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Neue Kletterwege im Tessin

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Ernst Attinger.

Glücklicher Tessin! Verschont von Turistenströmen sind deine Gipfel und Gräte! Das zarte Blassblau der Myosotispolster vegetiert in deinen Felsbergen unberührt von Menschenhand. Auf den Gletschern und Pässen des Corno-, Basodino- und Campo Tencia-Gebietes mögen sonntags einmal alpine Horden die Ruhe der Natur stören. Ausser dem Einzugsgebiet dieser Hütten aber kann der Wanderer Tage und Wochen wohl Murmeltier und Bergdohle, kaum aber Menschen begegnen. Die Zugänge sind weit und mühsam; in den Alpregionen sind seltene und meist schlechte Unterkünfte. Uns aber kümmert das wenig. Wir wissen mehr als Gustav Freytag, der die Menschen belächelt, die in schlechten Alphütten nächtigen um des irdischen Morgenrotes willen. Wir wissen, dass dieses irdische Morgenrot uns dem überirdischen so nahe bringt wie kaum ein anderes Erleben.

Tessiner Alpen, für euch schlägt mein Bergsteigerherz! Zwischen dem Campanile di Galarescio und dem Torrone d' Orza schimmern hundert Spitzen in fast erdferner Einsamkeit. Da stehen manche Gräte, die keines Menschen Fuss je berührt. Welch andres Alpenland kann sich heute noch dessen rühmen?

Campanile Galarescio über den Nordwestgrat.

Im Val Casinello steigt man ( Karte % cm westlich vom P des Pizzo Folcra ) südwestwärts gegen den Grat auf, den man direkt südlich des letzten, hohen, nördlichen Gratkopfes erreicht ( dieser nördlichste Gratkopf ist auch auf der Karte 1 cm westlich des P des Pizzo Folcra eingezeichnet ). Von hier an wird die Gratkante selbst benutzt. Einmal wird ein kleinerer Turm dadurch überwunden, dass man mittels eines kurzen Tunnels hindurch kriecht. Ziemlich hoch oben durchsteigt man einen höheren Grataufschwung südwestlich der Gratkante durch ein faules Kamin. Stellenweise trifft man auf wirklich schöne Kletterei, besonders in den oberen Teilen, wo die turmartigen Gebilde vor der letzten tiefen Gratscharte stehen 1 ). Der nördlichste dieser auf der Skizze sichtbaren Türme weist eine kleingriffige senkrechte Südwand auf, über die man in sehr schöner Kletterei in die Lücke zwischen diesem und dem nächsten Gratturm hinuntersteigt. Der südlichste grosse Gendarm vor der Gipfellücke kann nur durch Abseilen in diese Lücke überschritten oder muss in seiner Nordostwand umgangen werden.

Dieser neue Aufstieg über den Nordwestgrat und der normale Abstieg über den Südgrat ergeben eine interessante Überschreitung dieses Gipfels.

Der Campanile Galarescio, auch Nordgipfel des Pizzo Galarescio genannt, ist vom Pizzo Galarescio-Südgipfel durch die tiefeingeschnittene Bocchetta l>2 NEUE KLETTERWEGE IM TESSIN.

Galarescio getrennt. Überdies sind diese beiden Spitzen in Form und Charakter so grundverschieden und selbständig, dass es klarer und eindeutiger wäre, den nördlichen Gipfel wie bis jetzt Campanile, den südlichen aber kurzweg Pizzo Galarescio zu nennen.

Dieser südliche Gipfel oder Pizzo Galarescio, wie wir ihn also zum Unterschied vom Campanile Galarescio nennen wollen, besteht aus einem scharfen nordsüdlich gerichteten Grat, dem drei bizarre, fast gleich hohe Türme aufgesetzt sind.

Neu ist nun auch die Längsbegehung dieses ganzen Grates mit Überschreitung der drei Türme, wobei man fast immer der Gratkante folgen kann.

Die ganze Gratlinie, Campanile Nordwestgrat-Südgrat, Bocchetta Galarescio, Pizzo Galarescio Längstraversierung, ergibt eine genussvolle, etwa Pizzo Galarescio Campanile Galarescio I Gendarmen im Nordwestgrat Campanile Galarescio von Osten.

fünf- bis sechstündige Kletterei. Rechnet man dazu noch den Zumarsch von Bedretto etwa drei Stunden und den Abstieg zum Rifugio Basodino etwa zwei, so ist dafür gesorgt, dass man die Nacht ohne Schlafpulver übersteht.

