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Und wenn es der Abstieg vom Thron der Götter wäre

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Ernst Reiss, Basel

Wir schreiben den 18. Mai 1956. Die am Rucksack angeschnallte Testuhr zeigt 14.50 Uhr.

Es ist Tatsache geworden; wir stehen auf einem der « Götterthrone » nahe der Tibetgrenze. Lhotse heisst der grosse Südberg im zentralen Himalaya, mit 8501 Metern der vierthöchste Bergriese der Welt. Heute wurde diese schroffe Gipfelspitze aus Fels und Eis erstmals in ihrer unendlichen Einsamkeit gestört.

Drei Fuss unter der Wächtenkalotte haben wir diensttuenden Ingenieur, über den sich unser Groll entladen wollte, weil er uns so tückisch hatte warten lassen. Der Dichter setzte an zur Rede, aber er kam nicht weit. Der Betriebschef entschuldigte sich nicht einmal; er meinte nur freundlich:

« Was wollen Sie denn? Jetzt sind Sie wieder unten und dazu noch alle wohlauf und am Leben. » Hatte er nicht recht? Das war wirklich die Hauptsache. Schliesslich hätte es ja auch schiefgehen können, am Berg oder in der Seilbahn. Und war uns nicht eine Bergfahrt innerhalb weniger Stunden gelungen, für die man in früheren Zeiten allein für den Anmarsch manche Tage gebraucht hätte? So entschlossen wir uns, mit der Welt wieder Frieden zu schliessen, und fuhren ebenen-wärts, während der Dreikant des Gran Sasso mit seiner samtenen, herrlichen Kühle zum letztenmal auf uns, die wir schon wieder durch die schwüle, drückende Hitze der Niederungen eilten, herniederblickte.

Der Dichter allein schaute sich nicht um. « Assisi, Perugia, Siena », sagte er, und der Wohlklang dieser Worte berauschte ihn und uns...

Bilder /j bis ig im 60 Grad geneigten Firn zwei grosse Standstufen ausgehackt. Ich weiss nicht mehr, wie viele Atemzüge dazu nötig waren; ich weiss nur, dass unser Sauerstoffvorrat äusserst knapp bemessen war.

Noch verweilen wir für eine kurze Zeitspanne auf dieser wind- und nebelumbrausten Steil-kuppe, nicht, um darüber nachzusinnen, warum wir uns jahrelang nach diesem Moment gesehnt und dafür gelebt haben, nein, einfach um noch ein paar notwendige kleine Handlungen zu vollziehen: Wir verbessern die Selbstsicherung um den eingerammten Pickelstiel und suchen die mitgeführten Wimpel des Gastlandes Nepal und diejenigen unserer Heimat. Wir bereiten uns für die erforderliche Gipfelaufnahme vor. Die Handschuhe oder die Atmungsmaske entfernen wir nur, wenn wir mit den Händen eine feinere Arbeit zu verrichten oder etwas Besonderes zu sprechen haben. Den Photoapparat trage ich der Kälte wegen unter der taschenlosen Daunenweste auf der Brust. Die angefrorenen Finger- und Fussspitzen versehen ihre Dienste mit zunehmender Gefühllosigkeit nur noch mangelhaft. Jede Bewegung ist eine Aufgabe voller Konzentration, wobei sämtliche Gegenstände angebunden oder festgehalten werden müssen.

Zwei Standstufen nach rückwärts sind notwendig, da die Photodistanz zu gering ist. Also nochmals eine Anstrengung in dieser exponierten Lage, in Wind und Wolken, im All...

Vielleicht wollen wir im Unterbewusstsein mit diesen kleinen Handlungen nur den bevorstehenden Abstieg etwas verzögern; eigentlich wäre der Moment nun gekommen, sich vor Freude in die Arme zu fallen. Nein, wir spielen unsere Rolle wie Männer: sachlich, scheinbar gelassen. In dieser Situation bleibt keine Zeit für ein Insichgehen oder überschwängliche Gefiihlsäusserungen.

Man müsste sich darum fragen: Ist das der Höhepunkt eines besonderen Abenteuers, ist das der Höhepunkt in seinem ganzen Umfang; in seiner ganzen DramatikWir werden uns in unserem Dasein wohl kaum je wieder einmal so weit vom Alltag entfernen oder etwas derart Einmaliges erleben können!

