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Piz Bernina

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Von Dr. Hans Wirz ( Section Aarau ).

Piz Bernina ( 4052 Meter. ) « Schämet euch, Herr Doctor, immer im Salon ze hoggen und denen Jungfern ze hofiren », schalt mich Hans Grass, als ich eines Morgens die Treppe vor Enderlin's gastlichem Hause hinunterschritt. « Pfui über euer Milchgesicht! » Und doch sah der, welcher so sprach, selber aus, als hätte er in 's Mehl geblasen. Freilich bei dem Sommerwetter hatte auch er noch nichts « gemacht, als höchstens die Diavolezza, und wie die schlechten Zeiten die Gemsen und Munken in die Nähe der Menschen, hatten sie den armen Schelm gar auf die Höhe des — Languard getrieben: « die Kunst geht nach Brod! » Die erste Zulage indess konnte ich nicht zurückweisen, sondern bemerkte zustimmend: « Da ihr das so genau wisst, so sagt selbst, welche der Schwestern euch besser gefällt; mir thut die Wahl weh! » Jener blinzelte fragend. « Nun,|_die vom Doctor Ludwig, kennt ihr sie denn nicht? » versetzte ich. Jetzt war der Gute erst recht geschraubt, bis ich mit dem Finger zum luftigen Salon in Aethers Höhen deutend ihm des Räthsels Sinn löste: « die dort meine ich, zwischen Schafberg und Muragl, die « Sruors », die letztes Jahr Herr Dr. Ludwig besucht und zu besuchen im Jahrbuch* ) gerathen hat. » In der That hatten es mein Freund Dr. Finsler und ich nicht zu bereuen, den Wink befolgt zu haben. Wie wir einmal auf dem Schafberg standen, grüsste die nächste der Damen so verführerisch herüber — ihr hatte jener das Zeugniss der am wenigsten spröden ausgestellt —, dass wir wenig Umstände machten. Es schien sie dies verdrossen zu haben; sie redete uns beim Abschied ein, den Abstieg in geradester Linie zu versuchen, damit wir ja zum Mittagbrod zeitig kämen, und grinste schadenfroh, als wir bald in dem wüst zerklüfteten Gestein uns verkletterten. Rathlos stand ich auf einem Felskopf, unter dem eine tiefe Runse sich durchzog, deren Lauf sich nicht weit verfolgen liess; unheimlich drang das Geräusch der zur Kundschaft hinuntergeworfenen Felsbrocken zu den lauschenden Ohren: zuerst Schlurfen und Schleifen, dann intermittirendes Poltern und Platschen. Ueber die Runse hinüber auf zweifelhaftes Terrain wagte ich nicht den Sprung zu thun, und so entschloss ich mich, meinen Leib durch ein Kamin zu zwängen; es glückte mir, mich darin einwärts zu drehen, und — um mich musikalisch auszudrücken — mit den langen BeinenJahrgang XIV, pag. 132 u. ff.

Decimen greifend, auf das Niveau der Runse hinabzuklettern. Mit Ach und Krach quetschte Finsler seine Taille hinab und erinnerte mit den im Leeren tastenden Extremitäten an das Bild eines Polypen. Als wir wieder beisammen waren, hatten wir die mittlere Schwester gerade zu Häupten und liessen uns das Viertelstündchen nicht reuen, auch ihr die Aufwartung zu machen; sie vergalt unsere Aufmerksamkeit, indem sie uns von ihrer schwindelnden Warte die herrlichste Aussicht gestattete. Der Dritten winkten wir unsern Gruss von Weitem; wir waren ohne jeglichen Proviant, und der nicht leichte Abstieg directe zu Thal nahm unsere Kräfte noch gehörig in Anspruch.

