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Vom Aletschgletscher und vom Märjelensee

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit Y Bild und 1 Skizze.Von Robert R. v. Srbik

( Innsbruck ).

Nach langjährigen Arbeiten in der Eiswelt der Otztaler Alpen wanderte ich einmal auch zu dem gewaltigsten Gletscher der Alpen überhaupt, zum Grossen Aletschgletscher, und dem von ihm aufgestauten Märjelensee hin. Ich wollte dort mit meinen Gefährten die Eiswunder betrachten, deren ähnliches, aber abgeschwächtes Ebenbild in Tirol mir bereits vertraut war. Von meinen durch Studienvor- und nachher ergänzten Eindrücken am Reiseziel seien einige Gedanken dem Schweizer Bergsteiger mitgeteilt, der gleich mir zuerst vom Eggishorn diese einzigartige Landschaft auf sich wirken liess und dann zum Märjelensee hinabstieg, wo ihn eine fast nordisch anmutende Landschaft empfing.

Gletscher und See fesseln vor allem andern den bewundernden Blick. Beide regen aber auch sogleich zur Beobachtung und zum Nachdenken an. Daraus keimt bald die Erkenntnis ihres entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhanges. Zur Eiszeit entsandte der Grosse Aletschgletscher einen mächtigen Arm durch das Märjelen- ins Fieschertal. Wie die in den Fels eingekerbte Schliffgrenze am Nordhange des Eggishorns beweist, reichte damals der Eisstrom bis 2700 m empor, nahezu bis 200 m unter die einst firngekrönte Pyramide des Gipfels. Beim schliesslichen Rückzug hinterliess der Gletscher längs des Bergfusses der Strahlhörner eine noch heute deutlich sichtbare Moräne. Sie ist bis über die Einsattlung an der Ostgrenze des jetzigen Sees zu verfolgen. Das strömende Eis schürfte dessen Becken aus dem Felsuntergrund heraus. Nach Freigabe durch den Gletscher sammelte es die Schmelzwässer sowie die Quellen und Niederschläge von den benachbarten Hängen; dadurch erst wurde es zur heutigen Seewanne. Je weiter sich dann der Eisstrom in sein eigentliches Bett zurückzog, um so mehr wuchs die Ausdehnung des Sees. Aus dieser Entstehungsart und aus der örtlichen Lage am Scheitel des flachen Sattels erklärt sich die Eigentümlichkeit des Märjelensees, bei entsprechend hohem Wasserstande nach beiden Seiten abzufliessen, zum Massa- und zum Fieschertal. Bei seinem heutigen Zustande vermag der Aletschgletscher freilich nicht in das Becken vorzustossen und den See zu erdrücken. Dessen schwankende Westgrenze bildet jetzt eine 500 bis 600 m breite Eismauer, die je nach dem Stande des Gletschers 60 bis 80 m hoch ist. Ihre Mächtigkeit sinkt gegen den Eisrand am Nordfusse des Eggishorns allmählich ab. Höhe und Zustand diesel Barre ermöglichten zeitweise die berüchtigten Ausbrüche des Märjelensees ins Massatal. Wenn sein Spiegel genügend hoch gestiegen ist, bricht sich das Wasser jeweilig mit VOM ALETSCHGLETSCHER UND VOM MÄRJELENSEE.

Gewalt Bahn: entweder durch Überfliessen der eisbedeckten Felsschwelle am südlichen Gletscherrand oder auf den durch das Wasser sehr rasch erweiterten und vertieften Randspalten der Gletscherflanke durch das Eis, ja selbst auf dem Felsgrunde des Gletscherbettes. Die Seeausbrüche sind daher in erster Linie von dem Verhalten des Aletschgletschers abhängig. Ihre Voraussetzung ist jedoch eine entsprechende Hebung des Seespiegels. Sie knüpft sich an reichlichen Niederschlag, an die Schnee- und Eisschmelze, daher an eine Temperaturzunahme. Dabei stürzen überdies von der zum See geneigten Eiswand Schollen ab und kalben in den See, andere lösen sich von ihr unter dem Spiegel des Sees. Sie alle erhöhen dessen Wasserstand durch ihre Masse und durch ihr Schmelzen im wärmeren Seewasser. Während des einhunderteinjährigen Zeitraumes von 1813 bis 1913 hat sich der See achtmal vollständig — zumeist im Juli — entleert, nicht weniger als sechs-unddreissigmal teilweise. Der bis auf den Seegrund erfolgte Ausbruch von 1934 steht noch in frischer Erinnerung. Die seinerzeit von Forel bezweifelten, aber durch die späteren Studien von Lütschg bewiesenen Wechselbeziehungen zwischen dem See und dem Aletschgletscher werden auch durch Angaben über das Verhalten beider aus früheren Zeiten erhärtet, wenngleich sich in den Aufzeichnungen manche Wissenslücken ergeben.

