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Späte Tage am Piz Linard

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON HORST H. THER, ULM

Mit 3 Bildern ( 75-77 ) Kaum ist ein Traum verflogen, schon ist ein neuer da, und er lässt mich nicht eher ruhen und rasten, bis er Wirklichkeit geworden ist. Piz Linard! Ja, nachts träume ich manchmal von ihm; aber wenn ich erwache, dann ist es nur der Wind, der vor den Fenstern um die Ecken jault, und ich sehe das flimmernde Lichtermeer der Stadt, die sich unter mir ausbreitet, und die dunklen Umrisse der Wohnblocks, in denen sich manche meiner Zeitgenossen die Nacht um die Ohren schlagen. Und dann bilde ich mir ein, es sei der Wind des Piz Linard, der mich auffordert, endlich zu kommen.

Sicher, er ist weit, der Weg zum Piz Linard, doch er lässt mich nicht in Ruhe, sein Wind klagt und jammert vor den Fenstern; ich weiss, dass ich kommen muss...

Und eines Tages waren wir unterwegs zum Piz Linard. Wir hatten unser Fahrzeug am Ortsaus-gang des rätoromanischen Dörfchens Lavin verlassen, unser Gepäck geschultert und waren zu unserem unbekannten Ziel aufgebrochen. Es war ein märchenhafter Lärchenhochwald, durch den sich ein samtiger Waldweg emporwand, den wir verfolgten bis zu einer knorrigen Blockhütte auf einer baumfreien Terrasse.Vom Linard war noch nichts zu erblicken, sosehr ich auch meinen Hals reckte und auf jede Lichtung lauerte. Die letzten Lärchen an der Baumgrenze hatten bereits ihre Lohe entfacht, die Matten waren rostbraun eingefärbt. In der Tiefe versank das Unterengadin, und der hellgrüne Inn raunte seine Melodie schwach und gedämpft. Was war das doch für ein stiller und einsamer Herbsttag, damals, im Land des rätoromanischen Völkchens!

Ich hatte meinen Gaskocher in Aktion gebracht, setzte den Topf auf die Flamme, und bald kochte das Wasser, aus dem wenig später schmackhafter Kartoffelbrei entstand, der, mit Gulasch aus der Dose bereichert, unser heutiges Mittagessen darstellte.

Die Sonne war irgendwo hinter den dickbauchigen Wolken, die über den Bergen des Nationalparks lasteten, verschwunden, und die Alpwiesen wurden konturlos und fahl. Und plötzlich, als unser Steig hinter einem Bergrücken in die Horizontale überging, sahen wir ihn, unseren Linard, wie er sich wuchtig und etwas behäbig am bewölkten Oktoberhorizont abzeichnete. Eigentlich war ich beinahe enttäuscht. In meiner Vorstellung hatte der Linard ganz anders ausgesehen. Er schien mir ein monumentales Fragment aus solidem, widerstandsfähigem Gneis zu sein, das 2000 Meter über dem Unterengadin mit seinem höchsten Punkt gipfelt. Für mich war er stets das alpine Sinnbild von Kraft und Majestät. War es vielleicht nur die Perspektive, die seine echte Grosse und Überlegenheit schmälerte? Vielleicht ist es auch die Bescheidenheit alles wirklich Grossen, die uns den Piz Linard nicht so erstehen liess, wie er tatsächlich ist. Nur die Kleinen und Niedrigen wollen mehr sein; die Grossen und Mächtigen haben es nicht nötig, über sich hinauszuwachsen.

