Streifzüge im Gotthard-, Adula- und Tessingebiet | Club Alpin Suisse CAS
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Streifzüge im Gotthard-, Adula- und Tessingebiet

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Yon Dr. W. Bernoulli.

Dass ich den Leser zunächst in Landschaften von so geringem malerischem Interesse, wie die Unteralp und das Val Cadlimo führe, möge darin seine Entschuldigung finden, dass bei dieser Wahl mich einfach die Absicht leitete, von Amsteg aus, wo ich mit dem bewährten Bergführer Jos. Maria Trösch zusammentreffen sollte, auf möglichst kurzem Wege mein diess-jähriges Reiseziel, das Adulagebirg zu erreichen.

Am 7. August fuhr ein baufälliges Zweigespann die Gotthardstrasse aufwärts, das ausser Trösch und meiner Wenigkeit noch einen schlafenden Engländer enthielt. Kurz oberhalb Amsteg wäre unserer Reise bald ein rasches Ziel gesetzt worden: die Pferde scheuten plötzlich dergestalt, dass nur die Besonnenheit des Führers, welcher schnell dem stark ange-trunkenen Kutscher die Zügel entriss, das Umwerfen in dieReuss verhinderte. Tags vorher wardemGespann an derselben Stelle ein Trupp Bären begegnet, welche eine Zigeunerbande das Thal hinunter begleiteten.

Jetzt waren die Ungethüme auf Befehl einer hohen Regierung von Uri in den Wald eine Strecke weit links über unserm Weg'gebannt, um ihre weitere Marschroute abzuwarten, die wohl zur Vermeidung der besuchten Landstrasse, über den Susten gehen sollte.

In Wasen glücklich angelangt, trennten wir uns für immer von unserm Automedon und dem Sohne Albions, welchen ich zu diesem Zweck mit Mühe für einige Augenblicke weckte, da wir einsahen, dass wir zu Fuss schneller nach Urseren kommen würden, als mit den völlig abgearbeiteten Pferden. Die Schöllenen durchwanderten wir in einem Halbdunkel, welches nur geeignet war den Eindruck der grausigen Schlucht zu erhöhen und erst nach Einbruch der Nacht kamen wir beim alten gastfreundlichen Hause zu den Drei Königen in Andermatt an.

Nach guter Ruhe wandten wir uns am folgenden Morgen der Unteralp zu. Langsam steigt die einförmige Thalsohle an, mit fruchtbaren Weiden bedeckt. Die Landschaft bot wenig: vor uns der Piz Alv, hinten der Spitzliberg und der Stücklistock. Zur Linken heben sich die Gebirge des von hier aus häufig wegen seiner Rundsicht bestiegenen Six Madun. Erst weiter oben belebt die Reuss das Thal etwas mehr durch einen hübschen Wasserfall: hier sieht man vor sich bis zum Joche hin, über welches der Unteralppass in 's Val Canaria führt. Bei einer Alp, die von den Bewohnern Portgera genannt wird, gewinnt man eine vollständige Ansicht des von dieser Seite her recht stattlichen Pizzo Centrale, sowie der ganzen Gipfelgruppe in Mitte der Thäler Unteralp, Maigels und Canaria, durch welche wir heute eine Bahn suchen sollten.

Nach kurzem Berathen entschieden wir dafür, den Thalgrund und unsere bisherige Richtung verlassend, östlich nach dem Punkt 2462 aufzusteigen. Oben angelangt fanden wir statt des erwarteten Sattels eine vom obersten Theile des Yal Maigels gebildete wenig geneigte Hochebene * ), mit Schnee bedeckt und an der tiefsten Stelle durch eine halbgefrorene Pfütze angefüllt, ein Bild grösster Oede und Verlassenheit. Gegenüber senkte sich der Schneemantel des Ravetschgrates zu Thal. Ganz allmälig stiegen wir über ein Geröllfeld mit fussgrossen Blöcken zum Passo Bornengo ( 2636 ) hinan. Von dieser Höhe konnte der Blick etwas weiter schweifen: nördlich zum Oberalpstock, Weitenalpstock, zur Pyramide des Crispait und zum Piz Giuf, südlich zum Pizzo Campo Tencca und seinen Nachbaren. Dem unmittelbaren Vordergrund liess sich wenig landschaftliches Interesse abgewinnen: dafür bietet diese Stelle mancherlei Stoff zu Beobachtungen über die Thalbildung: ;'von hier aus verlaufen nach verschiedenen Richtungen vier Thäler, welche in ihrer Structur grosse Verschiedenheiten zeigen; denn scharf hebt sich die Rinne des bis zu seinem hintersten Ende tief eingeschnittenen Val Canaria ab von den bis auf die Höhe des Plateau sich ziehenden, flach ausgewaschenen Thälern von Maigels

* ) Auch der eine kurze Strecke nördlicher gelegene Lohlenpass erhebt sich nur sehr wenig über die Thalsohle von Maigels.

Streifzüge im Gotthard-, Adula- und Tessingebiet.

und Cadlimo. An den grossen Werth, welchen dieser Bezirk für den Mineralogen hat, erinnert bei jedem Schritt das Flimmern unzähliger kleiner Krystalle, Die botanische Ausbeute scheint von derjenigen des übrigen Gotthardgebietes wenig verschieden; bloss die am Südabhang zierlich aus dem Rasen hervortretenden rothen Blüthenköpfchen der Statice alpina mahnten an ferner liegende Gebirge. Um vom Passo Bornengo in 's Cadlimothal zu kommen, steigt man'erst steil über Schnee und Rasen hinunter in den Hintergrund des Val Canaria, dann jenseits aus diesem Circus über Fels wieder hinauf und in einem nach rechts gewandten Halbkreis zur Bocca di Cadlimo ( 2542 — vom Passo Bornengo 5 4 Stunden entfernt ). Auch auf dieser Passhöhe ist die Rundsicht unbedeutend: vor sich hat man einen Theil der Medelser Berge, rechts blickt der dreizackige Schneegipfel des Pizzo Campo Tencca über zwei Seen herüber, welche auf Bergsätteln nach dem Yal Piora hin gelegen sind. Der Weg durch das .gleich der Unteralp kahle baumlose Cadlimo hinunter ist einförmig zu nennen; von den Höhen der dasselbe nördlich begrenzenden Gräte ist wenig zu sehen, da sie durch die von ihnen abfallenden grasbewachsenen Böschungen verdeckt sind. Yal Cadlimo gehört zum €anton Tessin, obgleich es sein Wasser zum grössten Theil in den Rhein ergiesst. Vom übrigen Tessin ist es jedoch bloss durch niedrige Grassättel getrennt, während es von Graubünden durch die viel höhere übergletscherte Kette geschieden ist, welche sich vom Piz Blas gegen den Rondadura und Scopi hinzieht. Am Ausgange des Thales, da wo man schon die Hochfläche von St. Maria überblickt, bildet der Rhein in tiefer Schlucht einen Wasserfall.

