals vorgenommen, in einem Winter oder Frühjahr mit den Ski wiederzukommen. Die Gelegenheit bot sich im Mai 1966, als die Sektion Grenoble des CAF eine Überschreitung des Col de Lärche bis Abriès in Queyras plante, und zwar auf der in der Skizze auf Seite 61 eingezeichneten Route. Während dieser Tour bewältigten wir mehr als 120 Kilometer auf den Brettern, eine Höhendifferenz von etwa 6600 Metern nach oben und ebensoviel nach unten. Das Fehlen von sichern Auskunftsmög-lichkeiten über gewisse Strecken, die spärlichen Wegmarkierungen und die äusserst primitiven, zum Teil sogar verwitterten Unterkünfte verwandelten unser Unternehmen beinahe in eine Expedition, wie sie sich anderswo nur in frühern Zeiten abgespielt haben mag, ja, in ein Abenteuer, das uns fünf Teilnehmern unvergesslich bleiben wird.

In aller Frühe fahren wir von Grenoble aus über Gap und Barcelonnette, über den Col de la Croix-Haute, kommen am Stausee von Serre-Ponçon vorbei und befinden uns bald darauf in den Pinien- und Lärchenwäldern von Ubaye. Weiter geht es dort über St-Paul bis Maurin, wo die Fahrstrasse endet und wir alle Lebensmittel zurücklassen, die wir während der ersten zwei Tage nicht benötigen. Dann steigen wir zum Col de Lärche auf und übernachten dort zum letztenmal in einem bequemen Hotelbett. Zwei liebenswürdige Ehefrauen haben uns bis zum Ausgangspunkt begleitet, um mit den Autos zurückzufahren und uns am Ende unserer Durchquerung wieder in Empfang zu nehmen.

Wie Lastesel, beladen mit unsern Ski, Pickeln, Schlafsäcken, mit Proviant für zwei Tage, Kochtopf und Rettungsschlitten, ziehen wir am nächsten Morgen um 5 Uhr los. Glücklicherweise ist es nicht allzu weit bis zum Col de la Gypière d' Oronaye, so dass wir anderthalb Stunden später bei Sonnenaufgang bereits die vielen unbekannten stolzen Gipfel in der Runde bewundern können. Bis zum Mittag folgen eine steile Abfahrt auf Hartschnee bis zum Fuss des Col de la Portioletta mit angenehmem Aufstieg, eine schöne Abfahrt und abermals ein Anstieg zum Col du Vallonet. Von dort gleiten wir am Nachmittag wieder zu Tal, um anschliessend den Pas de la Couletta zu besteigen, von wo wir zu unsern Füssen das Refuge Chambeyron oder Jean-Coste sehen können, unser heutiges Reiseziel, das wir gegen 5 Uhr abends erreichen. 1680 Meter Höhendifferenz und zehn Stunden auf den Beinen! Ein guter Anfang!

Leider müssen wir feststellen, dass sich die Unterkunft in einem miserablen Zustand befindet: Dach und Fenster sind schadhaft, eine Heizung gibt es überhaupt nicht, Schmutz und Feuchtigkeit haben sich im Innern eingenistet. Gut, dass wir ordentlich ausgerüstet sind! Während der Nacht wird infolge eines Schneesturms der Aufenthalt in dieser dürftigen Behausung noch unangenehmer, so dass wir sie bei Tagesanbruch gerne verlassen, um die zweite Etappe, die uns auf die höchste Erhebung in diesem Massiv, auf die 3400 Meter hohe Aiguille de Chambeyron, führen soll, unter die Füsse zu nehmen.

In knapp zwei Stunden rücken wir gegen den Col de la Gypière bis auf etwa 3000 Meter vor, wo zwischen dem Brec de Chambeyron und der Pointe de la Frèma ein wildes, herrliches, kesseiförmiges Tal liegt. Wir betreten italienischen Boden, und über das Biwak Barenghi geht es abwärts zum Col de l' Infernetto, den wir nach einer langen Schräghangtraversierung erreichen. Eine sehr schöne Abfahrt, äusserst steil und auf den Brettern nur mit Vorsicht zu bewältigen, bringt uns an den Fuss des Mont Csiaslaras, den wir übersteigen müssen, um auf den Col Mary und zur französischen Grenze zu gelangen.

Bei all dem Auf und Ab ist es Mittag - und der Schnee weich geworden; die Verhältnisse werden immer ungünstiger, so dass uns sogar der Anblick der prächtigen Aiguille Pierre-André nicht mehr recht zu ermuntern vermag. Doch alles hat sein Ende, und so winkt uns nach einer weiteren mühseligen Stunde aus der Ferne der Kirchturm von Maurin - und das Refuge Maljasset. Nach zehnstündigem Marsch sind wir froh, kurz vor der Hütte unsere Ski abschnallen zu können.