Die herrlichste aller Felsfahrten im oberen Tessin aber führt über den Ostgrat des Poncione di Valleggia.

Wissend um die Jungfräulichkeit dieser kühnen Gratlinie, massen wir sie mit scheuem Auge, als wir, vom Galarescio absteigend, an der Cima delle Donne Rast hielten. Die Möglichkeit der Begehung dieses Grates schien uns durch zwei lotrechte, glatte Abstürze zu Beginn des zweiten und des letzten Viertels der Gratschneide stark in Frage gestellt. Von unserem südlich gelegenen Standpunkt beurteilt, machte diese luftige Kante infolge der Schroffheit und geringen Gliederung der Südwand einen geradezu abweisenden Eindruck. Wie wir am nächsten Morgen feststellen konnten, ist diese abweisende Glätte in der geologischen Struktur dieses Grates begründet. Der- NEUE KLETTERWEGE IM TESSIN.

selbe besteht in seiner ganzen Länge beinahe durchwegs aus einer ausgezeichnet kompakten Gneisschicht, also einer Gesteinsart, die sich in ihrer Schroffheit und Festigkeit für den Kletterer in vorteilhaftester Weise von dem geologischen Baumaterial der näheren und weiteren Umgebung unterscheidet.

Den Passo Valleggia erreichten wir von der Basodinohütte über den Lago Bianco in gut zweieinhalb Stunden. Das erste Stück des Ostgrates selbst, massig steil und gleichmässig geneigt, gibt erst in den oberen Partien eigentliche Kletterarbeit. Im obersten Teil dieses ersten Stückes wird auf schmalen Leisten in die Nordwand ausgewichen, um den Einschnitt vor dem ersten senkrechten Grataufschwung zu erreichen. Dieser Punkt ist in der untenstehenden Skizze festgehalten. Schon sind wir mitten in herrlichster Felsarbeit, und doch hat der ernsthafte Teil des Unternehmens erst begonnen. Der Grataufschwung scheint, aus der Ferne beurteilt, nicht in direkter Linie bezwingbar, denn mit scheinbar völlig glatter und lotrechter Wand steigt derselbe aus der kleinen Scharte empor. Beim näheren Heranrücken entdeckt man aber, dass diese Wand durch ein enges Stemmkamin gespalten ist. Oben wird dasselbe durch einen kleinen Überhang abgeschlossen, welch letzteren man nach links überschreitet. Direkt anschliessend ist eine kurze Stelle schlechten Gesteins auf der Südseite des Grates zu passieren, um wieder den letztern selbst zu erreichen. Längs diesem, auch kleinere Gendarmen überschreitend, bis vor einen grossen, doppelgipfligen oder, besser gesagt, gespaltenen Gratturm, der westlich wieder senkrecht zu einer tiefer gelegenen Gratpartie abbricht. Der Ostgipfel dieses Turmes wird von der Scharte weg in ausserordentlich interessanter Kletterei ziemlich horizontal in der stellenweise etwas überhängenden Nordwand umgangen. An der überhängenden Stelle ist zudem ein aussergewöhnlich weiter Spreizschritt nötig, währenddessen der Körper stark aus der Wand herausgedrängt wird.

Dieser Schritt bringt uns inAm Einschnitt vor dem ersten senkrechten den gipfelspaltenden dunkelnGrataufschwung. Man sieht den untern Teil Riss.des Stemmkamins.

Vom Riss weg weiter wiederum sehr exponiert auf schmalen Gesimsen horizontal durch die glatte Nordwand des Westgipfels dieses Gratturmes. Durch nochmaliges maximales Spreizmanöver erreichen wir aus der Nordwand die westliche Fortsetzung des Grates, direkt unter dem Westabsturz des doppelgipfligen Gendarms. Nur weiter über den für kurze Zeit etwas zahmeren Grat. Schon stehen wir am zweiten und letzten Im zackigen Ostgrat.

grossen Grataufschwung, der mittels weniger, kleinerer Griffe nahe seiner Ostkante in der Südwand schwierig erklettert wird. Die rissartige Fortsetzung weist lose Griffe und Tritte auf und muss deshalb sorgfältig behandelt werden. Dieser Grataufschwung gehört zum letzten grossen Gendarm, der eigentlich den höchsten Gipfel des Poncione di Valleggia bildet. Noch einige heikle, teils plattige Gratstellen, und wir haben den höchsten Punkt erreicht. Eine kurze Abseilstelle über ein vertikales Wändchen bringt uns auf den Westgipfel, den Treffpunkt der bisher begangenen Nord-und Südgratwege.