Die Augen gegen die fliegenden Schneekristalle und die plötzlichen Lichteinbrüche verkniffen, reichen wir uns nach Bergsteigerart die Hand. Für einen Moment lege ich Fritz Luchsinger in kameradschaftlicher Geste meinen Arm über die Schultern. Scharf verfolge ich jede Bewegung meines Seilgefährten. Er, der harte Instruktionsoffizier, verrät keinerlei Regung. Vielleicht hin- dert auch ihn die Sauerstoffmaske daran, Freude und Angst auszudrücken.

Fritz ist ein erprobter Bergkamerad. Seine Zuverlässigkeit bei der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels ist sprichwörtlich. Er erweckt den Eindruck von Ruhe und geballter innerer Kraft. Es ist kaum zu glauben: Vor fünf Wochen war er dem Tod noch so nahe wie ein Schwerkranker. Mit geplatztem Blinddarm lag er vollständig apathisch im Kulturraum des Rotjacken-Lamas, Mawang Gyurmi, im Kloster Thyangboche. An einem jener bedrückenden Tage, unmittelbar vor einer Trainingstour, hatte ich mich von ihm verabschiedet und glaubte ihn bei diesem fast hoffnungslosen Zustand am Abend kaum mehr lebend anzutreffen. Doch die Expedition hätte auch dann weitergeführt werden müssen. Während dieser schlimmsten achtzig Stunden wich unser junger Arzt kaum noch einmal von der Seite des schwer erkrankten Kameraden.

Wie kann Fritz nun noch neben mir auf diesem wolkenumhüllten Gipfel stehen? Was bedeutet ihm wohl dieser Erfolg im Ringen um die Weltberge? Ich konnte es nie erfahren, denn er ist ein verschlossener Mensch, kehrt sein Herz nie allzusehr nach aussen. Auch in den folgenden vielen Jahren wohnte er entfernt von mir und meiner Familie. Manchmal fragte ich mich nachträglich, von welchen Impulsen wir uns antreiben liessen und wie unser Leben jetzt aussähe, hätte uns nicht jene geheimnisvolle Triebfeder den Drang in die Höhe verliehen.

Unter dem dicken Bekleidungspanzer hämmert das Herz. Im Unterschied zu der schroffen, eiserstarrten Umgebung pulsiert noch warmes Blut durch unsere Adern. Für Augenblicke sehe ich in die unergründlichen Wolkenbänke unter diesem Giganten aus Fels und Eis und ermesse die Distanz an den Fuss des Berges, den vier Wochen dauernden Rückmarsch nach Kathmandu und die Reise nach der Heimat... Gedanken blitzen auf: die Ankunft zu Hause bei meiner lieben Frau und dem erst anderthalbjährigen Sohn, der mich bei meiner Rückkehr wohl nicht mehr kennen wird. Ich denke an meine guten Eltern und Brüder, die mir den Weg hieher ermöglichten und auch von ganzem Herzen gönnten. Ich ahne ihre Sorgen um unsere heile Heimkehr...

Das « Dach der Welt », wie man den hohen Himalaya nennt, hat uns noch nicht entlassen. Der Chomolungma ( Mount Everest ) und sein westlicher Nachbar, der Nuptse, hüllen sich noch immer in zerrissenes Gewölk. Ist die « Mutter Göttin der Erde » wohl erzürnt, dass ihr grosser Nachbar von so unscheinbaren Wesen betreten wurde?

Zwei winzige Gestalten sind in dieser unwirtlichen Einsamkeit durch ein kurzes Stück Seil auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Schon allein die dünne Höhenluft und zunehmende Kälte werden in diesen gewaltigen Steilfluchten auch für trainierte Männer zum unsichtbaren, aber spürbaren Feind. Welcher Bergsteiger kennt nicht jenes Gefühl, wenn er nach der Gipfelrast in ermüdetem Zustand auf einer schwierigen Route wieder abzusteigen hat!

