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Stockgron und die Ilemspforte

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von C. Hauser.

Nach der Expedition auf den Piz Tumbif beabsichtigte ich in der Gruppe Medels - Gallinari zu debutiren, allein die Ungunst der Witterung gestattete mir nichts weiter denn eine Rundtour durch Val Medels, Val Lavaz und Somvix nach Disentis zurück, wo ich Samstag Abends wieder anlangte.

Die Aussichten des Wetters waren trübe, nichts desto weniger traf ich Anstalten, am folgenden Morgen frühzeitig abzu-marschiren. Mein Programm bestand in einer Revision des Weges, welchen Anno 1788 Placidus a Spescha gemacht haben soll, worüber im Jahrbuch von 1864 eine ausführliche Abhandlung zu lesen ist ( v. p. 75 ff. ).

Mein Schlaf war unstät, nach mehreren Tagen unwill-kürlicher Thatenlosigkeit war ich sehr gespannt, wieder eine Action zu unternehmen, mehreremal des Nachts stand ich am Fenster, und immer hing schwarzes Gewölk am Horizont. Endlich, als es vom Thurme des Klosters 3 Uhr schlug und der Morgen zu grauen anfing, erfreute mich der Anblick eines klaren Himmels. Schnell kleidete ich mich an und allarmirte die Führer Eimer, Vater und Sohn, und das Hausgesinde, um den .Abmarsch möglichst zu beschleunigen, zumal ich dieser raschen nächtlichen Aufheiterung kein Vertrauen schenkte. Gleichwohl ward es 5]/2 Uhr, bis wir den Weg unter die Füsse nehmen konnten. Um 8^4 Uhr hatten wir bereits die Höhe oberhalb'des Zusammenflusses Cavrein- und Ruseinbaches erreicht. Der Pfad ging nun durch das Wäldchen, welches in der Excursionskarte von 1863 und 1864 südlich von A. Gliems gezeichnet ist; uns begrüsste der Morgengesang der Lerchen und liebliche Wohlgerüche dufteten aus dem saftigen Grün des Haines. Nordwärts demselben, gegenüber den zwei Hütten von Alp Gliems, machten wir um 9 Uhr eine Stunde Halt. Um V2IO Uhr beobachtete ich am Thermometer13,5 im Schatten, nach einer halben Stunde -f- 13,8. In der Luft stritten Ost und West gegen einander. Von unserer Ruhestelle aus, in deren Nähe köstliches Trinkwasser floss, beobachteten wir auch dieBe- schaffenheit des Ueberganges zwischen Düssistock und Piz Cambriales nach Val Cavrein und wir überzeugten uns, dass er sich ohne Schwierigkeit bewerkstelligen lasse.

Unser Weg führte nun durch Val Gliems dem Ilemsgletscher zu, zuerst dem linken Ufer des Baches entlang, welcher den Abfluss desselben bildet, dann auf dem rechten.

Nach l*/s Stunden gelangten wir auf den Boden, auf welchem sich die Hütte befindet, die in der Excursionskarte mit der Höhe von 2596 M. eingezeichnet ist. Diese Hütte, welche eher einer Troglodytenwohming ähnlich sah und in der alpinen Ursprache „ Figler " genannt wird, ist zerfallen und scheint jetzt nicht mehr benutzt zu werden. Von Alp Rusein erreicht man dieselbe in 21/.2 Stunden. Um 1/21 Uhr benutzten wir eine Stelle westlich des Ilemsgletschers, die sich trefflich als Mittagshalt eignete.

Beim Auslauf des Ilemsgletschers erblickten wir die Stelle, von der Spescha schreibt, er habe einen See gefunden, bei dem er sein Gepäck liegen liess ( p. 76 d. Jahrb. v. 1864 ). Dem Abfluss des Ilemsgletschers scheint nämlich nach der Perspective ein Felsenhorn etwas im Wege zu stehen, wodurch das Schmelzwasser zurückgestaut wird. Diess ist freilich so minutiös, dass wir eher den Namen Pfütze, als See gebrauchen würden, aber es scheint mir nach eigener Anschauung der Gegend die einzige Stelle, auf welche jener Passus im Spescha'schen Manuscript bezogen werden könnte. Nach der etwas kühnen, aber nicht unbegründeten Auffassung des Hrn. Stud. Heim möchte das Gliems-Thal selbst ein Seebecken gewesen sein, das allmälig mit Geröll aufgefüllt worden ist. Der See Spescha's dürfte demnach ein Ueberrest des ehemaligen Sees gewesen sein.