Um diesen jähen Absturz zu vermeiden, macht der Fusspfad, in das von Südwest kommende Val Termine einbiegend einen grossen Umweg: wehe dem müden Wanderer, welcher denselben abzuschneiden sucht; denn statt in kurzer Frist unter das gastliche Dach des Hospizes zu treten, wird er lange an den steilen Hängen vor- und rückwärts-klimmen müssen, bis er sich aus der Klemme herausgewunden hat. Erst nachdem wir uns bei rasch zunehmender Dämmerung auf solche Weise in den Felsen herumgequält hatten, erreichten wir spät die schützende Herberge. Unmittelbar über dem bescheidenen Berghaus liegt der durch seine ausgedehnte Fernsicht altberühmte Scopi. Da am Morgen des 9. August die an den Gipfeln herumlagernden Nebel uns von dessen Besteigung keinen Genuss versprachen, nahmen wir mit Bedauern von ihm Abschied, um uns dem alte » Lukmanier-Saumweg zuzuwenden. Im Gegensatz zu der völlig kahlen Umgebung von St. Maria und zu den gestern durchwanderten Thälern fanden wir sofort jenseits der bald erreichten Passhöhe schönes Nadelholz. An manchen Stellen dieses Südabhanges liegt, theils körniger, theils völlig zu Sand geriebener Gyps-zu Tage. Schon hier oben beginnen als Schlipfe des-weichen Bodens Spuren der Verwüstungen sichtbar zu werden, welche im September 1868 diese Gegend heimsuchten. In der Höhe von circa 1600 Meter, da wo der Brenno schäumend eine neue Thalstufe herunterstürzt, öffnet sich dem von Norden kommenden Wanderer ein überraschend schöner Blick. Tief zu unsem Fussen glänzte das fruchtbare, baumreiche Thal von Olivone in den Strahlen der schon hoch stehenden Sonne.

Die dunkelbewachsenen Berge jenseits desselben verloren sich eben im leichten Nebelschleier, aber noch höher und über diesen hinaus ragten mit blendendem Weiss einige schneebedeckte Zinken: unser Reiseziel für morgen. Lange hielt uns dieser herrliche Standpunkt fest, dann ging es auf einem holprigen zum Theil gepflasterten Zickzackweg scharf hinab zu den grossen städtisch aussehenden Steinhäusern und der neuen in grossem Bogen das meist leere Kiesbett des Brenno überspannenden Brücke von Olivone. Ohne uns bei dem an den Süden mahnenden « vino, birro e gazosa » eines der ersten Häuser aufzuhalten, suchten wir in den von der Mittagssonne glühenden Gassen das behäbige Gasthaus des alten Stefano Bolla auf. Der auch schon betagte Bruder des Wirthes, früher eifriger Jäger, gab uns erwünschten Aufschluss über das demnächst zu besuchende Val Carassina und den Brescianagletscher. Denn von dieser Seite hatte ich im Plane, das Rheinwaldhorn anzugreifen: ein Versuch der, wie ich weiss, früherhin schon den Herren Moore und Walker geglücktwar. Am Nachmittag stiegen wir, um die Nacht möglichst hoch oben zuzubringen, nach der drei Stunden von Olivone entfernten Alp Bresciana hinauf. Sehr gefällig lieh mir Herr Bolla zur Verbesserung des Ungewissen Nachtlagers eine Wolldecke, welche ich nebst einem Theile des Proviantes durch

* ) The alpine journal. Vol. 3, pag. 169, und Studer: Ueber Eis und Schnee. Bd. 3.

einen muntern zwölfjährigen Knaben hinauftragen liess, um dem Führer nicht allzuviel aufzubürden. Zugleich mit dem Thalgrund liessen wir die Nussbaumregion hinter uns und stiegen sofort steil empor; doch noch 3,4 Stunden oberhalb Olivone deutete ein rothblühendes Galium auf südlichen Pflanzenwuchs. Bald schützten uns schattige Tannen vor den immer noch brennenden Sonnenstrahlen; dazwischen kamen wieder offene grüne Stellen, auf welchen eben der weibliche Theil der Bevölkerung die Heuernte vollendete. Die alte Tracht, welche sich hier wreit länger erhalten hat, als es der schon 1834 in einem Brief an Franscini über ihr Schwinden klagende Landpfarrer voraussah, schmückt höchst gefällig mit einem Contrast lebhafter Farben die schlanken beweglichen Gestalten. Scharf heben sich vom blauen Oberkleid die weissen Hemdärmel ab; oberhalb der Kniee weicht es einem rothen Unterkleid, das bis zur Mitte des Unterschenkels reicht, dessen unterer Theil, wie die Füsse völlig unbekleidet ist. Zur Linken hatten wir fortwährend den Sturzbach, in welchem die Gewässer des Val Carassina mit einem einzigen Sprung die ganze circa 700 Meter hohe Thalstufe überwinden, deren Erklimmung uns beinahe zwei Stunden kostete. Zuletzt tiberschreitet man ihn in einer malerischen Waldschlucht auf schwindliger Brücke und erreicht hierauf bald die auf ebenem grünem Wiesengrund gelegenen Hütten von Campieto. Hier verlässt plötzlich der Weg seine bisherige nordöstliche Richtung, um sich in spitzem Winkel nach Süden zu wenden, wo in einem zweiten Wasserfall der Thalbach aus ganz schmaler, durch düsteres Nadelholz noch mehr ein- geengter Spalte hervorstürzt.