Hans gab zu, dass er mir Unrecht gethan, und ward es zufrieden, dass ich ihn auf 's Piquet stellte, sobald wir uns gehörig eingelaufen und zuverlässige Witterung sich eingestellt hätte; denn Ungemach erleiden, wie letztes Jahr auf dem Palü * ), dafür dankte ich. Jenes wurde dann noch gründlich besorgt durch eine Besteigung des Piz Ot. Ich erwähne sie deshalb, um zur Signatur des Jahres 1879 zu constatiren, dass Finsler und ich sie ohne Führer nicht fertig gebracht haben würden, wenn nicht Spuren eines frühern Besuches uns durch den in der Valetta von Samaden und weiterhin knieetief liegenden Schnee sicher geleitet hätten. Am Kegel, der schlimm vereiste Stellen zeigte, waren wir nahe daran, umzukehren; einen Pickelstock hatten wir nicht, die angebrachten Stangen waren nur theilweise zum Hinaufziehen der Körper dienlich, andere botenSiehe diesen Jahrgang, pag. 39 u. ff.

" wegen Zerstörung trügerischen Halt. Den Steinmann fanden wir zertrümmert, was uns ermöglichte, für eine mehr als zweistündige Rast im glänzendsten Sonnenschein und bei ungetrübtester Nah- und Fernsicht uns behagliche Sessel herzurichten, sowie für die nackten Füsse wärmende Schemel, indess Strümpfe und Schuhe zum Trocknen ausgelegt wurden — 3250 m über Meer! Endlich war doch die Witterung gut und beständig geworden. Am frühen Morgen des 28. Juli pochte es mit Wucht an Finsler's Zimmerthür: « Morgen geht 's auf den Piz Zupò, Hans Gras3 ist gewonnene Im Laufe des Tages verlautete, dass die Führer Cadonau und Beeli zwei Engländer, die am Tage unseres Ganges auf den Piz Ot den Piz Roseg genommen Latten, auf den Piz Bernina führen werden. Wie musste es unsern Hans wurmen, bei der « mindern » Partie zu sein, war ihm doch schon die erste Besteigung des Jahres auf den Piz Bernina durch St. Moritzer vorweggenommen worden. Cadonau's Anspielungen gegenüber that ich nicht dergleichen. Der Spaziergang zur Bovalhütte zeigte das Bemerkenswerthe, dass er zum grossen Theil auf Schnee zurückgelegt wurde, der in tiefen Schichten hinter dem Wall der Seitenmoräne lag. Mit welchen Erwartungen betrat ich wieder den von den gewaltigen Fels- und Eismassen umgürteten Hintergrund; stolz grüssten die Palüspitzen, die mich letztes Jahr so geäfft hatten, freundlich erglänzte aus seinem Verstecke der Piz Zupò, die Crast'agüzza nickte mit ihrem Kamm, über Alles hinein aber ragte beherrschend der zweigipfelige Piz Bernina in den wundervollen Abend. Ich weidete mich an dem stummen Erstaunen meines Gefährten, immer wieder kehrte sein Blick zum Piz Bernina zurück; ich that verstohlen dasselbe.

Leider vergällte wieder der höllische Hauch uns den Aufenthalt in der sonst so bequem und schmuck eingerichteten Hütte. Die hellen Thränen rannen uns aus den Augen, als die Engländer, Brüder Webb aus London, und wir uns gegenseitig vorstellten. Mit wem wir es zu thun hatten, ersahen wir gleich, als sie mit Dank von unserer kräftigen Suppe annahmen, da ihnen ihr Kaffee nicht recht gemundet hatte. Es war gut, dass an Stelle des Feuers im Ofen, das wegen des Rauchs nicht unterhalten werden durfte, während des Schlafes wir sieben als Wärmeapparate fungirten, sonst hätten wir empfindlich gefroren. Träumte oder wachte ich? Grass öffnete die Thüre und rief: « Es regnet in Strömen! » In der That meinte ich, bis der Ruf « aus den Betten> erscholl, das Rieseln und Plätschern auf das Dach zu hören, wie es mich fast acht Tage im idyllischen Bergün allmorgendlich geweckt und wieder eingeschläfert hatte. Jener aber hatte durch seinen Alarm nur Freund Finsler in seinem Schnarchsolo stören wollen — zwar umsonst.