Wir gehen behutsam und sichern uns gegenseitig Seillänge um Seillänge. Das abschüssige Lhotse-Couloir mit den überlappten Schneegangeln ist gefährlich. Es dürfte jedoch der einzig ratsame Zugang auf diesen einsamen Bergriesen im Schatten des gewaltigen Mount Everest sein. Beim Standwechsel schauen wir uns zuweilen in die Augen; unsere Gesichter sind von Anstrengung gezeichnet, und dicke Eiskrusten hängen in den Augenbrauen. Wir sprechen kaum ein Wort. Warum auch? Erstens sind wir gut aufeinander eingespielt, und zweitens verlocken die montierten Atmungsmasken, die glücklicherweise Erfrierungen an Mund und Nase verhindern, nicht zu langem Gespräch. Ein Glück, dass uns der Wind im Grund der Rinne nicht zu sehr belästigt. Unter der hohen linksseitigen Felsrippe, wo wir den Abseilhaken und die Reepschnur zum Abseilen schon vorbereitet haben, können wir etwas verschnaufen. Das ausgesetzteste Stück wird bald hinter uns sein.

V Dann und wann fällt unser Blick auf die dahinziehenden Wolkengebilde, welche um die höchsten Gipfel und Gratkämme branden. Wir fragen uns, wo sich unsere Kameraden wohl befinden, was sie von uns denken mögen, nachdem wir schon am Morgen durch eine ernsthafte Störung eines Sauerstoffgerätes lange Zeit aufgehalten und dann erst Mitte Nachmittag ein einziges Mal auf dem Gipfel sichtbar geworden sind.

Das Einbrechen in dem zähen Windharsch ermüdet uns beträchtlich. Die Aufmerksamkeit lässt doch allmählich nach. Da stolpere ich plötzlich und falle vornüber. Sofort drehe ich mich wieder aus der Kopflage, und die Zwölfzacker stossen ganz automatisch durch den Hartschnee. Wir gehen, ja wir torkeln schräg nach rechts gegen das kleine Notlager unter einer Felsbraue des Südcols. Die Nacht ist nahe. Wir reissen die dunkeln Brillen vom Gesicht. Unser ganzes Hoffen und Streben besteht nur noch darin, einen Schutz in diesem eingedrückten Halbzelt zu finden.

Endlich stehen wir da; aber wir wissen, dass uns hier keine bekannte Stimme und kein trautes Licht erwartet. Ich hätte vor Glück geweint. Aber so geht der Kampf weiter.

Wir sind sehr über unsere Füsse besorgt, da wir seit dem gezwungenen Halt am frühen Morgen das Gefühl darin fast ganz verloren haben. Eine gütige Fügung lässt uns wenigstens die Lawinenschaufel in einem Felsspalt ausserhalb des schneeverwehten Zelts finden und ermöglicht uns das Freilegen der winzigen Stoffbehausung. Unfähig zu jeder zusätzlichen Anstrengung, verschwinden wir mit der gesamten Bekleidung wortlos in unseren Schlafsäcken. Erst nach längerer Pause, als die Nacht ihren undurchsichtigen Mantel auch über die höchsten Bergkuppen ausgebreitet hat, beginnen wir uns wieder zu bewegen. Wir dürfen unter dem monotonen Rieseln des Flugschnees nicht einschlafen, sondern müssen unsern ganzen Willen dahin ausrichten, dieser unheimlichen, stillen Umklammerung zu entgehen.

Das Zelt wird besser verschlossen. Ein Licht blitzt auf und wirft harte Schatten in den engen Raum. Unmittelbar vor mir gucken die hellen Augen meines Gefährten unter der Schaffell-mütze hervor. Fritz nickt mir dankbar zu, weil ich mir mit dem kleinen Kocher zu schaffen mache. Der eingefrorene Marschtee ist sogar im Schlafsack und bei Körperwärme noch immer von Eis durchsetzt. In zwanzig Minuten wird ihn aber die zittrige, kleine Butanflamme wieder aufwärmen. Wie lange aber können solche zwanzig Minuten sein! Da brütet man, in Gedanken versunken, vor sich hin: Warum ist man eigentlich hier herauf gestiegen... wie wird es weitergehen?...