Eigentlich scheint der Piz Linard gar nicht zur Silvretta zu gehören; er steht so völlig isoliert und unabhängig von seinen Artgenossen der blauen Silvretta. Seine Flanken sind unvergletschert und bestehen aus dunklen Hornblendegesteinen. Von Norden ist er fast unerreichbar, zumindest für den Durchschnittsbergsteiger. Dort befinden sich keine Ausgangspunkte. Seine Quellbäche fliessen in entgegengesetzter Richtung in den Inn. Seine Grate stellen keine Verbindung mit anderen Gipfeln her, sondern fallen steil und abrupt in die Scharten ab. Der Piz Linard ist ein Individualist; er ist der Monarch der Silvretta und als solcher ein einsamer Einzelgänger.

Unaufhaltsam schritten und stiegen wir dem Piz Linard entgegen. Neben uns sprudelte munter und geschäftig der kristallklare Bergbach, oben stand die Linardhütte - nicht zu übersehen. Ich 11 Die Alpen - 1968 - Les Alpes161 freute mich schon auf die kleine Selbstversorger-Unterkunft, die wir zu dieser späten Jahreszeit vielleicht für uns allein beanspruchen würden. Aber die Fensterläden der « Chamanna Linard » waren geöffnet, und ein paar Münchner und ein Zürcher hatten sich 's bereits gemütlich gemacht.

Ich studierte indessen lange und sorgfältig unseren morgigen Anstiegsweg, der sich uns optisch vorgezeichnet darbot. Die Perspektive, aus der man den Linard vor sich hatte, schien mir immer noch etwas verzerrt und nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmend, denn auf entsprechenden Abbildungen und in meiner Phantasie hatte ich stets das Ideal eines Berges, die Pyramide in ihrer reinsten Form, zu erkennen geglaubt. Draussen über dem Oberengadin war die Sonne versunken, und nur die Wolken am Horizont zeigten einen matten Abglanz des verlöschenden Tageslichts. Der hellgrüne Inn war nur mehr als schwach schimmerndes Band erkennbar; sein Geräusch drang kaum wahrnehmbar zu uns herauf.

Da stolperten sie plötzlich über die Türschwelle herein, die Mädchen der Jugendgruppe der SAC-Sektion Unterengadin, lauter junge, dunkelhaarige Mädchen. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen: mit kompletter hochalpiner Ausrüstung, mit Seil, Pickel, Steigeisen. Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren am Piz Linard! Im Monat Oktober! Gibt es so etwas? Und dann war unsere kleine Hütte erfüllt von fremdartigen Lauten, die weder italienisch noch französisch klangen. Diese Mädchen unterhielten sich in ihrer schönen rätoromanischen Muttersprache:

« La daman a bun'ura giain vers crasta süd-ost dal Piz Linard...! » In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Unruhig wälzte ich mich hin und her, trotz der weichen Schaumgummimatratze. Meine Gedanken waren immerfort droben an den Graten und Flanken des Piz Linard, denn ich wusste, dass es für mich ein zermürbender Kampf werden würde.

Der frühe Morgen war bewölkt und trist. Nebelschwaden zogen durch das Unterengadin, und der Linard ragte schwarz und drohend in eine graue Wolkendecke. Ich hatte plötzlich gar keinen Ehrgeiz mehr und wünschte mir insgeheim einen Wettersturz. Aber dann dachte ich wieder an die weite Anreise, die wir nur wegen des Piz Linard auf uns genommen hatten, und an den Gipfel, von dem ich seit Jahren träumte. Da packten wir wortlos unsere Rucksäcke und marschierten in den dämmernden Morgen hinein. Auch die Mädchengruppe war schon aufgebrochen, mit dem gleichen Ziel, das nur Linard heissen konnte. Junge Mädchen am Piz Linard an einem Oktobermorgen des Jahres 1967? Wenn ich an ihre Altersgenossinnen bei uns zu Hause denke! Denen würde es doch nicht im Traum einfallen, Minirock und Nylonstrümpfe mit der Bergsteigerkluft zu vertauschen, um hier stundenlang aufzusteigen.