Als wir durch den Genuss eines angemessenen Frühstücks gestärkt in die stille Nacht hinaustraten, war es gerade 3 Uhr; verwundert sahen die Sternlein uns zu, wie wir, sieben schwankende Gestalten, ohne Kerzen-oder Laternenschein über die Felsblöcke zur Moräne hinab und dann über dieselbe auf den Morteratschgletscher hinunter stolperten. Diesen verfolgten wir zunächst ungefähr in der Richtung des Bellavista- Sattels. Allmälig graute der Morgen, der fahle Schein des Schnee's, der düstere Schatten der Felsen gewann Licht und Farbe. Jetzt schoss der höchste Strahl hinüber zum Hochgipfel der Bernina und küsste die stolze Stirne: da war es mir ausgemacht, diese Königin musst du gewinnen; in stummem Entzücken standen wie gebannt auch die Andern. Lasst einmal solch'hehren Anblick auf euch wirken, die ihr die Bergsteigerei als eine Narrethei bespöttelt, empfindet in der Umgebung einer Club- oder Alphütte die Schauer der « heiligen Nacht », schwelgt in den « Harfentönen lind und süss », hergeweht « aus des Himmels Paradies », belauscht den jungen Morgen, wie er der Sonne an den glühenden Busen sich wirft: du achtest nicht mehr der gähnenden Spalten, der nickenden Eisthürme; in wonnigem Traume fliegst du hinüber, beschreitest furchtlos die senkrechten Felsmauern und Gräte, den verglimmenden Sternen himmelwärts nachzueilen!

Von solchen Gefühlen beherrscht, unterdrückten Finsler und ich die Bedenken, die gegen die Besteigung des Piz Bernina bei uns sprachen: war es nicht Thorheit, zu sieben diese zu wagen? hiess es nicht die andere Partie gefährden, da unser zwei auf nur Einen Führer gingen, war dieser auch Hans Grass? mutheten wir nicht unsern Kräften zu viel zu, indem wir unsere Tornister mit einem Theil des Proviantes und den Plaids selbst trugen? wurde die Colonne nicht zu lang, wenn sie das « Labyrinth » mit den Eissturz drohenden Séracs durchstreifte, wenn sie auf dem « Grat » klebte, an demselben Einer zu Häupten des Andern hin-kroch? Wie dieser Grat wohl heuer beschaffen sein möge, war das Thema, auf welches die Führer mit Vorliebe immer zurückkamen. Ich möchte an dieser Stelle nachdrücklich warnen, unser Vorgehen nachzuahmen, wenn nicht dieselben Factoren vorhanden sind: unbedingtes Vertrauen zu patenten Führern, sowie zu der eigenen und der Gefährten Leistungsfähigkeit, und schönes ruhiges Wetter; so erklärten wir uns und fühlten wir uns solidarisch — die beste Bürgschaft für das Gelingen —, immerhin ward die Trennung in zwei Partien äusserlich festgehalten; voran schritt Grass, ich folgte, hinter mir Finsler, an einem Seile; dann am zweiten die Brüder Webb mit Cadonau vorn und Beeli hinten.