Als Erstklässler hatte ich mit Eschenski und Hanfgurten unsern Hausberg, das Jakobshorn bei Davos, bestiegen. Zwei Jahre später stand ich bereits auf einem Dreitausender. Von da an verbrachte ich fast jedes Wochenende in den Bergen. In meinen beiden Brüdern und in einem Onkel fand ich gute Bergkameraden. Ausgangs der dreissiger und anfangs der vierziger Jahre gelang uns in Graubünden vom Piz Linard bis zu den Bergüner Stöcken manche winterliche Erstbegehung. Dann folgten grosse, zum Teil neue Routen in den Berner Alpen. Tausend Bergfahrten verschiedenster Art bedeuteten einen Teil meines Lebens.

Ein Gedanke, der ganz besonders durch einen in den Bergen verunglückten Kameraden hervorgerufen wurde, liess mich dabei nie mehr los: der Himalaya! Das mir von den Brüdern geschenkte Buch, « Sturm auf die Throne der Götter », wurde mir geradezu zu einer Aufforderung, mit der Zeit zu einer fixen Idee.

Obwohl es für einen Schweizer Bergsteiger vor den fünfziger Jahren eine seltene Ausnahme bedeutete, nach den Weltbergen ausziehen zu können, nahm ich jede Gelegenheit wahr, in dieser Richtung Kontakt zu suchen; ich publizierte und photographierte für manche alpine Zeitschrift, selbst auf die Gefahr hin, dass ich oft zur Einhal- tung eines Termins bis in die Morgendämmerung hinein arbeiten musste.

So stand ich am 18. November 1952 mit Raymond Lambert und Tenzing Norkey in der Spitzenseilschaft am Everst-Südgrat. Es war wohl der höchste Punkt, der von Menschen in dieser späten Jahreszeit je erreicht worden war. Nach vierzig Tagen eisigen Winterschattens im Khumbu- Westbecken und im Südcol gehörten wir zu den vorletzten am « Thron der Götter ». Im Vorstoss am Gipfelaufbau und auf unserem Rückzug hatten wir Windböen von weit mehr als hundert Stundenkilometern und durchschnittlichen Minustemperaturen von mehr als dreissig Grad zu trotzen. Damit hatte eines der härtesten Unternehmen am Chomolungma seinen Abschluss gefunden, ehe unser Sirdar Tenzing und der Neuseeländer Hillary im folgenden Frühjahr durch die ausgezeichnete Mannschaft John Hunts als erste den höchsten Weltberg betraten. Der dritte Pol der Erde war somit erobert. Auf den Tag genau zur Krönung von Königin Elisabeth II. erreichte diese Nachricht den britischen Königspalast.

Mit meiner Frau sah ich mir in Zürich jenen historisch umrahmten Farbfilm später einmal an. Ich lebte bei allem, im Marsch durch Nepal, am Berg in Eis und Wind und den kleinen flatternden Zelten derart mit, als wäre ich selbst dabei. Als ich nachher in die Wirklichkeit der grellen Lichtreklamen am Limmatquai hinaustrat, war ich noch vollständig benommen. Wie nahe, mit Freude und Leid, hatten wir diesem einmaligen Ziel gestanden!

Von jenem Moment an liess mich der Gedanke nicht mehr los, nochmals am Ringen um die Weltberge teilhaben zu können. Dabei hielten mich meine damaligen Berggefährten Dölf Reist und Fritz Luchsinger eher für unrealistisch. Mit der guten Wahl Albert Egglers zum geeignetsten Leiter für ein solches Projekt wurde das Ganze mit einemmal wirklichkeitsnäher

Wo wird Albert diese Nacht vor unserer Rückkehr vom Gipfel wohl verbringen? Welche quälenden Gedanken mögen ihn belasten, nachdem er in einem zweiten Vorstoss mit mir zum Everest aufsteigen wollte, dann aber durch den leidigen Abtransport unseres schwer erkrankten Sherpa-Obmanns, Pasang Dawa Lama, für mehrere Tage an das Basislager gebunden war? Durch den vorausgegangenen grossen Schneefall hatten wir in den Hochlagern aber ernsthafte Bedenken, unser Unternehmen könnte vor dem Monsuneinbruch noch scheitern. Das hätte für uns nicht nur moralische, sondern auch einengende wirtschaftliche Folgen gehabt. Von hier aus gesehen, war es richtig, nach der ersten Wetterbesserung zu handeln. Der Handstreich auf den Lhotse hatte zumindest einen Teilerfolg der Expedition gesichert.