In der Unterkunft, einer umgebauten Meierei, werden wir vom Hüttenwart, Herrn Gentil, begrüsst, der seinem Namen wahrlich alle Ehre macht. Gebürtig in Aix-en-Provence, hat er als ausgezeichneter Bergsteiger und Bergführer diese Gegend liebgewonnen und opfert seine Freizeit, indem er das Haus eigenhändig im provenzalischen Stil mit Lärchenholzmöbeln ausstattet. Wir sind heute seine einzigen Gäste, und bald richten wir uns denn auch an der Sonne gemütlich ein, versorgt mit Bier, Limonade und Pastis, und am Abend lassen wir uns ein Gericht aus der Provence munden: mit Knoblauchsuppe und Löwenzahnsalat.

Am dritten Tag unseres Unternehmens machen wir uns bei Tagesanbruch und herrlichstem Wetter auf den Weg; zu Fuss und auf den Brettern folgen wir dem Ubaye-Hochtal, das sich gemächlich zum Col Longet und zur italienischen Grenze erhebt. Die Sonne lockt bald unzählige Murmeltiere aus ihren Bauen hervor; sie geniessen die wärmenden Strahlen ebenso wie wir Menschen und pfeifen wie Lokomotiven auf einem Rangierbahnhof. Nach fünfstündigem Marsch kommen wir auf dem Pass an, wo sich der Blick auf das ganze Monte-Viso-Massiv öffnet. Eine sehr steile Abfahrt über herrliche, von Lärchenwäldern durchzogene Hänge bringt uns bis eine Viertelstunde über Chianale, das erste italienische Dorf, wo wir die Schlüssel für das Refuge Soustra des CAI abholen und uns wieder mit Lebensmitteln eindecken müssen. Das Dorf selbst ist von einer Armseligkeit, wie wir sie nördlich der Alpen kaum finden; alles scheint schmutzig und verfallen, aber im Gegensatz dazu ist jeder Fleck Boden sorgfältig bebaut, und überall auf den terrassenförmigen Hängen sieht man die Bauern bei ihrer Arbeit. Auch dies ist ungewöhnlich für uns « Nordländer »; denn in einer Meereshöhe von 1800 Meter denken wir kaum mehr daran, Äcker zu bestellen.

In dieser Gegend braut sich nachmittags mit Vorliebe ein Gewitter zusammen, und so steigen auch wir heute unter finsterem Himmel in drei Stunden zum Refuge Soustra hinauf, das uns, inmit- ten riesiger Weideflächen und gutunterhaltener Maiensässe gelegen, durch seine Sauberkeit und gute Einrichtung überrascht. Während draussen das Unwetter mit aller Gewalt losbricht, sinken wir bald in einen erholsamen Schlaf.

Der vierte Morgen macht wieder ein freundliches Gesicht und lässt uns unter wolkenlosem Himmel zum Passo Losetta auf 3000 Meter hinaufmarschieren, wo wir den Monte Viso von der Nordseite sehen können. Auf einer berauschenden Abfahrt verlieren wir gewaltig an Höhe, aber leider schwindet dabei auch der gute Schnee ganz bedenklich; bald schwimmen wir in einer wahren « Suppe », und es gibt spektakuläre Stürze und entsprechende Flüche. Schliesslich wird es uns zu bunt, und so buckeln wir eben unsere Ski in einem Pinien- und Lärchenwäldchen, am Ufer eines Baches, dessen Wasser zwischen den letzten Schneeflecken rieseln. Es wird auch höchste Zeit, dass wir unsere Magen besänftigen, die sich nicht mehr länger mit hohlen Versprechungen abspeisen lassen.