Wir schwenkten nach rechts ab und wagten uns auf den Irrpfad des grossen Gletscherbruchs, das gefürchtete « Labyrinth ». Auf scharfer Kante ging es hinein in die Bläue einer Kluft, aus ihr rettete eine schmale Brücke über klaffenden Abgrund auf die Spitze einer Zunge, die der Coloss eines Eisberges entgegenstreckte. Man kletterte auf seinem breiten Rücken bergan und sah sich auf einer Insel, überragt von einem bizarren Obelisken, dessen Piédestal unterfressen war; in diese Höhlung schwang man sich hinüber, sich duckend kroch man herum und athmete beruhigt auf, wie Alle bei dem Ungethüm vorbei waren, und beglückwünschte sich, dass es seinen Sprung thalwärts auf eine spätere Stunde des Tags verspart hatte. Weiterhin krabbelten wir über die gewaltigen Trümmer einer Bastion, welche die Macht der Sonne Tags zuvor gesprengt, und massen staunend mit den Augen unsere winzigen Gestalten an den riesigen Gebilden, die uns umstarrten. Jetzt wurde Hans ungeduldig, er hatte hoch über mir auf dem Scheitel eines Thurmes gestanden und nach allen Seiten ausgespäht; nun liess er sich wieder zu mir herab, brach nach rechts, nach links aus — er fand keinen Ausweg. Da stürmte er wieder auf die Warte, wo er zuvor gewesen, liess mich nachkommen, während Finsler unten Posto fasste, band sich vom Seil los, hackte sich auf der andern Seite hinunter; ich sah ihn in der Tiefe noch einen Sprung über einen Schrund nehmen, und um eine Ecke biegend war er meinen Blicken entschwunden. Eine bange Pause, vielleicht von nur wenigen Sekunden, folgte; sie schien mir lange genug, indess Finsler emporrief, ob es nicht bald vorwärts gehe. Schon gab ich den Durchgang für verloren und sah uns zurückgeschlagen und auf den weiten Umweg gewiesen, zu dem schon vor Jahren die Herren Bruppacher und Oberholzer ( s. Jahrb. IX ) genöthigt worden waren, als ziemlich weit rechts Grass wieder am Horizont auftauchte. Bald war er bei mir, band sich wieder an 's Seil und gab die nöthigen Verhaltungsmassregeln: es sollte nun nur je Einer in Bewegung sein. Wie auch ich über dem Schrunde war, stampfte Finsler keck die Stufen herunter und warf sich über jenen in meine Arme. Dann bog ich um jene Ecke, setzte mich rittlings auf einen Eisgrat und hisste mich, sänftiglioh von Hans am Seile nachgezogen, in die Höhe. Nun sah ich von Hans wieder nichts mehr; ich hörte nur, wie unter den Streichen seines Pickels die Eisstücke der Tiefe zuraschelten. Ein Ruck am Seil gab mir das Zeichen zum Vordringen; ich hatte den Spuren folgend eine Eiswand abwärts zu traversiren, dann wieder um einen Eisberg zu schwenken, und sah mich von Neuem vor einem Schrund. Ich hatte Musse, dessen Tiefe zu messen: zuerst allmälig sich verengend, weitete er sich dann zu einem grausigen Gewölbe —, während Hans rüstig die Staffeln vergrösserte, die einen jähen Grat hinanführten, von wo, wie er ermunternd zurief, das Weitere nur noch Kinderspiel sein werde. Da erscholl das Commando: « Springen Sie, Herr Doctor! » Ich avisirte Finslern: « ich springe! » und nahm einen Anlauf, unterstützt von Hans durch einen Ruck am Seile. Schon setzte ich den einen Fuss auf die jenseitige Kante, Hans, der mich in Sicherheit glaubte, liess das Seil nach, da riss mich das straffe Seil — es hatte vielleicht nur eine Spanne zu wenig Spielraum — nach hinten, ich taumelte zurück — und in die Tiefe ich hatte das Gefühl, wie wenn man im Traum die Treppe hinunterstürzt.

Ich kam rücklings zu liegen, auf den Stock, um den das Seil geschlungen war, den Kopf etwas tiefer, als den Unterleib, während die Unterschenkel im Leeren schwebten — zum Glück auf einen Vorsprung, wohl 4 Fuss unter der Passage. Damit, dass nun hüben und drüben am Seil gezogen wurde ( ich schätzte mich glücklich, einen breiten stark-genähten Gurt zu führen ), kam ich nicht auf die Füsse; es gelang mir erst dann, als auf mein Zurufen demselben etwas Spielraum gegeben wurde, so dass ich auf meinem precären Standorte mich aus eigener Kraft aufrichten konnte. Wie Grass meinen Kopf aus der Spalte auftauchen sah, schritt er sachte herab, sich knietief eingrabend und das Seil aufrollend, während Finsler, der auf seinem Posten gar nicht wusste, was vorging, und nur nach Commando manövrirte, einige Schritte vorwärts trat und, von Cadonau unterstützt, das Seil stramm hielt. Ueber den Rand gebeugt hackte Grass zwei Stufen, begab sich wieder etwas in die Höhe und spannte das Seil; mit der Linken es fassend schwang ich mich mit dem rechten Fuss in die erste, mit dem linken sodann in die zweite Stufe und war wieder auf der Oberwelt. Das Labyrinth hatte, wie es scheint, sein Müthchen an uns kühlen wollen, ohne nur das Opfer von Hut oder Stock errungen zu haben. Der Rest des Weges war weder schwierig zu finden, noch mühsam oder gefährlich zu begehen. Um 6 Uhr lagerten wir uns an dem bekannten Rastort in den Felsen zu einer Herzstärkung und verfolgten neugierig und verwundert zugleich die Spuren des abenteuerlich verschlungenen Pfades, den wir durch das Labyrinth eingeschlagen hatten.