Manchmal habe ich den Verdacht, dass im gleichen Masse, wie Technisierung und Wohlstand zunehmen, die Begeisterung für hohe Ideale und ethische Werte nachlasse. Der Mensch will sich eben körperlich nicht mehr besonders anstrengen. Doppelkinn, Autobauch, Kurzatmigkeit sind oftmals die unvermeidlichen Folgen. Aber der moderne Zivilisationsmensch lässt nicht nur seinen Körper verkümmern, sondern auch seine Seele; an Stelle der Ideale sind die Idole getreten, und das materialistische Denken ist Trumpf.

Ich hatte schon immer eine entschiedene Abneigung gegen eine Lebensweise, wie sie meine verweichlichten Zeitgenossen praktizieren, die sich für nichts mehr begeistern können, die viel zu phlegmatisch sind, als dass sie sich aus der Enge ihrer bornierten Anschauungen befreien könnten, die schon mit dreissig Jahren beachtliche Wohlstandsbäuche entwickeln, weil sie kaum einen Schritt zu Fuss gehen, die sich höchstens etwas darauf einbilden, weil sie sich einen Wagen leisten können und eine protzig ausgestattete Eigentumswohnung besitzen oder zehn Anzüge « up to date » im Schrank hängen haben oder ihren Jahresurlaub in einem Hotelkasten am Mittelmeer verbringen. Denn wer angibt, hat mehr vom Leben - angeblich. In Wirklichkeit sind es höchst bedauernswerte Menschen, die ihrem zermalmenden Einerlei nicht mehr entfliehen können.

Dabei ist es heutzutage selbst für uns, die wir nicht im Alpenraum wohnen, kein Problem mehr, derartige Touren zu machen. Wir schritten durch die Moränenlandschaft des einstigen Linardgletschers. Die Bewölkung hatte sich wabenförmig aufgelockert, und irgendwo im Osten war die Sonne aufgegangen. Eisiger Wind wehte von der Fuorcla da Glims herab, sirrte über das kurzgeschorene, rostbraun gefärbte Gras. Stille, einsame « Lais » tauchten auf mit Wasserspiegeln, unbeweglich und wie erstarrt die Umgebung reflektierend. Zyklopische Granitblöcke eines uralten Bergsturzes wiesen uns den Weg zum Piz Linard. Dort, wo das schlanke, gegen die Südwand des Linard emporzüngelnde Firnfeld ansetzt, holte ich meine Zwölfzacker aus dem Rucksack. Der Schnee war grobkörnig und hart. Okto-berschnee. Nun hörte ich meine Eisen wieder knirschen und scharren. Welch herrliches Geräusch!

Im Südwesten stieg die Bernina in den Horizont wie eine Halluzination. Mit weitausgreifenden Schritten gewannen wir an Höhe, und dort, wo die Felsen der Südwand in den grossen Geröllhalden wurzeln, querten wir diagonal nach Osten.

Über uns wuchteten die Gratzacken des Linard Pitschen wie die messerscharfen Zähne eines gewaltigen Sägeblatts. Nun wurde es steil, denn das war nicht der Normalweg durch die Südwand. Das war der Südostgrat des Piz Linard. Nun begann der Kampf, der Kampf des Durchschnitts-bergsteigers mit dem Südostgrat des Piz Linard. In steilem Anstieg auf labilem Geröll gelangten wir zu einem mit Eis- und Schneeresten gefüllten Couloir. Hier treffen die schrägen Platten des Linard Pitschen und die Felsen der Südwand beinahe rechtwinklig aufeinander. Nein, das schien mir unmöglich! Das würde ich nie schaffen! Ohne Seilhilfe von oben kam ich hier nicht hinauf. Aber andererseits: gefährlicher und unangenehmer als der Alltagsmensch mit seinem rücksichtslosen Zweckegoismus konnten auch die abschreckenden Plattenfluchten des Linard Pitschen nicht sein!

Waren wir tatsächlich am Südostgrat des Piz Linard? Konnte es sein, dass ich gemeinsam mit meinem Freund Frieder über den Südostgrat des Piz Linard schritt? Irgendwie empfand ich dies alles wie einen Traum.

