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Überschreitung Stockhorn-Bietschhorn

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Stockhorn-Bietschhorn

Peter Murer, Beckenried

1 14.17.August 1983.

2 Sepp Zurfluh, Ernst Arnold.

1 Fährst Du durch das Vispertal in die Rhoneebene hinunter, bleibt Dein Blick am nördlichen Horizont haften, wo eine lange, stark zerklüftete Gratschneide sich abzeichnet. Und schon immer ist es mein Wunsch gewesen, über diesen zwei Kilometer langen und eine gewaltige Wandflucht krönenden Grat dem Bietschhorn einen Besuch abzustatten.

Als östlichstes Bollwerk dieser mächtigen Granitmauer erhebt sich das Stockhorn, dessen Besteigung über den schwierigen Südgrat geschieht. Dann folgt ein wilder, zergliederter Kamm, der zum Bietschhorn-Südostgrat emporleitet. Davon sagt der Führer bloss, dass hier zahlreiche Felszähne in schlechtem Gestein zu umgehen sind. Und zum Abschluss fordert schliesslich der Gipfelaufschwung am Bietschhorn mit seinen 400 Metern Höhendifferenz, nochmals steile und schwierige Kletterei. Wir hoffen nun, die Traversierung mit Abstieg über den Nordgrat zur Baltschiederklause in zwei Tagen bewältigen zu können.

Als ich beim Wasserstollen oberhalb Ausserberg meinen Rucksack packe, ist es bereits Mittag. Seit gut zehn Jahren dient der hier durch den Berg getriebene Tunnel dazu, das lebenswichtige Nass vom Baltschiederbach herzuleiten. Damit übernimmt er die Aufgabe, die früher jenem einmaligen Bauwerk, der in den senkrechten Fels gehauenen Wasserleitung zukam. Zum Glück wird diese Leitung aber noch unterhalten, so dass wir heute dieses eindrückliche Beispiel alter Baukunst immer noch bestaunen können. Da meine zwei Kollegen schon am Morgen zum Stockhorn-Biwak aufgebrochen sind, verfüge ich nun über Gelegenheit, in aller Ruhe den heiligen Wassern ins Baltschiedertal zu folgen.

Ein längerer Fussmarsch bringt mich zur Kapelle Hohbitzu, wo ich den Pfad nehme, der mich durch eine schattige Schlucht und über ein Trümmerfeld zum Biwak am Fuss des Stockhorns führt. Hier treffe ich meine beiden Kameraden Sepp und Ernst2, die den Nachmittag bereits dazu benützt haben, um den ( Uns zu Füssen der Nordgrat, der wie eine Leiter vom Himmel zwischen Licht und Schatten hinunter ins Grüne führt ) Mischabel-Kette über den Türmen des Stockhorn-Südgrates Weg zum Einstieg zu erkunden. Das wird uns morgens in der Dunkelheit von Nutzen sein. Bald surrt der Kocher, und der Duft einer würzigen Suppe erfüllt den kleinen Raum. Heute unterbleiben die langen Gespräche. Nach einem letzten Routenstudium kriechen wir unter die Decken, wohl wissend, dass morgen das Lager härter und der Schlaf kürzer sein werden.

Kurz vor vier Uhr treten wir in eine klare, mondlose Nacht hinaus. Nur anhand des Sternenlichtes können wir uns orientieren. Sepp übernimmt die Führung, kennt er doch die ersten Längen von einem früheren Versuch her.

So dauert es keine Stunde, und wir haben den ersten Turm westlich umgangen und stehen in der Scharte vor dem zweiten. Im Schein unserer Stirnlampen beginnen wir zu klettern. Vorsichtig tasten wir uns höher, denn jeder Griff und Tritt muss zuerst angeleuchtet werden.

Langsam weicht jetzt die Nacht dem Tag. Das Weisshorn und gleich danach auch die Mischabelkette flammen als erste auf, während wir der Gratkante zum dritten Turm folgen. Den Zahn des Narwal ( vierter Turm ) lassen wir rechts liegen und erleben nun in der Scharte vor dem fünften Turm das eindrückliche Schauspiel des Sonnenaufgangs. Lange können wir leider nicht verweilen, befinden wir uns doch im anspruchsvollsten Aufschwung des Südgrates. Nach drei Längen in schwieriger, herrlicher Kletterei in der sonnendurchfluteten Ostwand wechselt die Route in die schattig-kühle Westwand hinüber. Von der Spitze des fünften Turmes bringt uns schliesslich ein genussreicher Gang an der Grenze zwischen Licht und Schatten zum Gipfelkreuz des Stockhorns.