Auf jedem Gebiete menschlichen Schaffens und Ringens begegnen Partien, deren Bewältigung einen Kraftaufwand erfordert, der in keinem Verhältniss zum Reiz, den die Arbeit bietet, steht, die ihren Werth jedoch dadurch behaupten, dass sie den unablässig Strebenden dem Ziel stets näher bringen, wenn ihm auch dasselbe für Augenblicke entrückt wird. « Vor jede Grossthat setzten den Schweiss die unsterblichen Götter. » Sollte es dem Pionnier im Hochgebirg allein beschieden sein, nur schwelgend, bald im Genuss der Schönheiten, bald der Schrecken derselben, das Höchste zu erringenGerade was das Auge des Beschauers von Weitem so bezaubert, die Firn- hänge, welche mantelartig die stolzen Leiber der Bergriesen umkleiden, verlieren an Reiz für den auf ihnen Wandelnden; wie wenn man ein Frescogemälde im Einzelnen betrachten würde, bieten sie öde Strecken. In verlockender Nähe erscheint über der weissschimmernden Decke, von dem in 's Schwarze spielenden Blau des Himmels besäumt, die Linie des Horizonts, und immer entschwebt sie in tückische Ferne. Terrasse wölbt sich über Terrasse. Das Interesse erlahmt in dem Grade, wie die Kräfte allmälig ermatten, die Füsse arbeiten sich müde in dem lockern Schnee; er wird noch weicher und umschliesst die Knöchel, man bricht gar bis zur Wade oder zum Knie ein, und wer noch tiefer einsinkt, wird am Seil herausgezerrt oder mit dem Eisbeil gleichsam aus spanischem Stiefel erlöst. Die Kopfnerven leiden unter dem Widerschein des Schnee's und dessen Wärmeausstrahlung. So rangen wir uns in zwei harten Stunden in südöstlicher Richtung durch auf ein Plateau, von wo aus nach Süden die Einsattelung sichtbar wurde, von welcher der Ostgrat sich zur Spitze aufthürmt, in weitern 1 Va Stunden zu dieser Einsattelung selbst, wobei der Bergschrund anstandslos überwunden wurde. Es war unterdessen 10 Uhr geworden, und eine zweite ausgiebige Rast war mehr als verdient, zumal angesichts der letzten Partie, über deren Begehung die Führer mit den Worten kargten, so sehr wir sie ausfragten. « Wir müssend halt schauen>, versetzte Hans trocken, und als unsere Engländer bemerkten, Bernina scheine ihnen leichter als Roseg, brummte Cadonau: « die werdend noch blaue Wunder erleben. » Hier liessen Finsler und ich die Säcke zurück und « Vorwärts Marsch » commandirte Hans. So lange über nackten Fels geklettert werden konnte, bewegten wir uns entsprechend rasch vorwärts, heikler wurde das Steigen, als wir auf dem Fels aufgelagerten lockern Schnee stiessen und ihn durchtretend festen Stand vermissten. Sich rechts an den angewehten Schnee zu halten, erschien zu gefährlich, er rutschte gleich ab in die Tiefe; links auf dem Hang, der in massigerer Neigung den Hauptgrat flankirte, zu traversiren, ging noch weniger an, da er übereiste Stellen aufwies, unter denen Grassens Hiebe Stein zu Tage förderten. Es blieb nichts Anderes übrig, als die Grathöhe selbst zu begehen und den Stock meist als Balancirstange zu gebrauchen. Mit Wonnegefühl drückte man, wenn gelegentlich ein Felsstück den Schnee durchbrach, dasselbe an die Brust und schwang sich auf seinen Nacken; unwillkürlich bediente man sich, auch da, wo es nicht unumgänglich nothwendig war, der Hände zum Vordringen. « Ufrecht gan und nit kriechen wie en Wurm », donnerte Hans von oben her. Je höher hinauf, desto tiefer der lockere Schnee, er bildete dachgiebelförmig eine scharfe Kante; damit wuchs auch die Arbeit für den voranschreitenden Führer. Schritt für Schritt flachte er mit dem Pickel die Kante ab zu einem höchstens 11k Fuss breiten Pfad und hieb in diesen die Stufen; von jeder Colonne bewegte sich nur je Einer vom Fleck, jeder war angewiesen, wenn von seiner Colonne Einer oder er selbst den Stand verlieren sollte, gleich rittlings sich zu setzen. Vorweg füllten sich die geschlagenen Stufen mit dem abgescjiroteten und ausgehackten Schnee von oben her. Finsler sah sich genöthigt, die Schneebrille zu entfernen und Haut und Augen der Einwirkung des Gluthmeeres zur Linken preiszugeben, was ihm nachher für zwei Tage Schneeblindheit verschaffte. In den Pausen, bis Grass wieder ein Stück Weg bereitet, wendete ich meinen fiebererhitzten Kopf nach rechts, um ihn der kühlenden Bise auszusetzen, und hatte Zeit, mir von der misslichen Lage Rechenschaft zu geben. Horch! da tönen Jauchzer aus der Ferne, sie kamen vom Piz Morteratsch; Niemand erwiderte -sie, wir hätten gemeint, durch eine unzeitige Bewegung den Halt zu verlieren. « In die Stufen schauen und treten », wetterte einer der Führer der hintern Colonne; einer der Engländer musste ausgerutscht sein, vermutheten wir aus dem verdächtigen Sausen der Schneebrocken, die der Tiefe zustrebten; uns umzuschauen wagten wir nicht, als ob wir gebannt würden, wenn wir es thaten. Endlich näherte sich die Spitze; die letzte Strecke, wo zu derselben der Grat etwas nach rechts einbiegt, um sich mit dem Kamm von Südosten zu vereinigen, war in solcher Breite von festerm Schnee bedeckt, dass wir im Tact Alle zugleich hinüberschritten. Es war Ì21k Uhr, als wir unser Ziel erreichten; wir hatten für die Passage auf dem Kamm volle 2 Stunden gebraucht, obwohl Alles ohne Zögern stetig seinen Fortgang genommen hatte.