Aus der Tiefe des Unterengadins waren Wolkenballen emporgequollen. Sie hatten sich an die Ostwände des Linard Pitschen geklammert, waren wie zähe Kletten in die Atmosphäre gestiegen. Doch im Südwesten, da stand die Bernina. Strahlend und überirdisch leuchtend, wuchs sie in die Bläue des Himmels hinein.

Vertikal und anscheinend ungangbar bäumte sich über mir der Fels des Piz Linard. Aber immer, wenn ich am Berg einem Problem gegenüberstehe, packt mich eine unglaubliche Verbissenheit. Das war bisher immer so gewesen auf meinen Bergfahrten. Mag mein Körper schon längst seine Reserven verbraucht haben, der eiserne Wille treibt mich weiter. Und doch, wie sollte ich - dieses seltsame Wesen, das sich Bergsteiger zu nennen herausnimmt - physisch dafür geschaffen sein, mich durch diese öde und unwirtliche Gegend zu schleppen? Was bin ich denn schon? Ich bin kein Hochleistungssportler. Ich trainiere kaum. Ich sitze den ganzen Tag am Schreibtisch, mit dem Bleistift in der Hand. Aber hier, in dieser ganz anders gearteten Welt, da beginne ich über mich hinauszuwachsen. Da bereitet es mir eine unwahrscheinliche Freude, über die eigene Schwäche und Unzulänglichkeit zu triumphieren.

An den wilden Gratzacken des Linard Pitschen kletterten die jungen Mädchen der SAC-Sektion Unterengadin. Sie bewegten sich oben auf der schmalen, exponierten Gratschneide, und ihre winzigen Gestalten zeichneten sich silhouettenhaft vor dem weissen, brodelnden Nebel ab. Ich bewun- derte diese dunkelhaarigen Rätoromaninnen aus Scuol. Sie waren noch so jung und schienen doch schon dem Alpinismus verfallen. Sie schritten über den zersägten, zerrissenen Südostgrat des Piz Linard, als ob dies ganz natürlich und selbstverständlich wäre. Wenn ich Vergleiche anstelle mit meinen Bekannten zu Hause; wie wenig gemein haben diese doch mit den jungen Mädchen aus Scuol! Wissen meine lieben Zeitgenossen draussen im Flachland überhaupt, was es bedeutet, Entbehrungen widerspruchslos auf sich zu nehmen, um aus eigener Kraft ein Ziel zu erreichen, das keine materielle Gegenleistung einbringt?

Unsere Berggefährtinnen aus Scuol überschritten die wilden Gratzacken des Linard Pitschen. Gedämpft hörten wir ihre romanischen Stimmen oder ihr helles Lachen, und manchmal polterte ein Stein und zerschellte im Kar.

An diesem Tag gab es für mich nichts anderes als den Südostgrat des Piz Linard. Mein ganzes Wesen war erfüllt von diesem herrlichen Weg, der sich über mir ins Riesenhafte emporschwang, und es stimmte mich fröhlich, dass dieser grossartige Anstieg nicht nur männlichen Individuen vorbehalten war, sondern dass auch die jungen Mädchen aus Scuol ihre Leidenschaft für den Linard entdeckt hatten. Es machte mir nichts mehr aus, dass ich wieder in den grauen Alltag musste, wo niemals die Rede ist vom Piz Linard, von himmelstürmenden Graten und dahinjagen-den Wolken, wo sich das Leben in geschlossenen Räumen abspielt, wo viele Menschen kaum mehr in Berührung mit Wind und Wetter kommen. Aber noch ging es aufwärts, noch kletterten wir am Südostgrat des Piz Linard, und manchmal wünschte ich mir, dieser herrliche Weg möchte nie mehr aufhören Immerfort sollte er höherführen, in die unendliche Bläue des Himmels hinein.