Da ferner auf dem von Simler Bisquolmfirn genannten, stark geneigten Firnfeld eine Ansammlung von stehen- dem Wasser nicht gedenkbar, es auch höchst unwahrscheinlich ist, dass Spescha vom Bisquolmfirn aus über einen zerrissenen Gletscherarm zuerst nach der Ilemsfurkel und von da in westlicher Richtung den Stockgrongipfel gewonnen habe, so darf wohl eher angenommen werden, dass Spescha Anno 1788 nicht von der Rusein-Alp diesen Berg bestiegen, sondern dass er, wenn er überhaupt die Ilmespforte passirt hat, auf dem Ilems-Gletscher das Gepäck liess und sodann entweder über diesen der Pforte zu und von da auf den Stockgron, oder aber vom See aus zuerst auf den Gipfel und im Herabsteigen zu der Pforte gelangt sei.

Um l1/4 Uhr.verliessen wir unsere Ruhestelle und wandten uns, fast durchweg dem Rückgrat des in der Karte angezeigten felsigen Ausläufers folgend, dem direkt nördlich uns erwartenden Gipfel des Stockgron zu. Nach einer Stunde erreichten wir eine Ausgabelung im Felsenmassiv, von wo aus man auf die Alp Rusein hinuntersteigen könnte und wo auch der alte Eimer bei der Recognoscirung von 1863 wirklich hinauf und hinabgestiegen ist ( p. 75 ). Von dieser Ausgabelung aus kann man auch die zwei Gletscher übersehen, welche Simler Curschellasfirn und Bisquolmfirn genannt hat ( s. ibid. ), und sich von der Richtigkeit des oben Gesagten überzeugen. Allerdings wäre noch ein lebender Zeuge, der die Controverse lösen könnte, wenn es ihm die Geisteskräfte gestatten würden. Augustin Bisquolm nämlich, der den Spescha Anno 1824 nach der Porta begleitet und den Tödi bestiegen hat, also zweifelsohne aus dem Munde des Paters auch über die Expedition nach dem Stockgron vom Jahre 1788 unterrichtet wurde, lebt noch. Ich hatte ihn mit Heinr. Eimer am gestrigen Tage besucht, um wenn möglich einige Aufschlüsse für die heutige Partie zu erhalten allein der 80jährige Alte, wenn auch körperlich noch aufrecht und stark, war trotz vielfacher Versuche nicht im Stande, sich irgendwie verständlich zu machen.

Auf einer zweiten Ausgabelung hielten wir eine halbe Stunde Rast. Von hier aus sahen wir eine Gemse gegen die Ausläufer des Urlaun hinaufklettern und bald darauf eine zweite — als unsere Avantgarde — den Gipfel des Stockgron erklimmen. Nach anderthalbstündigem angestrengtem Steigen, also um 472 Uhr, waren wir am Ziele, das die Gemse in wenigen Minuten erreicht hatte. Wie gewohnt, sahen wir uns zuerst nach allfälligen Urkunden früherer Besteigungen um. Schon in Disentis hatte man uns gesagt, dass letzte Woche Engländer dort gewesen seien, welche durch V. Gliems denTödi zu besteigen beabsichtigt hätten. Wirklich stiessen wir alsbald auf eine aufrechtgestellte Steinplatte, in welche, wahrscheinlich mit dem Alpstock, folgendes Mémento einge-kritzt war: „ Am 14. Juli 1865waren hierHarigiit, F. Stoeri, G. B. Man. " Kaum hatten wir diess notirt, so traversirte eine Gemse, wahrscheinlich das letzterwähnte Stück, über die Porta da Spescha. Wir errichteten nun ein festes Steinmannli und verleibten demselben die übliche Flasche mit Wahrzeddel ein. Das Thermometer zeigte um 5 Uhr bloss +5,4, in den nächsten 5 Minuten sank es schon um 0,2.

Die Rundsicht vom Stockgrongipfel wäre bei hellem Wetter eine der schönsten, die es gibt. Diesen Hochgenuss konnten wir freilich nicht gewinnen, sondern bloss ahnen. Den ganzen Tag bekämpften sich die Winde von allen Richtungen der Rose und ich trieb nicht umsonst den heute sehr zum Rasten disponirten alten Eimer immerfort zum Avan-ciren. Wir konnten schon auf dem Gipfel des Stockgron die fernen Regenschauer von Südwesten heranziehen sehen. Es war 1/26 Uhr, da kam dem Alten der Ernst: wie diesen Abend noch mitten aus den weiten Eisregionen in ein mensch- Ilemspforte.59