Zur Zeit befinden wir uns aber noch in einer kritischen Situation im Zwischenlager VI auf rund 8000 Meter Höhe. Immer enger aufeinan-dergepresst, dösen wir dahin, in der Hoffnung, die Nacht möge erträglich sein. Ich bange noch mehr um meine gefühllosen Füsse und beginne auf engstem Raum im Schlafsack die lange Doppelschnü-rung der Rentierstiefel zu lösen. Eine halbe Stunde später schäle ich nach langwieriger Arbeit die Füsse aus allen Umhüllungen. Ungeschickter-weise ist es gerade jetzt soweit gekommen, dass mein Kamerad den wachsenden Bergdruck des Flugschnees nicht mehr erträgt. Aus diesem Grund muss ich die Stiefel möglichst bald wieder anziehen, obwohl die schmerzenden Finger und der fliegende Atem immer unerträglicher werden.

Die Uhr zeigt etwas über Mitternacht. Ich krieche im Dunkeln vor das Zelt. Am Stoff und Schnurwerk Halt suchend, richte ich mich auf, um nicht zu stürzen. Keuchend vor Anstrengung beginne ich zu schaufeln. Nachdem etwas von dem gepressten Schnee entfernt ist, wälzt sich Fritz aus seiner eisigen Umklammerung. Vollständig ungelenk torkelt er um das eingedrückte Zelt, damit er mich ablösen kann. Wir sehen und spüren uns nur als nächtliche Schatten. Im stillen bewundere ich die unbändige Willenskraft meines Freundes.

Vor zehn Tagen noch zeigte er mir nach dem « Umkehren der Hosen » unten auf dem Gelben Felsband, die eingekapselten Eiterlöcher auf seinem Bauch; es sind die einzigen zurückgebliebenen Male von der Tortur des geplatzten Blind- darms. Heute ist Fritz wortlos und verbissen. Die Nacht zieht sich endlos dahin, aber einmal muss es ja wieder Tag werden. Vielleicht sind wir manchmal eingenickt.

Am Morgen essen wir nichts, schnallen mit letzter Energie die Steigeisen unter die Stiefel und packen unsere Rucksäcke, so gut es eben geht. Es gilt ein weiteres Stück des langen Abstiegs anzutreten.

Zweimal halten wir an: zuerst, um den vom Rucksack hängenden Schlafsack von Fritz wieder besser aufzubinden, dann unmittelbar über dem Gelben Felsband, in Sichtweite der Zeltgiebel von Lager V.

Ein paar harte Windböen zwingen uns kurz vor den fixen Geländerseilen zu Boden. Erstmals klagt Fritz, er müsse etwas essen. Ich ziehe die Handschuhe aus und suche in allen Taschen nach einem Kraftzucker. Als ich der Cardiazoltablet-ten endlich habhaft werde, winkt mir mein Gefährte ab; er hat inzwischen selber etwas gefunden. Ich bin ihm deswegen nicht böse. In einer Viertelstunde müssen wir die Zelte erreicht haben.

Ein Sherpa ruft uns zu. Gleich lassen wir uns kopfüber in das rote Jamet-Zelt fallen. Unser Expeditionsleiter und Ernst Schmid haben uns hier erwartet. Ihre stürmische Begrüssung ist von Freude und Besorgnis gemischt. Glücklich und zugleich benommen unterziehen wir uns den Hantierungen und Fragen der Freunde. Sie vermuten, dass wir uns bei dieser Kälte Erfrierungen zugezogen haben, und lassen es nicht beim blossen Nachfragen bewenden... Aschi Schmid versorgt meine entblössten weissen Füsse kommentarlos für einige Zeit unter die Bekleidung auf seinem Bauch. In der Tat ist es eine grosse Erleichte- rung, nach der eingehenden Behandlung unsere eigenen Füsse wieder zu spüren.

Der Geruch von heisser Zampa und Bienenhonig verspricht uns nach 38 Stunden Aufenthalt in windgepeitschter Höhe die erste heisse Nahrung. Es kommt uns vor, als befanden wir uns hier in der Sicherheit eines Feldlazaretts. Der Einbruch von einem Strahl Sonnenlicht verheisst uns den Himmel voller Geigen. Die Zeit steht mit einemmal still. ( Vielleicht war es die glücklichste Stunde auf unserem Abstieg. ) Wir machen uns noch keine Sorgen darüber, wie uns die nächsten tausend Höhenmeter abwärts zum Hauptlager im Khum zu schaffen geben werden. Erst unterwegs erinnert mich der aufkommende Schmerz in den Atmungsorganen an die ungleich grössern Qualen beim Rückzug auf der Herbst-Expedition 1952. Heute scheint es uns noch erstaunlich gut zu gehen.