NEUE KLETTERWEGE IM TESSIN.

Die Ostgratroute verlangt vom Passo Valleggia zum Gipfel eine Aufstiegszeit von etwa drei Stunden. Sie bietet eine glänzende Kletterei in grandioser Felslandschaft. Betreffs Solidität des Baumaterials, betreffs raffinierter Romantik des Aufstiegs, nicht zuletzt auch betreffs Schönheit und Rasse der Kletterei an sich scheue ich mich nicht, diese Route neben den Südgrat des Gletschhorns zu stellen. Und, was nicht vergessen werden darf, die Aussicht von diesem Gipfel ist einzigartig.

Ostgrat des Poncione di Valleggia ( links ) von Norden, vom Poncione Cavagnolo gesehen.

Poncione Cavagnolo über die Nordwand.

Vom Assassina Vacche her aufsteigend, erreichten wir den gangbaren Sattel im Ostgrat des Poncione Cavagnolo. Der Ostgrat selbst, der seinem Aussehen nach eine interessante Kletterei versprochen hätte, war seiner ausserordentlich schlechten Felsbeschaffenheit wegen nicht begehbar. Die Gratkante besteht in ihrer ganzen Ausdehnung aus so stark verwittertem ockergelbem, wahrscheinlich der Trias oder den Bündnerschiefern angehörigem Material, dass Griff und Tritt wie weicher Sandstein ausbrechen und abbröckeln. Wir stiegen deshalb vom Sattel wieder etwas in die Nordwand ab und steuerten am Fusse des senkrechten Nordabsturzes längs der kompakten Wand auf haltlosen, steilen Schuttbändern und Schrofen nach Westen. Wenig westlich des Gipfels durch die sehr steile, aber ordentlich solide Nordwand direkt aufwärts zum Westgrat, den wir etwa 15 Meter west-Die Alpen — 1936 — Les Alpes.6 lieh vom Kulminationspunkt und nur wenige Meter unter Gipfelhöhe erreichten1 ).

Über den Westgrat in 2 bis 3 Minuten zum Gipfel.

Der Blick von dieser Spitze über die dunkle Nordwand hinunter ist eindrucksvoll; eigenartig sind auch die intensiv ockerfarbene Südwand und Gratkante.

Hermann Ambühl in Uznach und ich begingen die neuen Wege auf Galarescio und Poncione di Valleggia. Niklaus Kohler jun., Bergführer in Willigen, war, wie auf schon so mancher Kletterfahrt, mein Begleiter durch die Nordwand des Poncione Cavagnolo.

!) In Skizze Nr. 82 des Guida delle Alpi Ticinesi, Edizione 1932, ist die Nordwand als beinahe schwarze, schmale und fast senkrechte Fläche einschraffiert. Ziemlich genau in der Mitte dieses schwarz schraffierten Feldes müsste unsere Route eingezeichnet werden.

Gebet eines ägyptischen Arbeiters an die Bergspifye.

Ich bin ein unwissender Mann, der keinen Verstand hat, und vermag Gut und Böse nicht zu unterscheiden. Ich habe mich einmal gegen die Bergspitze vergangen, und sie hat mich gestraft; ich bin Tag und Nacht in ihrer Hand. Ich sitze auf dem Ziegel wie eine Schwangere; ich rufe nach dem Winde, aber er kommt nicht zu mir.

Ich betete zu der kraftreichen Bergspitze und zu jedem Gott und jeder Göttin: « Siehe, ich sage zu gross und klein, die in der Arbeiterschaft sind: „ Seid demütig gegen die Bergspitze, denn ein Löwe wohnt in der Bergspitze; sie schlägt, wie der wildblickende Löwe schlägt, und sie verfolgt den, der gegen sie frevelt. " »

Ich rief nach meiner Herrin, und da fand ich, dass sie zu mir als erfrischender Wind kam. Sie war mir gnädig, nachdem sie mich ihre Hand ( Fürsorge ) hatte sehen lassen. Sie wandte sich gnädig zu mir, und sie liess mich mein Leiden übersehen und war mein Wind. Wahrlich, die Bergspitze des Westens ist wohltätig, wenn man nach ihr ruft I Nofer-Abu sagt, und er spricht: « Wahrlich, höret all ihr Ohren, die auf Erden leben: Seid demütig gegen die Bergspitze des Westens! »

( Aus Röder, Urkunden zur Religion des alten Ägypten, 1915; mitgeteilt von Prof. Dr. Lienhard, Bern. )

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