liches Quartier kommen? Jetzt ging es in fliehender Eile über die östliche Kante des Stockgron hinunter nach der Porta da Gliems, der alte Eimer voraus, und nach kaum einer Viertelstunde standen wir an der Pforte, hatten also eine Distanz zurückgelegt, die man zu ersteigen gegen zwei Stunden brauchte, und schon hatte der alte Eimer mit seinem Alpstock eine Anzahl Tritte im Eisjoch der Pforte ausgebohrt. In Sturmeseile wurde der Rest einer Flasche ausgetrunken, diese mit Wahrzeddel in einer Spalte zwischen Stein und Eis verwahrt, und mit Vorsicht die Kante des Gletsclierthores in den aus-gekehrten Furchen erklettert. Ohne Schwierigkeit konnte man jetzt quer über den Biferten-Gletscher zu Hegetschweiler's Platte gelangen, und somit war ein dritter Weg auf den Tödi gefunden.

Ich hatte zwar beabsichtigt, durch die Porta da Spescha nach Rusein hinunterzusteigen, allein bei vorgerückter Zeit und dräuendem Regen gab ich der Route zum grünen Hörn den Vorzug. Wohl hatten wir oben an der Schneerose ( eigentlich Schneerunse ) ein Schlachtfeld voller Leichen von Eistrümmern zu überschreiten, welche unzweifelhaft am heutigen Tage über die Wand heruntergestürzt waren, aber während unseres Absteigens hielt das Mutterland dieser Irrblöcke sich vollkommen ruhig. Schon i/i nach 7 Uhr langten wir im Hôtel Grünhorn an und hatten also in 7/4 Stunden den weiten Weg vom Gipfel des Stockgron Melier zurückgelegt. Dass allerdings der bewölkte Himmel und die Schneerunse das Ihrige zur Beschleunigung beitrugen, versteht sich von selbst, doch war auch Jupiter pluvius uns gnädig und öffnete seine Schleussen erst spät in der Nacht, dafür aber um so nachhaltiger.

In der Clubhütte fanden wir Alles in bester Ordnung und richteten uns alsbald bei einem wärmenden Feuer ge- müthlich ein.

Um 8 Uhr waren alle Bergspitzen tief in Nebel gehüllt, welche ganz unbeweglich, mürrisch gegen das Thal herabhingen. Nachdem ein feiner Punsch genossen worden und die beiden Eimer noch ihr Pfeifchen geschmaucht hatten, überliessen wir uns einem erquickenden Schlafe.

Am folgenden Morgen, den 24. Juli, hatten wir, während der Regen auf das eiserne Dach plätscherte, angenehme Musse, einige Beobachtungen vorzunehmen, von welchen ich folgende notire:

Um 5 Uhr + 5,8 Nebel „ 66,1 „

„ 7f- 6,, nebst thauendem Niederschlag „ 8f- 5,6 „ mit vermehrtem95,3 Regen in Strömen.

Am Thermometrographen beobachtete ich im Minimum — 16,8, im Maximum + 13,5.

Von Harigut und Genossen haben wir seit dem Verlassen des Stoekgrongipfels keine Spur mehr getroffen.

Schon nach 7 Uhr begann heute das Drama der Gletscherstürze in die Schneerunse, was sich daraus erklärt, dass es die letzte Nacht geregnet hatte und die Temperatur nie auf den Nullpunkt gefallen war. Uebrigens wird diese gefahrdrohende Passage fortan ihre praktische Bedeutung verlieren, indem hoffentlich die Tödibesteiger nicht mehr den Rückweg über die gelbe Wand, sondern entweder durch die Porta da Spescha nach Alp Rusein, oder durch die Porta da Gliems nach Alp Gliems einschlagen werden, welche beiden Pforten zwar nicht leicht, aber doch ohne grosse Gefahr zu passiren sind. Immerhin bleibt auch noch die Descension durch die Porta da Gliems zu versuchen, welche jedenfalls schwieriger ist, als die Ascension.

Von grossem Interesse wäre auch der Versuch, von Hegetschweiler's Platte mit Umgehung der Schneerunse und ausser dem Perimeter der Gletscherstürze über den Bifertenfirn, sei es mitten, sei es mehr zur Seite desselben, längs den Wänden der Scheibe zu Thale zu gelangen. Für dieses Experiment ist jedoch der Frühsommer, etwa Ende Juni, anzuempfehlen, wann der Winterschnee noch manche Schwierigkeit ausgleicht, die vielleicht einen Monat später unüberwindlich wäre.

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