Eine einzige Schneespitze war durch dieselbe sichtbar; wie herausfordernd winkte uns heute zum zweiten Mal unser Reiseziel!

Nach Ueberwindung dieser neuen Stufe, welche weit weniger hoch ist, als diejenige von Olivone bis Campieto betritt man das gerade gestreckte, fast ebene, wenig wilde Yal Carassina, das in alter Zeit wohl noch weiter nordwestlich, bis über Ghirone hinaus gereicht hat, ehe es den Fluthen gelang, sich, durch die Weichheit des Gesteines begünstigt, zwischen dem Sosto und der das Hochthal von Val Blegno trennenden Kette einen kürzern Weg zu bahnen. Bald hören die Lärchen auf und der Thalbach durchfliesst nun ruhig die kahlen Weiden und das graue Geröll. Rückwärts blickend erkennen wir jetzt das Medelser Gebirg und werden gewahr, dass wir, um hierher zu kommen, gar nicht nöthig gehabt hätten, vom Lukmanier so weit in die Tiefe hinunter zu steigen, sondern dass am Fusse des Scopi hin durch Val Campo ein näherer Weg herüberführt. Bei einbrechender Dunkelkeit erreichten wir die Hütten von Bresciana, und sobald die Ankunft eines Fremden ruchbar war, fand sich als Dolmetscher ein mit meiner Heimatstadt wohlbekannter « Kestenenmann > ein, mit dessen Hilfe es mir leicht wurde, den gemüthlichen Hirten mich verständlich zu machen. Der hier gesprochene Dialekt ist von der italienischen Schriftsprache sehr weit entfernt, die Bezeichnung für Gletscher, z.B. « vadred » ist geradezu romanisch; ob der Ausdruck « latsch » für Milch der lombardischen oder der romanischen Mundart angehört,

weiss ich nicht zu beantworten * ). Die Leute thaten ihr Möglichstes, ein gutes Nachtlager zu bereiten, und so begaben wir uns, von der Hoffnung auf sicheres Gelingen unseres Vorhabens beseelt, zur wohlverdienten Kühe.

Am folgenden Morgen fanden wir uns bitter getäuscht: alle Höhen waren grau verhängt, und ein warmer Wind blies aus Süd und West. Dass von Besteigung des Rheinwaldhorns keine Rede sein konnte, musste sofort klar werden; aber was sonst thun? Hier unthätig auf besseres Wetter zu warten, dazu konnte ich mich nicht entschliessen, aber ebenso wenig zur Umkehr nach Olivone. Schon am letzteren Ort hatte mir der Bruder des Wirthes gesagt, dass beim Punkt 2879 der Karte der Uebergang aus Val Carassina in 's Lentathal ohne Gefahr auch bei weniger günstigem Wetter auszuführen sei. Er bezeichnete diesen Pass mit dem Namen: Bocchetta di Lenta. Rasch entschlossen wir uns, diesen Ausweg zu versuchen, da wir so die Möglichkeit behielten am folgenden Tag unsern alten Plan doch auszuführen. Fast eben gingen wir eine halbe Stunde auf unserm gestrigen Wege nach der Alp Cassimoi zurück und von da in östlicher Richtung einen schmalen Ziegenpfad hinauf, der sich im Zickzack an der abschüssigen Geröllwand hinwindet. Wie wir durch den Nebel einige Schneeflecke und zerrissene Felshörner erblickten, brach der Knabe, den ich mit Mühe

* ) Vom Namen. „ Piz Valrhein " wussten diese Hirten nichts; die höchste Bergspitze der Nachbarschaft heisst hei ihnen „ Montagna nera.u hatte bestimmen können, noch eine kleine Strecke den Führer im Tragen des Proviantes zu erleichtern, in lautes Weinen aus:

so schreckhaft waren ihm diese noch nie gesehenen Eegionen. Mit wenig Sprüngen verschwand er nach seiner Entlassung. Bald verlor sich alle Vegetation, von welcher Statice alpina, und Gentiana excisa das einzige Bemerkenswerthe gewesen waren; auch von einem " Weg war nichts mehr zu sehen; grosse Steinblöcke wechselten mit Schnee ab, und nur langsam konnten wir mit beständigem Zuhilfenehmen von Karte und Compass vorrücken, da wir durch Verfehlen der schmalen Passlücke in eine unangenehme Lage gekommen wären. Bemerkenswerth war die Umsicht, mit der sich Trösch in dem von ihm nie betretenen Revier zurechtzufinden wusste. Immer steiler ging es: doch plötzlich traten wir aus dem Nebel und standen in hellem Sonnenlicht auf der ersehnten Höhe: Vor uns lag jenseits des tiefen Lentathales die blendende Kuppe des Güferhornes. Schon mit blossem Auge ersieht Trösch auf dem Schnee desselben Gemsspuren und bald auch drei dieser Thiere. Ein anderes, trotz geringerer Höhe durch kühne elegante Form in die Augen fallendes Object war das mehr links liegende dunkle felsige Zavreilerhorn. Der Lentagletscher gerade zu unsern Fussen war durch die allzu steile Böschung unsern Blicken noch entzogen. Die Sonne brannte hier oben so stark auf die Felsen, dass wir uns in den blossen Hemdärmeln zum Schlaf niederlegen konnten. Beim Hinuntersteigen kamen wir zuerst über ein Schneefeld: die in demselben zerstreuten vom links oben drohenden Gletscher heruntergestürzten Eisblöcke mahnten zu einiger Eile.