In der frühen Abendstunde des 19. Mai erfolgt das freudige Wiedersehen mit einem grossen Teil unserer Expeditions-Mannschaft im Lager III. Ihnen und den treuen Sherpa haben wir viel zu verdanken, dass uns der Handstreich auf den unnahbaren Südberg gelungen ist. Noch liegt erst ein kleiner Teil des Abstiegs vom vierthöchsten Bergriesen der Welt hinter uns. Es werden noch Wochen vergehen, ehe wir den Rückweg zur indischen Ebene und an die Küste des Meeres finden.

Da sich das Wetter in den nächsten Tagen von seiner besten Seite zeigt, bemächtigt sich der Anwärter für die Besteigung des Everest ein ganz besonderer Auftrieb. Zwei verschiedenen Seilschaften wird es vergönnt sein, kurze Zeit nach uns sogar auf der Welt höchstem Gipfel zu stehen.

Wir, im gutausgebauten Zwischenlager, geben dem ausserordentlichen Schlafbedürfnis nach und pflegen unsere kleinen Erfrierungen an Händen und Füssen. Die Finger versehen ihre Dienste zum Schreiben noch kaum. Ohne viel zu denken, beschäftigen wir uns meist mit belanglosen Arbeiten. Am Morgen beim Aufstehen sind wir oft etwas benommen. Erst die wärmende Sonne weckt unsere Lebensgeister in dieser gigantischen Umrahmung aus Fels und Eis.

Dann, am 23. Mai, ist unsere Erholungszeit mit einemmal zu Ende: Da in den letzten Tagen der Funk ausfiel und die Sicht auf das Vorgehen der andern Kameraden nicht möglich ist, folgen wir dem Versprechen, als Deckungsmannschaft nochmals die höchsten Lager zu besetzen. Weder das Wetter noch sonst ein alarmierendes Signal haben uns zwar dazu veranlasst, und wir sind auch sonst ungewiss, ob wir den hohen Südcol nochmals werden erreichen können, besitzen aber doch den Willen, nötigenfalls unser Bestes für die andern zu tun.

Bei zunehmendem Flugschnee in der Lhotse-Flanke stehen wir an jenem Abend vor den beiden verschlossenen Zelten von Lager V. Etwas angeschlagen, doch keineswegs schlecht gelaunt, stöbern wir hier unsern Arzt, Edi Leuthold, und den Glaziologen, Fritz Müller, auf. Von unserer Aufgabe überzeugt, wenden wir uns vor der Einquartierung gleich der Verbesserung des Lagers und dem Bereitstellen des Materials zu. Scheinbar kränkte das unsern sonst stets auf Aktion eingestellten Fritz Müller derart, dass er resigniert. Durch die Anstrengung beim Wegschaffen des Flugschnees, vielleicht auch in einem gewissen Höhenkoller, versagt mir mit einem Mal die Kraft.

In der kleinen Zeltapsis verberge ich den Kopf in einem Schlafsack, wobei es mich vor lauter Elend richtig schüttelt. Die Erkenntnis nach diesem moralischen Rückschlag ist eher traurig: « Wer das Beste will, muss oft das Bitterste kosten »... Meine Begleiter sind taktvoll genug, diesen Zwischenfall später nie zu erwähnen.

Schweigen und Dunkelheit legen sich dann auf das ausgesetzte Lager in der tausend Meter hohen Steilflucht. In dieser Abgeschlossenheit widerspiegelt sich in meinen Gedanken noch einmal die ganze Tragik des Zusammenbruchs unserer Expedition im Spätherbst 1952...