Nach nur kurzer Rast - die Zeit drängt! -machen wir uns um halb elf Uhr wieder auf den Weg. Weit, weit im Westen lockt das Bietschhorn mit seinen gewaltigen Aufschwüngen. Unzählige Türme und Zähne sind aber bis dahin noch zu überklettern oder in einer ihrer Flanken zu queren. Diese Ausweichmanöver erfordern vor allem wegen des teils sehr brüchigen Gesteins zuverlässiges Sichern. Der Grat selbst bietet weniger Probleme, doch auch hier treffen wir auf Zacken, die beim blossen Anschauen in sich zusammenzustürzen drohen. Zudem ist dieses Jahr der Ausaperungsprozess bereits ziemlich weit fortgeschritten, wodurch Schneefelder, die sonst ein bequemes Umgehen der Türme ermöglichen, verschwunden sind.

Es ist schon später Nachmittag, als wir auf den einzigen grossen Firnflecken unterhalb der Südostschulter stossen. Mit Schmelzwasser füllen wir unsere Flaschen wieder auf, denn von hier an müssen wir damit rechnen, bis zum Gipfel keinen Schnee mehr anzutreffen. Gegen 19 Uhr erreichen wir die Schulter auf 3535 m. Wir entscheiden uns hier, wo der Stockhorn-Westgrat sich mit dem vom Tieregghorn kommenden Südgrat vereinigt, das Nachtlager einzurichten. Noch könnten wir eine Stunde weiterklettern - ob wir dann aber das Glück haben, auf einen so günstigen Platz zu stossen? Wir machen uns deshalb an die Arbeit. Blöcke werden aufgeschichtet, Unebenheiten mit Steinplatten zugedeckt, und nach einer halben Stunde ist eine Plattform hergerichtet, die es uns gestattet, zu dritt bequem ausgestreckt zu liegen.

Vor dem Einnachten studieren wir noch den Weiterweg. Eine waagrechte, stark gezähnte Gratschneide führt hinüber zu den steilen Türmen des Südostgrates, die, von Nebelfetzen umspielt, einen gespenstischen Anblick bieten. Die hier emporschiessenden, mächtigen Granitfluchten werden uns morgen einiges abverlangen. Kaum hat sich die Dunkelheit eingenistet, verjagt ein kühler Wind die Nebel, und alsbald wölbt sich ein sternenbesäter Himmel über uns. Lange bestaunen wir still die Pracht. Eine Sternschnuppe leuchtet im Süden auf und verspricht für morgen gutes Wetter. Nun fallen die müden Körper in ihren wohlverdienten Schlaf.

Nach einer kalten Nacht bewegen wir uns schon früh auf der messerscharfen Kante weiter, unserem Ziel, dem Bietschhorn, zu. Dankbar lassen wir uns von den ersten Sonnenstrahlen erwärmen. Miteinander gehend, überklettern wir vorsichtig die brüchigen Felszähne, um jeweils - sofern notwendig - in die nächstfolgende Scharte abzuseilen. Zeitrau-bend sind diese Manöver, und so wird es Mittag, bis wir den letzten Zacken in seiner Ostflanke umgangen haben. Hier erreicht die vom Üssere Baltschiedergletscher aufsteigende Route den Grat - die letzte Rückzugsmöglichkeit. Das Wetter ist gut, wir setzen die Überschreitung somit fort. Doch zunächst geniessen wir während der Mittagsrast die grandiose Aussicht: im Süden die ganze Kette der Walliser Viertausender; östlich, uns zu Füssen, der gewaltige, vom Breitlauihorn und Jägihorn überragte Kessel des oberen Baltschiedertales, und in der Ferne beherrscht das Aletschhorn den Horizont. Unser Blick schweift daraufhin nach Norden, streift das Panorama der Berner Alpen und bleibt schliesslich an unserem nächsten Hindernis, dem abweisenden ersten Turm des Südostgrates, hängen.

Das Doppelseil umgebunden, den schweren Sack am Rücken, steige ich rechts der Kante .* Phoio Peler Ml in eine steile Verschneidung. Die Sicherung erfolgt mit Klemmkeilen, denn Haken lassen sich in diese kompakten Granitplatten nur schwer schlagen. Die zweite Länge führt uns über abdrängenden Fels in eine weitere, oben von einem Überhang abgeschlossene Ver- schneidung. Zu stark behindert mich nun der Rucksack, und ich hänge ihn kurzerhand an einen Haken. Welch befreiendes Gefühl, die steilen Platten emporzuturnen, ohne dass sein Gewicht mich in die Tiefe zieht! Unter dem Wulst traversierend, gelange ich auf eine Platte und von dort durch einen Riss auf den ersten Turm. Luftig führt dann die Kletterei über den ausgesetzten First an den Fuss des zweiten Turmes. Senkrecht bäumt er sich vor und dem abdrängenden Riss auf die Spitze zu folgen. Heute ist uns der Weg bekannt, klettern muss ihn allerdings jeder selber.