Bald folgte Rasen, dessen Abfall nach und nach so steil wurde, dass ich zur Sicherung bei etwaigem Gleiten das lange Gletscherseil Trösch's durchaus nicht verschmähte. So erreichten wir, an der Rasenwand uns schief uach links ziehend, endlich den obern Grund, unterhalb dem Ende des Lentagletschers. Wegen plötzlich eintretendem Hagel hielten wir noch eine kurze Rast unter einem hausgrossen Felsblock und hatten dann noch eine kleine Wanderung nach der Lampertschalp, wo wir beschlossen unser Quartier aufzuschlagen, obgleich es erst eine Stunde nach Mittag war * ). Wären wir weiter das Thal hinunter gegangen nach Zervreila oder, wie Trösch in bequemer Weise verdeutschte « zur Fräulein », so hätten wir uns vom Rheinwaldhorn nur noch weiter entfernt; wir mochten aber die Hoffnung auf seine nähere Bekanntschaft, trotz dem bisherigen Missgeschicke nicht aufgeben. Während es draussen regnete, brachten wir den Nachmittag mit Kochen und andern häuslichen Beschäftigungen zu, wobei uns ein Schafhirt, früher Garçon de Café in einer französischen Stadt, jetzt aber durch die Stürme der Zeit wieder in seine alten, minder kulturbeleckten Verhältnisse zurückgeworfen, seinen wohlmeinenden Rath angedeihen liess. Es war dem

* ) Yom Lentathal aus erkennt man die Stelle, wo der Uebergang mach Cassimoi möglich ist, an zwei sonderbaren nach oben gabelförmig auseinandertretenden auf eine Felspyramide gethürmten Steinblöcken, welche sich direct über den Pass erheben.

Von Cassimoi bis zur Lampertschalp gebraucht ein bequemer Fussgänger 4!/3 Stunden.

Manne bald gelungen, seine glatte äussere Hülle abzustreifen, denn jetzt hätte man ihm weit eher den Beruf eines Räuberhauptmanns, denn denjenigen eines Kellners zugetraut.

Nach einer im Heu vortrefflich zugebrachten Nacht konnten wir uns am Morgen des 11. August auch vom Wetter alles Gute versprechen. Wir machten den gestrigen Weg bis zum Ende des Lentagletschers zurück, mit Behutsamkeit im Dämmerlicht das grobe Geröll überschreitend, das leider auch hier den Thalboden unwirthbar macht. Zu beiden Seiten erheben sich steil und dunkel die kahlen Felsköpfe, oben firngekrönt; vor uns ragt ernst aus seinem weit herunterwallenden Eismantel das Rheinwaldhorn empor. Während die aufgehende Sonne seine Eisspitze vergoldete, betraten wir den in seinem untern Theil wenig geneigten Gletscher und überschritten ihn schräg in der Richtung der Lücke zwischen Güferhorn und Piz Valrhein, über welche der Zugang zu letzterm offen ist. Yon unserm gestrigen Standpunkt aus hatten wir gesehen, dass es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist, dem Eissturz des Gletschers folgend, direkt auf den Punkt 2954 loszusteuern, und dass man desshalb weit besser thut, erst den zunächst nördlich von ihm liegenden Felskopf zu erklimmen und von da auf den Sattel hinunter zusteigen. Aber auch die Gewinnung dieser Felshöhe forderte einige Anstrengung, sobald die bequemen GeröllblöckB unter dem an manchen Stellen gegen den Gletscher stark abschüssigen, fest gefrornen neuen Schnee verschwanden. Hier mussten wir, um die schlimmen Folgen etwaigen Ausgleitens zu verhüten, mit dem gespannten Seil langsam und vorsichtig manövrirön, in der Weise, dass nur je einer in Bewegung sein durfte, während der andere sich möglichst fest an den Boden anstemmte.

Einige eingehauene Stufen thaten das Uebrige. Auf dem Schnee folgten wir frischen Gemsspuren, weiter oben sahen wir auch die diessmal gar nicht scheuen Thiere selbst. Die schneefreien Stellen waren mit kleinen Easen von tiefblauem Eritrichium geschmückt. Um 10 Uhr war die Felshöhe erreicht; wenige Minuten später standen wir drunten auf dem Lentapass ( 2954 ). Von 4a bis zur Spitze war das Marschiren leicht, meist über noch wenig aufgeweichten Schnee in massiger Steigung. Der Grat, welchem wir folgten, war überall so breit, dass wir vor dem zur Linken gähnenden Abgrund keine Sorge zu haben brauchten. Beim Aufschauen gewahrte ich um lO1/4 Uhr eine seltene Er-seheinung: rings um die Sonne, in ziemlicher Entfernung von ihr, hatte sich ein sogen. Hof gebildet, dessen Farben von innen nach aussen mit gelb, orange, roth, blau, grün wechselten; das letztere ging in das Blau des Himmels über. Dabei Windstille und drückende Hitze; die fernen Gipfel begannen sich in Nebel zu hüllen. Trösch sagte, wahrscheinlich weil ihm der Glanz der Farben gefiel, gutes Wetter voraus; ich, wie es bei nämlichen Höfen um den Mond üblich ist, schlechtes; wer recht hatte, wird sich bald zeigen. Nach einer Viertelstunde wurde der Hof schwächer, um halb 11 Uhr hatte er hellem herlichen Gewölk in der Nähe der Sonne Platz gemacht.

Nachdem wir von der Lampertschalp ( Halte abgerechnet ) 43/4 Stunden gebraucht hatten, kamen wir um Streifzüge im Gotthard-, Adula- und Tessingebiet.

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IOV2 Uhr auf dem Gipfel ( 3398 ) an, und fanden in ihm einen länglichen trockenen schneefreien Platz, auf dem wohl zwanzig Personen es sich bequem machen können. Unter dem Steinmann lag die blecherne Butterbüchse von Hrn. Coaz, ungefähr 8 Namen enthaltend.

Was mich zunächst mehr als die Fernsicht überraschte, war der gewaltige Absturz, der sich unmittelbar zu unsern Fussen gegen Westen eröffnet. Denn hier dringt der Blick 2600 Meter tief fast senkrecht in 's Blegnothal bis zu dessen Fluss und Strasse hinab. Freundlich winkten in nur 1 lji Stunden geradliniger Entfernung aus dem Grün zwei Dörfer ( wohl Dangio, und Ponte Valentino ) herauf. Gleich nahe, kaum eine halbe Stunde mehr nach Süden, liegt das Dorf Castro, wo schon Weinbau betrieben wird. Der Thalgrund des nur zwei Stunden in gerader Linie entfernten Ortes Malvaglia liegt ungefähr in gleicher Höhe mit Schaffe hausen; mit andern Worten, auf dieser zwei Stunden langen Strecke hat der dicht südlich am Rheinwaldhorn entspringende Lorinabach ebenso starken Fall, wie der Rhein vom gleichen Punkt bis zum Bodensee hinunter. Kaum rückt an einer andern Stelle unserer Alpen das eigentliche Tiefland so nahe an die Eisregion heran. Weiter nach West konnten wir unsern vorgestrigen. Weg über die grünen Triften des Lukmanier verfolgen; im Süden waren die Häuser von Madra im Val Malvaglia. ganz nahe; östlich breitete sich der Grund des Rheinwald in der Gegend vom Splügen aus: Blicke in belebte Thäler, welche mich die Aussicht vom Piz Valrhein manchen andern berühmteren vorziehen lassen »