Wolken und Wind hatten den Sieg über Sonne und Himmelsblau davongetragen, und unser weisser Traum, die Bernina, war versunken. Über uns verschwand der Südostgrat des Piz Linard; irgendwo verlor er sich in der Tiefe des Raumes. Aber der Fels des Linard war Realität. Ich spürte ihn zwischen den Fingern und unter meinen Schuhsohlen.

Was war das doch für ein herrlicher Gang nach oben - nach oben zu Licht, Luft und Wolken! Wir kletterten auf dem südöstlichen Stützpfeiler des Linard hinauf in den Nebel. Ab und zu fuhr ein Windstoss über den Grat und zerteilte die zähen Schwaden, die sich an die Felszacken gekrallt hatten. Dann sah man einen schmalen Ausschnitt blauen If mmels, in den die wilden Grathöcker des Linard hineinragten.

Was für ein griffiger und fester Fels hier am Südostgrat des Piz Linard! Man konnte hier emporturnen, ohne irgendwelchen Schauder vor der zurückweichenden Tiefe zu empfinden. Oder bildete ich nichtssagender Ritter von der traurigen Klettergestalt mir das nur ein, weil ich ganz im Banne dieses grossartigen Gratanstiegs stand? Für mich jedenfalls hatte der Südostgrat des Piz Linard die gleiche Bedeutung wie für Tita Piaz die Guglia Edmondo De Amicis. Vielleicht hätte ihn dieser Grat, der doch nirgends den dritten Schwierigkeitsgrad überschreitet, nicht gereizt. Aber wahrscheinlich hätte er ihn als lächerlich empfunden. Er, der doch ganz andere Schwierigkeiten gewohnt war, ohne sich selbst in Schwierigkeitsgraden auszudrücken, hätte sich hier möglicherweise ein Vergnügen daraus gemacht, mit verbundenen Augen hinaufzuklettern. Für mich unbekannten Durchschnittsbergsteiger jedoch war er einer der Grate meines Lebens.

Über uns schnellten die gezackten Rippen des Linard in die Höhe, kantig und scharf, zerhackt, zersägt und zerrissen von der Erosion Hunderttausender von Jahren.

Irgendwo, tief unter uns, hörten wir die Stimmen unserer Berggefährtinnen aus Scuol, fern und kaum wahrnehmbar. Der Nebel hatte ihre Gestalten verschluckt, aber wir wussten, dass sie unaufhörlich über den Südostgrat schritten, dass sie unaufhaltsam dem Gipfel des Piz Linard entgegenstrebten.

Wir « piazten » über eine Platte, die diagonal ins Leere hinausragte. Woanders hätte ich vielleicht einen Rückzieher gemacht. Aber hier? Welch ein Klettergenuss!

Ich hörte die Raben des Piz Linard, aber ihr hohles Gekrächze war für mich wie Musik. Diese pechschwarzen Vögel, die wie apokalyptische Schatten um mich herumschwirrten, sind meine Freunde. Denn - verkörpern sie nicht ein Musterbeispiel unbändiger Freiheit und absoluten Unge-bundenseins? Meine geliebten Raben, ich sah euch aus dem Nichts auftauchen und, vom Aufwind getragen, schwerelos emporsegeln! Ihr Raben des Piz Linard, ihr wisst gar nicht, wie frei ihr seid, im Gegensatz zu euren Artgenossen in den Tälern, wo alles kultiviert ist, wo der Mensch euch nachstellt und euch zu vernichten droht! Hier oben ist euer Reich und auch meines. Hier oben, wo die Nähe des Gipfels spürbar wird, da fühle ich mich frei wie sonst nirgends. Und besonders auf dieser herrlichen Bergfahrt am Piz Linard, wo Frieder dabei war, dieser stille und begeisterte Bergsteiger, der nie kritisiert und tadelt, wenn die Seilkommandos nicht klappen oder wenn ein Stein in die Tiefe poltert. Er weiss genau wie ich, dass auch der Bergsteiger nicht vollkommen ist.