Unvermittelt gleiten Nebelfetzen die Ostwand herauf und verfangen sich in den Türmen. Wir folgen weiter dem Grat, der hier einer gigantischen Mauer gleicht, erbaut aus zimmergrossen Granitblöcken, die jederzeit in sich zusammenzufallen drohen. Glücklicherweise haben unsere Vorgänger die Festigkeit dieses Zyklopenbauwerks getestet, so dass wir ihm unser Gewicht anvertrauen dürfen. Um 18 Uhr gelingt es uns noch, das Felsband, das die Umgehung der nächsten Türme erlaubt, auszumachen, denn kurz danach wird es vom Nebel verschluckt. Von der Scharte queren wir darauf in die brüchige und heikle Ostwand hinaus. Die Sicht verschlechtert sich jetzt zusehends, so dass wir die ausgeaperte Eisrinne nicht mehr finden, die oberhalb der Türme wieder auf den Grat leiten soll. Deshalb queren wir nun leicht rechts ansteigend zum Ostsporn, den wir unterhalb eines steilen Aufschwungs erreichen. Inzwischen hat der Nebel die mit Flechten überzogenen Felsen derart nass und schlüpfrig gemacht, dass ich die Kante nicht direkt anzugehen wage. Statt dessen wenden wir uns nach rechts und gewinnen so über steiles und brüchiges Gelände an Höhe, bis uns schliesslich glatte Plattenschüsse gegen die Ostwandrippe abdrängen. Doch in drei weiteren Seillängen über einen Blockgrat haben wir es geschafft - endlich stehen wir auf dem Gipfel des Bietschhorns. Müde, aber zufrieden gratulieren wir uns zum zweitägigen Aufstieg. Doch wie wir uns die Hände schütteln, beginnt es zu schneien. Nun wird die Lage ernst. Dank der guten Ausrüstung sind wir aber zuversichtlich. Noch bleibt uns eine Stunde bis zum Einnachten. Diese Zeit gilt es zu nutzen, um möglichst weit über den Nordgrat abzusteigen. Die nun bereits von einer Schneeschicht bedeckten Felsen erfor- Unterlagen SAC-Führer Berner Alpen III, fünfte, ergänzte Auflage 1976. S 43-44 ( R 46 ), S 63-66 ( R 92 und 93 ), Skizzen 5, 6, 9, 10. LK 1 :25000, Blatt 1268 Lötschental.

dern unsere ganze Aufmerksamkeit. Entsprechend langsam kommen wir voran. Der Grat lässt sich praktisch nur schrittweise bezwingen. Zugleich nimmt der Wind an Stärke zu und schleudert uns die Graupeln ins Gesicht. Wir müssen nun die Stirnlampen einschalten, aber auch diese nützen uns bei derartigen Verhältnissen nicht mehr viel. Auf 3800 Metern halten wir inne und beschliessen, uns für die Nacht einzurichten. Unterhalb eines Aufschwungs ebnen wir einen Platz aus, errichten eine kleine Mauer und kauern uns mit überge-zogenen Biwaksäcken in deren Schutz nieder. Unmöglich, bei diesem Sturm etwas Warmes zu kochen. Wie wird sich die Wetterlage weiterentwickeln? Werden wir morgen den Abstieg finden? Fragen, denen nachzusinnen jetzt jeder Zeit genug hat.

Gegen Morgen legt sich der Sturm, der Schneefall lässt rasch nach und die Wolken beginnen zu weichen, bis schliesslich ein blankgefegter Himmel herabgrüsst. Dafür macht sich nun die Kälte unangenehm bemerkbar, und es braucht einige Überwindung, bei Tagesanbruch mit steifen Fingern den Kocher in Betrieb zu setzen, um unsere durchfrorenen Glieder mit ein paar heissen Schlucken wieder aufzuwärmen.

Der einmalige Sonnenaufgang entschädigt uns dann allerdings für unser Ausharren. Einen schöneren Ausklang dieser Überschreitung hätten wir uns gar nicht wünschen können. Tausenfach lässt der frischgefallene Schnee die ersten Sonnenstrahlen aufblitzen, ein herrliches Schauspiel bietend. Über dem Berner Oberland türmt sich eine von der Sonne angestrahlte Wolkenwand, jede Minute ein anderes eindrückliches Bild zeigend. Im Lötschental erlöschen langsam die Lichter, die uns während der Nacht noch ein Gefühl menschlicher Nähe vermittelt haben, und machen blendender Helligkeit Platz. Uns zu Füssen der Nordgrat, der wie eine Leiter vom Himmel zwischen Licht und Schatten hinunter ins Grüne führt.

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