Schweizer Alpenclub.9

Von den herumliegenden Gebirgen waren der Tödi und seine Nachbarn noch am hellsten, sehr übersichtlich liegt die ganze Gruppe vom Bifertenstock bis zum Scheerhorn vor uns. Im Westen sind Finsteraarhorn und Schreckhorn die hervorragendsten Gestalten, im Osten hebt siGh zunächst das Tambohorn und hinter ihm die Berninagruppe empor, diese aber von dem immer dichter werdenden Gewölk eingehüllt. Das rasche Näherrücken des letztern mahnte zu schleunigem Aufbruch. Nachdem wir kaum eine Stunde oben geweilt, kehrten wir schnellen Schrittes zur Lücke zurück; den Weg, welcher uns aufwärts 5/4 Stunden gekostet hatter machten wir nun in 40 Minuten. Von da ging es über Rasen, der mit Eritrichium, Gentiana, Aretia, Cerastium prangt, ziemlich steil hinunter auf den Rheinwaldgletscher. Unterwegs entdeckte das scharfe Auge von Trösch am Schneehang, welcher sich vom Piz Valrhein zum Vogelberg erstreckt, ein ganzes Gewirr von Gemsspuren, die sich nach allen Richtungen kreuzen; nach und nach konnten wir zwölf der muntern Thiere zählen. Der Gletscher zieht sich eine gute Strecke mit nur geringer Senkung hin; die ihn in ziemlich gleichmässigen Abständen durchsetzenden schmalen Spalten übersprangen wir mit Leichtigkeit; doch nahe bei seinem Ende gewinnt er plötzlich mehr Fall und eine ihn weithin durchziehende breite Querspalte nöthigte uns wieder das linke Ufer aufzusuchen. Von da bis zu der von der Sektion Rhätia 1870 errichteten Clubhütte gebrauchten wir eine halbe Stunde. Die Lage derselben ist sehr glücklich gewählt an dem Punkt, welcher die vollständigste Ueber-ßicht des die Rheinquellen umgebenden Gletschercircus bietet.

Sämmtliche umliegende Gipfel lassen sich von hieraus leicht besteigen, ebenso sind die Pässe nach Val Malvaglia, Carassina, Lenta, Kanal jetzt beträchtlich abgekürzt. Aber auch für denjenigen, welcher solch© Eistouren nicht liebt, ist ihr Besuch sehr lohnend. Nicht weit unterhalb der Hütte beginnt der grossartige Schlund der « Hölle », der auch auf uns, die wir dock, die Alpennatur mit ganz andern Augen betrachten, als unsere Vorfahren, welche diesen Hamen ersannen, unbedingt den Eindruck des Grauenhaften machen muss. Von ähnlichen, bei den Touristen hochberühmten Schluchten unterscheidet sich die Hölle durch ihre von Eis starrende Umgebung und das Fehlen jegliches Baumwuchses. In der eine halbe Stunde von der Clubhütte entfernten Zapportalp hielt uns der Regen eine kurze Weile zurück; doch zogen wir eine leichte Durchnässung einem nochmaligen Heulager vor und begaben uns bald wieder auf den Weg. Wir versäumten es, unterhalb der Alp mit Benutzung dier letzten Sehnee-brücke auf das rechte Rheinufer überzugehen und käme » desshalb tiefer unten, wo es zur Umkehr zu spät war, in eine arge Klemme zwischen dem brausenden Fluss und dem links senkrecht sich erhebenden Fels. Den letztern zu erklimmen, hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Einige Zeit konnten wir einer langgestreckten Kiesbank im Strome folgen, éie wir durch Ueberspringeaj einiger kleinen Arme gewonnen hattea; doch zuletzt hörte auch diese auf, vom nunmehr weniger sfceilea Ufer dureh breite, pfeilschnell dahinschiessende Wasser geschieden. Nach langem Berathen, was zu tlwtn sei, nahm der Führer mich auf die Schultern, und watete so, vorsichtig von Stein zu Stein tretend, aber doch mehrmals höchst bedenklich schwankend den ihm über die Knie reichenden eisigen Gletscherbach.

Von da an trafen wir keine Schwierigkeiten mehr und waren bald in grünem Tannenwald am Ende der trostlosen Steinwüste angelangt, welche in stundenweiter Ausdehnung den hintersten Thalgrund des Rheinwald schon vordem ausfüllte und durch die neue im Herbst 1868 eingebrochene Verwüstung nur noch grausiger geworden ist.

Von der Spitze des Berges bis nach Hinterrhein hatten wir 5T/2 Stunden gebraucht. Die Besteigung von Zapport aus ist leichter als aus dem Lentathale; letzterer Weg bietet jedoch den Vorzug, dass er sich beständig im Schatten hinzieht.

Die Gesellschaft von Herrn Prof. Brügger aus Chur, welcher eben im Gasthof zur Post weilte, machte mir am nächsten Mittag den Weg von Hinterrhein nach San Bernardino sehr belehrend. Er wies mir die Stelle oberhalb der letzten Rheinbrücke, wo der merkwürdige Bastard von Cirsium heterophyllum und C. spinosissimum in verschiedenen Modificationen von Jahr zu Jahr zwischen seinen Stammeltern in Menge vorkommt; ferner den Abhang oberhalb der Quelle von San Bernardino, wo im Mai die von ihm wieder neu aufgefundene schöne Primula longiflora blüht. Das Dorf San Bernardino liegt vollkommen geschützt in einem von mannigfach geformten, mit Rothtannen bewachsenen Hügeln umgebenen Thalkessel. Zahlreiche, zum Theil recht ansehnliche Wasserfälle und mehrere kleine Bergseen bilden das Ziel hübscher müheloser Spaziergänge.