Schemenhaft tauchte ein Steinmann auf, und plötzlich wurde das Gelände flacher, breiter, und dann standen wir auf dem Gipfel. Um uns dichter Nebel und unter uns der Blick hinab ins Bodenlose.

Wir waren allein; aber von irgendwoher glaubten wir gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Der Nebel über uns war von schmerzender Helligkeit. Vielleicht würde die Sonne durchbrechen und alles mit ihrem Licht überfluten? Wie sehr sehnte ich mich danach! Warum schenkte uns der Linard nicht den unermesslichen Ausblick von seiner hohen Warte? Warum leuchtete die Bergwelt nicht in kristallklarer Oktoberschärfe? Die Bernina, der Nationalpark, der Ortler und, vor allem, die blaue Silvretta mit ihren herbstlichen Gletschern? Die gedämpften Stimmen, das Geräusch von Vibramsohlen auf Fels und Steinen näherten sich, und dann schälten sie sich aus dem Nebel heraus, die Mädchen der SAC-Sektion Unterengadin. Sie waren aus der unsichtbaren Tiefe des Südostgrates emporgestiegen und schritten gemeinsam dem Gipfel entgegen. Atemlos, mit strahlenden Gesichtern und leuchtenden Augen beglückwünschten sie sich zu ihrem Sieg über den Südostgrat des Piz Linard:

« Gratulesch...! » Ich kenne nur wenige Bergsteigerinnen; das heisst, eigentlich kenne ich gar keine. Ich habe nur manchmal welche gesehen auf meinen Bergfahrten, aber diese hatten sich meines Erachtens nicht gerade durch faszinierende weibliche Schönheit ausgezeichnet. Es waren eher derbe Mannweiber, sogenannte Berghexen, die zwar grossartig kletterten, aber doch nicht besonders viel Weibliches an sich hatten. Diese rätoromanischen Mädchen jedoch, die heute wie selbstverständlich den Südostgrat des Linard erklettert hatten, waren, sofern ich das beurteilen kann, ausgesprochen hübsch und keineswegs vermännlicht.

Schade, dass wir wieder zu unseren lieben Zeitgenossen hinabsteigen mussten, aber es blieb uns nichts anderes übrig. Dort unten in den Tälern würden wir wieder ihre Gesetze und Verordnungen beachten, wenn diese auch nicht immer mit Humanität und Gerechtigkeit zu vereinbaren sind. Wir würden wieder ihrem monströsen Verwaltungsapparat gehorchen, der leider genau so unvollkommen ist wie der Mensch selbst. Wir würden uns wieder unter unsere Zeitgenossen mischen, und niemand würde uns dann von ihnen unterscheiden können. Aber sage mir noch einer, wir würden nicht zu den Auserwählten gehören, die das Fieber des Alpinismus gepackt hatVielleicht aber hat es uns gerade deshalb gepackt, vielleicht empfinden wir gerade deshalb ein so ungestümes Verlangen nach der absoluten Freiheit in der Hochregion, weil wir den Alltag unter Gesetz und Zwang verbringen müssen.

Irgendwo unter uns verlor sich in der Südwand des Piz Linard der Normalweg. Es war ein Gang hinab über steilen, brüchigen Fels, über Schnee- und Eisreste, hinab in die Düsternis eines tristen, nebligen Oktobertages. Irgendwann waren wir dann unten auf den grossen Firnfeldern, die uns den Weg wiesen in das monotone Einerlei unseres übertechnisierten Alltags, hinunter in Lärm, Hast und Unruhe.

Der Piz Linard versank hinter unserem Rücken. Mein Traum aber, der mir jahrelang vorgeschwebt hatte, war Wirklichkeit geworden, und - die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. ( Jean Paul )...

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