Etwas tiefer unten, hinter einer Eisnase, befand sich damals das Lager VI. Kurz vor dem Einnachten verkroch sich hier die geschlagene Mannschaft wortlos in die kleinen, frostbehange-nen Lyoner-Zelte. In dieser Nacht teilte ich meinen Schlafplatz mit unserem Sirdar, Tensing Norkey. Beim Aufflackern eines Kerzenlichts sprach aus seinen dunkeln Augen Schmerz und Trauer. Die Oberlippe mit den paar dünnen Schnauzhaaren verbarg streng die Perlenkette seiner weissen Zähne. Tensing litt unter starkem Nervenrheuma. Wir konnten es noch immer nicht richtig fassen, dass uns der grosse Berg an jenem 19. November durch eisige Winterstürme ein ordentliches Stück über der Achttausender-Grenze von seinen Schultern geschüttelt hatte.

Glücklicherweise erkannten wir noch früh genug, wie uns die eine Gesichtshälfte auf der Windseite buchstäblich weiss und hart zu erstarren begann. Eine einzige Drehung zu den nachfolgenden fünf Sherpa genügte, um die Rückwärtsbewegung der Nachschubleute auszulösen. Eine stark verzerrte Photo von meiner alten Kamera zeigt jene Stelle am Everest-Südgrat, wo ich damals mit Raymond Lambert und Tensing umkehren musste.

Als wir uns mit äusserster Willensanstrengung über die letzte Gegensteigung der Genferschulter schleppten, bemerkte ich gerade noch, wie sich ein Sherpa jaulend zwischen den zurückgelassenen Zelten umherwälzte. Es musste der schlaksige Mongole Gundum sein. Als ihn Tensing holen ging, stiess er nur noch undeutliche Laute aus. Sein linkes Ohr war schwarz von gestautem Blut.

Drei Stunden später lag Gundum in diesem Hochlager in der Lhotse-Flanke. Sein Leben hing gerade noch an einem Faden. Niemand hätte mehr die Kraft gehabt, ihn von hier aus im sturmgepeitschten Südcol zu bergen. Totenstille herrschte in den kleinen Zelten der schützenden Séracmulde. Das Thermometer war weit unter dreissig Grad gesunken. Elf höhenkranke Menschen suchten der eisigen Umklammerung des Nachmonsuns zu entkommen.

Der unbekannte Kuli Pemba brachte uns bei vollkommener Dunkelheit in einem klebrigen Kochgeschirr ein wenig lauwarmen Schwarztee. Seinen langen teerfarbenen Haarzopf hatte er noch immer durch die alte Norwegerbrille hochgehalten. Dieser Kuli, Pemba, der den ganzen Weg ohne Sauerstoffgerät gegangen war, übertraf uns alle. Es war wohl die kälteste Nacht, die wir in einer Höhe von mehr als 7500 Metern verbrachten. Keiner von uns konnte unter diesen äusserst harten Bedingungen auch nur eine Viertelstunde schlafen.

Das Finale des Rückzugs, als wir am 23. November 1952 unser Hochbasislager auf 6500 Meter räumten, werde ich nie vergessen: Während am Vorabend in dem gewaltigen Eis- und Felszirkus die vom Wind blankgefegten Gipfelfelsen des Everest und Lhotse tiefrot in den letzten Sonnenstrahlen verglühten, blinkten schon die ersten Sterne im begrenzten, schwarzblauen Himmelsausschnitt. Ich erinnerte mich der Worte des Himalaya-Bergsteigers Tom Longstaff: « Die überirdische Pracht der Schneegipfel, bevor die Morgendämmerung sie belebt, ist unglaublich; bei Sonnenuntergang kann man glauben lernen. » Dieses Bekenntnis zu einem Bild von einmaliger Grosse, wo für kurze Zeit sogar das Knattern des Windes in den riesigen Steilflanken verstummte, brachte wieder Hoffnung für die Heimkehr.

Die mächtige Wolkenfahne, die sich am Morgen erneut vom Südostgrat des Everest abriss, verriet für den Aufbruch im Lager IV nichts Gutes. Die Rucksäcke im Zeltinnern waren gepackt; alles wartete auf den ersten Sonnenstrahl am späten Vormittag. Kurz zuvor stürzte der Wind nochmals wie ein fauchendes Ungeheuer vom Südcol, jagte dem Gletscherboden entlang und sprang wuchtiger denn je mit seinen beissenden Schneekristallen durch unsere Lagermulde. Beim dritten und heftigsten Windstoss brach das bereits havarierte Messezelt über meinem Kopf zusammen. Als die zerrissenen Stoffwände aufhörten zu schlagen, schaute ich auf den « ausgedienten » Lagerplatz - er glich mehr einem Kriegsfeld. Gleich einem Inferno loderten die von der Sonne vergoldeten Schneestaubfahnen über dem skurrilen Wächtengrat der Riesenmauer des Nuptse. Die entfesselten Elemente hatten uns zum Abschied aus dem Tal des Schweigens aufgewartet.