Für Bergsteiger wäre der Besuch des Pizzo di Muccia gewiss lohnend; nur soll es etwas schwer halten am Ort einen Führer aufzutreiben. Die Trinkquelle nähert sich nach A. v. Planta mit ihrem Gehalt an kohlensaurem Eisenoxydul sehr der St. Moritzer; daneben hält sie Gyps. San Bernardino liegt bloss 43 Meter tiefer als der Sauerbrunnen von St. Moritz; so dass es als Kurort sicher Manchem zusagen wird, welcher das kosmopolitische Gewühl des Ober-Engadins nicht liebt.

Am Morgen des 13. August erlaubte das " Wetter nicht die Tour in 's Calanca hinüber. Dafür zeigte uns das Thal von Misox eine Reihenfolge prächtiger Punkte: den Wasserfall der Moësa in dunkler Waldschlucht versenkt eine Strecke westlich von der Landstrasse und die beiden Thalengen bei der Burg von Misocco und der Kirche von Soazza, letztere schon mit südlicher Vegetation; weiter unten wird die Gegend etwas einförmig. Spät in der Nacht brachte uns die Post nach Bellinzona; Tags darauf ging es weiter nach Magadino und über den obersten Theil des Langensees nach Locarno. Hier schien sich das Wetter wieder zum Bessern zu wenden, so dass ich beschloss sofort in die Berge zurückzukehren und mit der Heimreise einen Besuch des Pizzo Basodine zu verbinden. Nachdem Trösch mit einiger Mühe von dem lebensfrohen, welschen Treiben sich losgerissen hatte, führte uns der Weg in der Abendkühle nach der landschaftlich, wie geologisch und botanisch merkwürdigen Schlucht von Ponte Brolla, wo tief unten der krystallhelle, blaugrüne Fluss durch schneeweissen scharfkantigen Fels sich einen gewundenen Kanal ôingefressen hat.

Mit zunehmendem Dunkel käme*! wir durch mehrere Dörfer; verführerisch laden da die grossen baumbeschatteten Gneisstische, um welche die aus gleichem Material gehauene Bank einen weiten Halbkreis bildet, zum Basten bei dem in Ueberfülle wachsenden Rebensaft ein. In Maggia fanden wir freundliche Aufnahme und treffliche Herberge bei Herrn Pozzi, der die Funktionen eines Anwaltes, Kaufmanns, Wirthes und Posthalters anmuthiger Weise zu vereinigen versteht.

Am Morgen des 15. August verkündete von nah und fern das Glockenspiel zahlreicher Campanili, beinah wie in fröhlichen Tanzweisen, das Fest von Mariae Himmelfahrt. Es gab uns diess wiederum Gelegenheit, Studien über die Bevölkerung und ihre Tracht zu machen. Die Gesichter sind theilweise sehr fein, viel einnehmender als in Misox, wo sie nicht gar selten durch Kröpfe verunstaltet werden. Von eigenthümlicher Tracht kann nur bei den Weibern die Rede sein: ein farbiges ohne Taille herunterfallendes Kleid contrastirte nicht unangenehm mit dem brennend scharlachrothen Kopftuch.

Von Ponte Brolla bis Bignasco hat das Thal einen und denselben, stark ausgeprägten und eigenthümlichen Charakter. Die völlig flache, aber nie über eine Viertelstunde breite Thalsohle ist theilweise mit der bunten italienischen Bodenkultur geschmückt, wo dasselbe Feld Obst, Wein und Welschkorn trägt, zum andern Theil aber durch öde Kiesablagerungen bedeckt. Zu beiden Seiten ragen die bewaldeten oder felsigen Berge ganz steil und in gleicher Höhe empor. Der kleine Fluss ist von Ort zu Ort mit prächtigen Brücken von gehauenem Stein überspannt.

Ganz alterthümlich ist das Gepräge des Dorfes Cevio mit seinem « palazzo » auf weitem gepflastertem, aber grasüberwachsenem Platze. Und wie urwüchsig ist das den seltenen Besuchern der Gegend wohlbekannte gastliche Haus des Herrn Commissario Patocchi in Bignasco mit den grossen Wappen der 22 Cantone im Corridor und mit den braun getäfelten Stuben mit dem stattlichen geschnitzten Lavezsteinofen in der Ecke und den patriotischen Bildern an der Wand.

Bei Bignasco spaltet sich das Thal; wir betraten den westlichen Zweig, das Yal Bavona, die Perle tessinischer Alpenthäler. Hier gewinnt die nähere Umgebung eine wilde Schönheit von solcher Harmonie, wie sie nicht bald kann wiedergefunden werden. Eine Stelle, wo Natur und Menschenhand sich vereinigt haben den Maler herauszufordern, reiht sich an die andere. Zwischen hausgrossen eckigen Felsblöcken, welche die Schlucht oft zu versperren scheinen und den schmalen Pfad zu mannigfachen Windungen nöthigen, wachsen in unregelmässigen Gruppen dunkle Kastanien hervor, hier und da kleine Heiligenstationen beschattend. Und nicht genug, dass im Thal von Schritt zu Schritt solche Tempelchen den Wanderer zur Andacht auffordern, vielfach glänzen sie auch von den bewachsenen Berghöhen herunter. Zunehmende Rauhheit macht allmälig die an grauen steinernen Säulen gezogenen Reb-gewinde seltener; aber noch weithin findet man zwischen, den riesigen Blöcken, von dem hier auftretenden Erlengebüsch halb überwuchert, verlassene Reste älterer Kultur:

Nussbäume und verwilderte mit Früchten behangene Pflaumenbäume. Durch diese fast erdrückende Vegetation blicken unansehnliche, ausgestorbene Dörferr deren ungetünchte Steinhäuser und Kirchthürme in ihrer grauen Farbe und Eckigkeit nur wenig vom umgebenden Felsgestein sich abheben. Die Todtenstille wird nur unterbrochen durch das Brausen der Wasserfälle, welche südlich in das weisse Bett der Maggia hinabstürzen. In solcher Landschaft wanderten wir bei trübem Himmel und schwüler Hitze bis zu dem hinter Felsen und Nussbäumen versteckten Dörfchen S. Carlo, wo ein Gewitter uns nöthigte unter einem vorstehenden Dache Schutz zu suchen. Wie in den frühern Ortschaften des Val Bavona, so fand sich auch hier kein Mann, den wir hätten um Herberge ansprechen oder um den Weg fragen können. Wir hatten die Absicht, wenn irgend möglich, noch heute nach der am Fusse des Cavergnogletschers gelegenen Alp Zotto hinaufzusteigen, um am nächsten Morgen recht früh den Gipfel des Basodine zu erreichen. Abends 4 Uhr liess der Regen etwas nach; gleich hinter S. Carlo hören Nuss- und Kastanienbäume mit einem Male auf; der Weg windet sich steil am Sturzbache hin durch dichtes Gebüsch von Birken und Lärchen,, deren triefende Zweige uns unangenehm in 's Gesicht klatschten. So ging es mühsam eine Stunde lang bis-Campo hinauf, wo ein kleiner Wiesenplan den Berghang unterbricht. Binnen dieser kurzen Zeit hat sich die Landschaft zu einer völlig hochalpinen umgestaltet: man erblickt Nichts mehr als Fels, Wasserfall und Weidetrift; seitlich reicht die Baumgrenze wenig höher.

Der Pfad steigt in enger Schlucht weiter, in welcher der angeschwollene Gletscherbach braust. Da auf der Karte keine Brücke bezeichnet ist, wurde uns bange, wie wir auf das rechte Ufer hinüberkommen sollten; jedoch über dem Ende dieser Felsschlucht hat die Natur selbst für einen Bau Sorge getragen, an welchem Menschenhände nur wenig nachzuhelfen fanden. Riesige Felsblöcke sind in den Schlund hinuntergestürzt und liegen da so nahe beisammen, dass es nur ein drei Fuss langes Brett bedurft hat, um den immerhin etwas misslichen Sprung von einem zum andern unnöthig zu machen. Um von dieser Teufelsbrücke nach der Alp Zotto zu gelangen, kann man entweder die Thalrichtung verlassend sofort nach Westen aufsteigen und einen niedern Bergsattel überschreiten, oder, wie wir thaten, der Schlucht folgend, auf hohem schwindligem Felsenpfad, dem von der Alp herunterkommenden " Wasserfall entgegengehen. Die fünf Stunden von Bignasco entfernte Alp liegt auf kiesiger " Wiesenfläche, durch einen Felscircus von der übrigen Welt völlig abgesondert, über welchen der ganz nahe Cavergno-gletscher hereinragt. Erst bei hereinbrechender Nacht traten wir unter die Thür der gastlichen Hütte.

Der folgende Tag sah uns nach einem kurzen Morgenspaziergang durch strömenden Regen unter das Dach gebannt. Da der mitgebrachte Proviant nicht genügen wollte, musste ein von Trösch mit der Flinte des Sennen erlegtes junges Murmelthier aushelfen, das gleich darauf in Butter gesotten vortrefflich schmeckte. Der Aelpler kam allen unsern Wünschen mit einer Geselligkeit und Artigkeit zuvor, die in einem so verlorenen Erdwinkel sehr überraschen musste.

Er verkürzte uns die Zeit mit Erzählung seiner Abenteuer in Californien, wo er in Zeit weniger Jahre in allen möglichen Handwerken sein Glück versucht hatte. Wie er zuletzt als Gemüsehändler auf einen grünen Zweig gekommen war, trieb ihn das Heimweh wieder fort und jetzt zieht er es wieder vor, auf der stillen Alp zu leben. Oft sieht er nur alle Wochen ein fremdes Gesicht, wenn er seine Butter acht Stunden weit nach Airolo auf den Markt trägt. Während er sieh draussen allerlei Welt-kenntniss erworben, geläufig englisch und französisch sprechen gelernt, hat er doch seinen angebornen fröhlichen Humor nicht im Mindesten in der Welt zurückgelassen.

Die beiden Nächte ruhten wir im warmen Heu ganz vorzüglich; bloss in der zweiten wurde ich einmal durch einen schweren triefend nassen Gegenstand aufgeschreckt, der mir quer über das Gesicht fiel und plump darauf liegen blieb. Es war diess nichts anders, als die zum Haushalt gehörige Katze, die « ach einem Spaziergange, den sie Nachts im Regen gemacht hatte, jetzt wiederum die Wärme aufsuchte.

Wie am 17. August die Nebel sich noch nicht heben wollten, brachen wir, auf den Basodine für diessmal Verzicht leistend, nach dem Bedrettothal auf, das wir durch den Umweg über die wenig besuchte Bocchetta di Val Maggia zu gewinnen hofften. Wenn man die nach Westen die Alp Zotto begrenzenden Felsen erklommen hat, so kommt man nach einer kleinen Stunde an die Stelle, wo der Bach sich in einem steinigen Kessel verliert, um ähnlich wie der Seidenbach des Maderanerthales weiter unten als frischer Quell wieder aus der Wand hervorzusprudeln.

Beinahe hätte der Tornister, bei einem ungeschickten Sprung in 's Wasser fallend, diese unterirdische Reise mitgemacht. Hier oben führte der Weg durch das seinem Namen wenig Ehre machende Val Fiorina; bloss spärlich wucherten aus dem Gestein Statice alpina und Radiola rosea hervor. Zwei Stunden von Zotto entfernt liegt die schweizerisch-italienische Grenze. In der Tiefe vor uns erblickten wir drei Seen des obern Pommât ( da wo die Karte den Namen Bodensee trägt ). Um die steile Geröllwand herunterzukommen, muss man von der Passhöhe sich etwas nach rechts entfernen. Gleich nach dem kleinen Schneeflecke unterhalb derselben fanden wir blühendes Eritrichium. So bilden Adula und Basodine für das zierliche Gletschervergiss-meinnicht eine Brücke zwischen den Hochalpen des Ober-Engadin und des Wallis. Sonder Zweifel wird es auch auf den Bergen zwischen Maggia- und Livinenthal zu finden sein. Ohne viel weiteres Steigen war von den See'n aus bald die Höhe des S. Giacomopasses erreicht, wo sich ein weiter Ueberblick über die, das Bedretto nördlich begrenzende Gotthardgruppe aufthat. Durch prächigen Lärchwald gerade vor uns herabsteigend, erreichten wir das 4'.2 Stunden von Zotto entfernte Hospiz All'Acqua. Die Lage desselben in lichtem, durch sonnige Alpentriften unterbrochenen Wald über dem klaren brausenden Tessin ist wundervoll; etwas weniger annehmlich war dagegen das gebotene Quartier. Nach einer wegen dem, was zartsinnige Engländer als « mauvaises bêtes » nur in fremder Sprache zu bezeichnen wagen, schlaflos zugebrachten Nacht hatte ich wenigstens die Freude, am Morgen wieder einmal vollkommen klaren Himmel zu treffen.