Nach einem währschaften Picknick im Grünen nimmt unsere Rast aber ein jähes Ende, als unser Tourenleiter energisch Aufbruch gebietet, damit wir den Aufstieg zum Refuge Quintino Sella, 2800 Meter, also eine Steigung von rund 1200 Metern, in Angriff nehmen. Vorerst geht es durch den Wald, dann über unabsehbare, endlose Sonnenhänge, wo wir sogar mit den Ski knietief einsinken. Dazu zieht wiederum ein Gewitter von der Poebene her auf, so dass wir bald von Wolken umhüllt sind. Endlich, erst gegen 6 Uhr abends, kommt die Hütte in Sicht, ein kahler, dreistöckiger Bau, der uns mit einer bitteren Enttäuschung aufwartet: Da steht nämlich keine Hütte; vielmehr ist die vermeintliche Winterunterkunft in Wirklichkeit ein Maultierstall. Fenster gibt es überhaupt keine, der Fussboden ist spärlich mit feuchtem, übelriechendem Stroh bedeckt, weder eine Heizung noch Möbel sind vorhanden: eine kaum bewohnbare Behausung. Aber wir können unmöglich noch weiter. Und wo ein anderes Nachtlager finden? Die Auskünfte des CAI und der Sektion Turin, deren Mitglieder von einer komfortablen Unterkunft erzählten, haben uns ganz gehörig in die Patsche gebracht! Den einzigen Trost bietet die eindrucksvolle Sicht auf die italienische Ebene, wo tausend Lichtlein, eins nach dem andern, bei einbrechender Nacht aufflammen.

Der fünfte Tag unseres Abenteuers zieht fahl und milde auf und wird von uns in der « Winterhütte » Gefangenen mit Erleichterung begrüsst. Nach einer so ungemütlichen Nacht brennen wir darauf, jenseits der Berge, in Queyras, eine gastfreundlichere Stätte zu finden. Bald steigen wir auf angenehmem Terrain zu den Quellen des Po ab; doch liegt auf der untern Hälfte Pappschnee. Gegen 10 Uhr sind wir in Pian del Re, unterhalb der Po-Quellen, wo wir die ersten Menschen seit zwei Tagen antreffen, Skifahrer aus Turin, die zum Refuge Quintino Sella aufsteigen.

Nach kurzem Halt machen wir uns über den Col de la Traversette, 2914 Meter, auf den Weg nach Queyras. Das Wetter ist drückend, und auf allen Seiten donnern Lawinen zu Tal. Nach dreistündigem Marsch unter bleierner Sonne kommen wir auf der Höhe der ehemaligen italienischen Befestigungen unterhalb der Passhöhe an. Trotz der im Winter unwirtlichen Gegend hat dieser Pass schon vor Jahrhunderten als Übergang gedient, besonders im Mittelalter. Franz I. liess hier sogar einen Tunnel bauen, um den Nachschub für seine Truppen im Italienfeldzug zu erleichtern. Man kann den Durchgang heute noch sehen, aber nicht mehr benützen.

Bei den misslichen Schneeverhältnissen und der drohenden Lawinengefahr wagen wir nicht, auf dem zum Pass führenden Schneefeld aufzusteigen, sondern ziehen den Umweg auf dem felsigen Grat vor, ein zwar mühseliges Unterfangen, das uns eine anderthalbstündige Anstrengung kostet ( anstatt der fünfzehn Minuten auf der Normalroute ). Doch wir tun gut daran: Auf dem Grat löst sich ein Stein, rollt auf das Schneefeld hinunter, und augenblicklich verwandelt sich der ganze Hang vor unsern entsetzten Augen in eine riesige Lawine, stürzt unter Tosen wie ein Wasserfall 300 Meter zu Tal, dass es von den Bergwänden widerhallt.

Die Abfahrt im tiefen Faulschnee auf der französischen Seite ist steil, und schon nach zwei Stunden erreichen wir den Endpunkt der Queyras-Route am Ufer des Guil, auf etwa 1900 Meter.

Aber eine neue Prüfung steht uns bevor: Abriès, die nächste bewohnte Ortschaft, ist noch 15 Kilometer entfernt. Wir schnallen unsere Ski ab und nehmen den endlosen Weg unter die Füsse. Nach einer Viertelstunde rasten wir in einer Försterhütte, während der nimmermüde Claude ohne Gepäck weitermarschiert, um ein Fahrzeug aufzutreiben. Schon nach fünfzehn Minuten kommt er mit einem Peugeot 403 samt bärtigem Besitzer zurück, der uns und den ganzen Ballast bis Abriès kutschiert, jede Entschädigung - bis auf ein Gläschen Rotwein - ausschlagend. Ein echter Bergler, der es ganz natürlich findet, dass man einander unter Kameraden zur Hand geht.

Bei Regen fahren wir in Abriès ein, wo wir uns bei einer kräftigen Mahlzeit, unter der Dusche und in einem weichen Hotelbett von den Strapazen erholen. Wie gut lässt sich zehn Stunden hintereinander schlafen, eingelullt vom Regen, der ans Fenster prasselt, wenn man eine Zeit in den Bergen, fern vom grossen Touristenstrom und den Mühen und Sorgen des Alltags, verbracht hat!

( Aus dem Französischen übersetzt von Rina Vögeli )

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