Wir lagerten uns dicht zusammengedrängt auf schmalem Räume auf dem Schnee, in dessen Tiefe der Steinmann verborgen stak, so dass uns die Möglichkeit geraubt war, demselben die Notiz von unserer Besteigung anzuvertrauen. Doch wir waren ja zu unserer Erbauung da hinauf gekommen. Ich verzichte darauf, hier das Panorama in seiner Grossartigkeit und seinem Umfange auch nur zu skizziren, oder den Eindruck zu schildern, den der Einblick in die nächste Umgebung machte. Mit einem Worte: Jeder ging auf in Entzücken ob der überwältigenden Pracht des Bildes-im Ganzen und Einzelnen; wenn ich meine Empfindung: " verdeutlichen soll, so versteht mich wohl der Musik-kenner, wenn ich sage, dass mir so ähnlich zu Muthe ist, wenn ich beim Anhören des « Sanctus » in Joh. Sebastian Bach's hoher Messe mich dem Irdischen entrückt fühle. Doch sieh! auch auf dem Piz Roseg regt sich 's in schwarzen Punkten: man muss sich zuerst gelagert, jetzt erhoben haben; wir johlen und lustig tont die Antwort herüber in einem Jodler, dessen Intervalle haarscharf in die Ohren fallen. Wir zählten bis auf sieben — es war eine Partie von Engländern mit Berner Führern, die dann ein paar Tage später, während wir vom Languard aus sie beobachteten, unsern Spuren-auf den Bernina folgten. 3 4 Stunden war uns vergönnt, bei milder Temperatur ( wohl 9—10° in der Sonne, ein Thermometer hatten wir nicht mit ) auf der Alles überragenden Bergeszinne zu verweilen.