Heute, am 24. Mai 1956, haben wir nicht nur eine freundlichere Witterung, wir verfügen auch noch über erhebliche Kraftreserven. Bei der Überquerung der Genferschulter begegnen wir der absteigenden Gipfelmannschaft mit Schmid und Marmet. Sie standen tags zuvor als zweite Seilschaft auf dem höchsten Dachfirst der Erde. Inzwischen sollen Reist und von Gunten im Südcol eingetroffen sein. Fritz Luchsinger beschleunigt darum seine Schritte.

Kurz nach 3 Uhr beglückwünschen wir Dölf und Hansruedi. Sie sind bestimmt die ausge-glichenste Seilschaft unseres Unternehmens. Ihre Augen strahlen, obschon die Gesichter noch von der Anstrengung gezeichnet sind. Sie hatten das ungewöhnliche Glück, sich bei nahezu windstillem Wetter über anderthalb Stunden auf dem höchsten Gipfel der Welt aufzuhalten, während wir uns einige Tage zuvor nur für kurze Zeit an der windexponierten Wächtenspitze des erheblich schrofferen Bergnachbars festklammern konnten.

Nun freuen wir uns doppelt am gemeinsamen Erfolg. Durch unser Nachrücken mit dem Arzt und Geologen, mit Sauerstoff- und Butangasfla-schen und Lebensmitteln versehen, haben wir alle Erwartungen erfüllt. Welche Gipfelseilschaft im hohen Himalaya durfte nach ihrem Abstieg in das Ausgangslager auf achttausend Meter nochmals einen derartigen kameradschaftlichen Höhepunkt erleben? Wir beschliessen, die folgende Nacht auf engstem Raum im kleinen Viererzelt zu verbringen. Wenn das Wetter am nächsten Morgen nicht zusammenbricht, werden wir zumindest an den umliegenden Grataufschwüngen für unsere Kameras interessante Standorte finden. Die rasch aufziehende Bewölkung über dem gewaltigen Massiv des Makalu und Tschomo-lönzo zwingt uns anderntags jedoch, den Südcol frühzeitig zu räumen. Nach den drei geglückten Gipfelbesteigungen entsprach dies auch der Weisung unseres umsichtigen Expeditionsleiters Albert Eggler.

Am 27. Mai erreichen wir alle wohlbehalten das Basislager am riesigen Knie des Khumbugletschers. Nach dem Abstieg aus grosser Höhe, dem Rückmarsch und der Heimreise sollten wir von hier aus in sieben Wochen zu Hause eintreffen. Da die Strapazen an keinem spurlos verbeigegangen sind, steht der ganzen Mannschaft noch eine schwierige kameradschaftliche Prüfung bevor. Jedem von uns bietet sich jetzt recht viel Zeit, das Ganze nochmals zu überdenken, von wo und wie er hierhergekommen ist und wie es in der Heimat weitergehen wird. Es ist auch jedem vorbehalten, dieses einmalige Erlebnis als wertvolle Erinnerung in den Alltag mitzunehmen oder es in der angespannten beruflichen Tätigkeit untergehen zu lassen. Ganz deutlich sollte sich erst später herausstellen, dass jene, die nicht nur des Zieles wegen, sondern mit ihrem ganzen Herzen dabei waren, auch weiterhin einen grossen Teil ihrer Freizeit den Bergen schenkten.

PS. Dieser Beitrag aus einem unveröffentlichten Manuskript erhebt keinen Anspruch, ein umfassender Bericht zum zwanzigsten Jahrestag der Schweizerischen Everest-Lhotse-Besteigung ig^ßzu sein. Er soll lediglich an eines der grossen Himalaya-Abenteuer erinnern, welches bis heute noch keine Wiederholung erfahren hat.

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