Unmöglich durften wir jetzt, mit Gletscherseil und Eispickel bewaffnet, wegen deren wir in Locarno für Schatzgräber waren gehalten worden, auf der Landstrasse nach Hause ziehen, um so weniger als wir wiederum an der Schwelle des diessjährigen Clubgebietes standen. So beschlossen wir, die Firnhöhen nördlich von Bedretto geradlinig durchwandernd, am gleichen Tag noch die Furka zu erreichen.

Erst durch Wald, dann durch Gebüsch von Wachholder und Alpenrosen, zwischen dem die gelben Blüthen-dolden von Bupleurum stellatum hervorsehen, stiegen wir zu dem « piano secco » herauf und von seiner schmalen Stufe ebenso steil weiter durch unfruchtbare Halden nach einem zweiten Geröllplateau dicht unterhalb des Gletschers ( Punkt 2400 der Excursionskarte ). Hier nun sahen wir zum ersten Mal den Basodine, welchen, so lange wir an seinem Fusse geweilt, neidischer Nebel unsern Blicken verhüllt hatte, sammt den Gletschern von Cavergno und Cavagnoli. Plötzlich tönten von der Pyramide des Poncione del Ruine her lautes Rufen; aber in der Erwartung, Clubgenossen begrüssen zu können, die vielleicht am Pizzo Rotondo sich in den Fussstapfen von Herrn Haller versucht hätten, war ich getäuscht; denn bald kreuzten zwei Jäger aus der Umgegend unsern Weg. Leicht ging es über den mit Schnee dünn bedeckten spaltenlosen Gletscher hinauf. Auf der wenig geneigten Wasserscheide, ( 2880 der Karte, 2l/i Stunden über All Acqua ), that sich mit

einem Mal ein Blick auf nach den imposanten Gestalten von Finsteraarhorn, Schreckhorn und Wetterhorn; bald übersehen wir auch den weit ausgebreiteten Griesgletscher.

Unter den zerrissenen Felswänden des Pizzo Rotondo angelangt, schlugen wir die Richtung nach Nordost ein. Zur Linken hatten wir die Spalte, durch welche der Gerengletscher sich nach seinem öden Felsenkessel herunterwälzt, zur Rechten die Reihe des Pizzo Rotondo, Pizzo Pesciora und Wyttenwasserstocks. Als wir bei Punkt 2855 eine zweite Wasserscheide, diessmal zwischen Rhone und Reuss, erreicht hatten, schien wiederum Jupiter Pluvius auf unsern Plan neidisch geworden zu sein. Wir wären gern am Leckihorn hin unmittelbar auf den Muttengletscher hinübergegangen; aber rasch hatte im Süden sich dichtes Gewölk zusammengezogen und verhüllte schon den P. Pesciora, so dass es geboten schien, möglichst schnell Eis und Fels zu verlassen, ehe der Nebel uns umfangen und vielleicht an unwirthliche! ' Stelle dieses Labyrinthes festbannen konnte. Eiligen Schrittes ging es eine Strecke den Wyttenwassergletscher hinab; doch wie binnen kurzer Frist das Gewitter wieder gegen Südosten zurückwich, schöpften wir neuen Muth, wandten dem Thal den Rücken und erklommen die nicht hohe, aber steile Felswand, welche den Wyttenwassergletscher vom Stelli-bodengletscher trennt; dicht bei 2908 überschritten wir um Mittag quer diese kleine Einsattelung, die wir zuerst für einen Theil des Muttenfirnes hielten. Jenseits erhob sich wieder ein niederer Felsgrat, auf dessen Höhe angelangt wir den wirklichen Muttenfirn tief unter uns sahen.

Doch waren wir bald die steile Geröllwand hinab auf seinem ebenen untern Theil, auf welchem eine Gletschermühle weithin ihr klangvoll murmelndes Geräusch verbreitete. Jenseits, in der Höhe von 2400 M. hat der von Westen kommende Bach einen Stollen unter dem Eis durchgewühlt. Am linken Ufer dieses Baches hob sich unser Weg wieder steil und hoch am Thierberge hinauf, meist über schönen Rasen, der mit roth und weiss blühenden Aretien geschmückt, dem Auge eine angenehme Erfrischung bot. Oben hatten wir nochmals einen Ueberblick über den westlichen Theil des Excursionsgebietes, namentlich auf die gewaltigen Mutt-hörner; dann wandten wir uns vom Punkt 2807 etwas nach rechts ab und lenkten unsern Schritt über Geröllhalden, Rasen und Schneeflecke eiligst dem uns von Weitem entgegenwinkenden Furkahause zu, in der letzten Viertelstunde nun doch noch von heftigem Platzregen erreicht.

Seit wir das Bedrettothal verlassen hatten, waren zehn Stunden verflossen ( von welchen etwa 1 lji Stunden auf die Halte kommen ). In dieser Zeit hatten wir keine menschliche Wohnung getroffen, waren ausser den beiden Jägern keinem lebenden Wesen begegnet. Durch die Abwechslung verschiedener Stromgebiete und durch innerste Ansicht eines Gebirgsknoten sehr interessant, forderte die Gletscherwanderung von All'Acqua zur Furka wohl einige Anstrengung, bietet aber nirgends die geringsten Schwierigkeiten.

Am 19. August verboten Nebel und Föhn jede weitere Unternehmung. Unterhalb dem Punkt 2503 Streifzüge im Gotthard-, Adula- und Tessingebiet.

westlich vom Gasthof genossen wir noch die Uebersicht des Rhonegletschers bis zu seinem mittlern Theile, bis Tellenstock und Thieräplistock, dann ging es ohne Zaudern die Strasse hinunter nach Realp und dem vor 11 Tagen verlassenen Andermatt zurück.

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