Indessen beriethen die Führer die Frage des Abstiegs. Grass war nicht gewillt, wieder über den Grat abwärts zu gehen, wofür Cadonau sich aussprach; er behauptete, dass der Firnschnee auf der Stotzigen Halde des Berninagletschers weich genug sein werde, um auf kürzestem Wege und in raschestem Tempo die Tiefe gewinnen zu lassen. Nach einigem Schwanken fügte sich der Andere und übernahm zugleich die Führung der Rückfahrt, die ihm Grass aus Courtoisie anbot. Rapid ging es im Tact, wohl 2 Fuss mit jedem Schritt, abwärts, indess die umgebenden Bergesgestalten zusehends in die Höhe wuchsen. Als die Neigung etwas abnahm, setzte sich Hans flugs hin, Finsler und ich schlössen auf, und mit Windeseile, dass uns Sehen und Hören verging, fuhren wir dahin, die redlich im Tact weiter arbeitenden Gefährten weit überholend. Doch plötzlich gebietet Hans stopp: wir nahten der Stelle, wo durch die ganze Breite eine Wand sich zu bilden begann; wir warfen uns über dieselbe hinab in den weichen Schnee, in dem wir überkollerten. Als wir auf der Höhe der Einsattelung des Grates angekommen waren, verfügte sich der gefällige Beeli hinüber, um die beim Aufstieg dort zurückgelassenen Tornister zu holen. Darauf ging es fort im Geschwindschritt und nochmals in sausender Rutschpartie. Hu! wie fliege ich, am Nacken Hansens auf seinen warnenden Ruf mich festhaltend, hoch hinaus in den Luftraum und hinunter in den Schnee, und wieder weiter der Tiefe zu. Aber o weh! Freund Finsler war mir abhanden gekommen, oder vielmehr ich seiner Umarmung entwischt; als er über den Absatz flog, warf es ihn auf die Seite, und er rollte so weiter, bis er mit Mühe wieder in die Sitzlage kam, in kühnen Curven durch das Seil nachgeschleift.

Als wir endlich die tolle Fahrt einstellten, waren wir so athemlos, dass wir uns kaum des Lachens erfreuen konnten. In die Tiefe der Firnmulde liessen wir uns jedoch nicht hinab, sondern steuerten gegen den Sattel der Crast'agüzza und beschrieben einen Bogen, bis wir, den Piz Zupò, später die Bellavista-Spitzen ungefähr im Rücken, in nördlicher Richtung wieder rascher thalwärts schritten. Wir meinten schon, Alles sei gewonnen, doch Grass dämpfte unsern Uebermuth durch die Andeutung, dass eine böse Stelle uns noch viel zu schaffen machen werde, wenn sie uns nicht gar zwinge, den Weg über die « Festung« zu nehmen. Die Neigung des Gletschers nahm wieder zu, der Firn wurde härter, Welle um Welle traversirten wir in Schlangenlinien und machten unweit oberhalb der als verhängnissvoll bezeichneten Stelle Halt zum Vesperbrod. Plötzlich standen wir an einer Kluft und an einem Abstürze, an dessen Rande nun Grass, der die Führung wieder übernommen, nach der Möglichkeit spähte, hinunterzukommen. In einiger Entfernung war das Ufer geborsten, und es öffnete sich eine Seiten-kluft. Zu dieser steuerten wir; eine etwas tiefer liegende Firninsel streckte eine Art Vorgebirge entgegen. Dieses wurde zuerst im Sprunge gewonnen, dann traversirte man 2—3 Schritte nach links eine schmale, wenig geneigte Fläche, und drehte sich mit dem Gesicht gegen eine senkrecht abfallende Wand, die sich in unendliche Tiefe fortzusetzen schien; man griff mit Fussen und Händen in die Löcher, die Hans mit Virtuosität in schiefer Richtung hinunterkletternd geschlagen hatte, und liess sich sachte, jede Bewegung abmessend, von Stufe zu Stufe hinab. An der Stelle, wo die Wand sich einwärts neigte, um dann ausein-anderzuklaffen, stiess man mit Wucht von ihr ab, nahm seitlich einen Satz und stürzte sich, so gut es ging, auf den Rücken eines wallfischartigen Firnblockes, der in massiger Entfernung thalwärts vorgelagert war. Mir graute — nicht etwa, als ich selber das Manöver ausführte, auch nicht, als ich Hans es mir vormachen sah, wohl aber, als ich von unten Zeuge war, wie Finsler und die Andern an der wohl zwei Stockwerke hohen Eiswand mehr ruckweise hinunterschwebten, als stufenweise hinunterkletterten. Die Engländer erklärten jetzt, dass sie am Piz Roseg nichts mit dieser Stelle, sowie mit der Gratpassage Vergleichbares gefunden. Noch war zwar mancher Schrund zu überschreiten, noch mancher Sprung auszuführen, wir achteten dies kaum mehr.

In all' ihrer Schönheit prangte die Landschaft, als wir 5 Va Uhr Abends wieder zum Hotel Boval kamen. Ohne Aufenthalt eilten die Herren Webb von dannen; sie wollten die Abendtafel nicht versäumen, um sich von der Gesellschaft zu verabschieden, da sie Morgens in aller Frühe dem Engadin Valet sagten und die directe Heimreise nach London antraten. Haben die Glück gehabt, wird Mancher denken, in kürzester Frist unter den denkbar günstigsten Umständen die zwei lohnendsten Hochpartien in unserm Clubgebiet gemacht zu habenWir zwei Zürcher trollten mit den drei Führern behaglich in munterm Gespräch thalwärts und schwelgten dann noch einmal vor dem Hotel Morteratsch beim Kaffee, den uns Frau Kessler kredenzte, im Aufblick zu dem vom abendlichen Strahl der Sonne vergoldeten Berninagipfel, den wir heute glücklich uns zu Fussen gelegt hatten.

Auf der Heimreise, die Finsler und ich, um der kräftigen Bergfahrt eine entsprechende Thalfahrt an die Seite zu setzen, meist zu Fuss, die Ränzel auf dem Rücken, über Maloja, Chiavenna, Splügen und Thusis machten, fand ich Gelegenheit, durch eine abenteuerliche Postfahrt meinem Freund die Angst heim-zuzahlen, die ich um ihn, als er an der Eiswand schwebte, ausgestanden. In Castasegna holte uns ein Gewitter ein; in der Post, welche gerade anlangte, war nur ein Platz frei. Ich nöthigte jenen in 's Interieur und kletterte, in meinen Kautschukmantel gehüllt, zu oberst auf den Gepäckthurm; den einzigen Halt hatte ich rechts und links an den Seilen, womit die Kisten und Koffern festgeschnürt waren. Hurrah! wie rollte der Wagen um die Ecken, flogen die Zweige um die Wangen; wie prasselten die Hagelkörner auf die Haut und schoben sich kühlend in den Nacken. Dazu flammte der Blitz und grollte der Donner, in der Tiefe tobte der Fluss, die Bäche brausten zu Thale und überflutheten die Strasse. Ein behäbiges Pärchen kauerte sich ängstlich in die Ecken der Banquette und bangte um mich, denn vor seinen Augen baumelten meine Beine in der Luft. In Chiavenna entsteigt Finsler hastig dem Wagen und reckt den Hals, um sich zu überzeugen, dass ich noch leibhaftig oben throne. Der Gute hatte mich in seiner Bekümmerniss schon längst über Bord fliegen gesehen; die Nässe, die sich aus den Falten meines Mantels ergoss, nicht achtend, Schloss er mich gerührt in die Arme.

Nicht wahr, Clubgenosse! den Gebrauch des « Dings aus Hanf gedreht » hast du nicht gekannt? Wohl bist du auf dem Gletscher schon oft daran marschirt, aber daran Post gefahren doch noch nie!

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