Der Aletschgletscher befand sich nach seinem Tiefstand von 1579 bis 1856 im Vorstoss. Damals hatte er seine grösste, allerdings nicht genau bekannte Reichweite. Aber selbst 1875 endete seine Zunge erst beim Kohlplatz südlich der Massaschlucht oder 740 m nördlich der Gebidembrücke, bereits tief unten im Massatal auf etwa 1340 m Meereshöhe; jedenfalls noch tiefer lag sie 1856. Sein linker Seitenarm gelangte in diesem Jahr weit in das Becken des Märjelensees hinein, wo beim Ausbruch von 1913 auf dem trockenen Seeboden eine junge Stirnmoräne zutage kam. Seit 1856 zieht sich der Aletschgletscher zurück. Sehr aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die nachstehenden Übersichten.

Längenänderungen des Aletschgletschers 1890 bis 1938.

100 m

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V

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i i i i 1895 1S00 1905 1910 1915 1920 VJ-Jb 1930 1935 1940 Rückzug der Zunge in 44 Jahren etwa 620 m, daher Jahresdurchschnitt 14,4 m.

Rückzug der Zunge des Aletschgletschers 1926/27 bis 1937/38.

19..

m 19..

m Anmerkung 26/27 25,0 32/33 3,0 Rückzug in 12 Jahren 146,0 m, 27/28 18,5 33/34 13,0 Jahresdurchschnitt 12,1 m. Beiläufige 28/29 14,0 34/35 1,0 jetzige Ausmasse des Gletschers:

29/30 18,0 35/36 7,0 Länge 25 km, Fläche 115 km2.

30/31 4,5 36/37 18,0 31/32 2,5 37/38 19,0 Die Aufzeichnungen über die Seeausbrüche reichen zwar nur bis 1841 zurück, doch fanden sie sicher auch schon viele Jahrhunderte früher statt. Aber selbst nur aus dem Vergleiche der bereits besser bekannten Zeiträume von 1836 bis 1856 ( Vorstoss des Aletschgletschers ) und 1856 bis 1913 ( Rückzug ) geht der aus den Beobachtungen der Gegenwart erwiesene Zusammenhang zwischen den Seeausbrüchen und dem Verhalten des Aletschgletschers unzweifelhaft hervor. Denn während der Schwundperiode nach 1856 war die Zahl der Seeausbrüche bedeutend grösser als in der Vorstosszeit. Ihre Häufigkeit nahm mit dem anhaltenden Gletscherschwund zu und erreichte am Ende dieses Zeitraumes ihren Höhepunkt durch sogar alljährlich erfolgende Ausbrüche. Jener von 1913 fiel überdies mit dem Temperaturmaximum der Messungen bei der Konkordiahütte des S.A.C. zusammen. Diese Witterungsverhältnisse mussten sich ja auf die Oberflächenabschmelzung des Aletschgletschers damals besonders sichtbar auswirken. Die spaltendurchsetzte Eiswand beim Märjelensee bröckelte daher verstärkt ab, konnte dem Druck der erhöhten Wassersäule nur mehr geringeren Widerstand entgegensetzen und wurde von dem ausbrechenden See schliesslich an ihren schwächsten Stellen überwältigt.

Ähnlich wie bei den berüchtigten Ötztaler Gletscherstauseen, die der Vernagtferner im Rofental bei Vent und der Gurgler Ferner südlich Gurgl einst wiederholt hervorriefen, beschränkten sich auch beim Märjelensee die technischen Abwehrmassnahmen gegen die Ausbrüche in vergangenen Jahrhunderten zunächst vermutlich nur auf örtliche Schutzvorkehrungen, wie sie die Gebirgsbauern im Kampfe gegen Wildwasser seit jeher gewohnt waren. Die Überlieferung berichtet darüber nichts. Erst um das Jahr 1820 beschäftigte sich der Kantonsingenieur Ignaz Venetz näher mit dieser Frage. Sie verlangte um so dringender endlich eine Lösung, als stets zu befürchten war, der Seeausbruch könne einmal zeitlich mit dem Hochwasser der oberen Rhone zusammenfallen, an deren Regulierung man damals schritt. Sein Plan zielte wie alle späteren Arbeiten auf die selbsttätige Senkung des zeitweise erhöhten Seespiegels durch Ableiten des Hochwassers in das Fieschertal hin. Bis 1829 waren die von Venetz vorgeschlagenen zwei offenen Kanäle gebaut. Nach mancherlei Verhandlungen wurden diese Massnahmen bis 1894 durch einen Stollen ergänzt. Er führt vom Ostende des heutigen vorderen Sees unter der Märjelenalp hindurch ins Fieschertal und soll bei Hochwasser zuverlässig den Seespiegel absenken. Dieser Fall trat 1896 auch ein. Seither erreichte der See aber nie mehr die Sohlenhöhe des Stollens. Denn der gewaltige Schwund des Aletschgletschers während der letzten Jahrzehnte machte sich auch jeweilig in der relativen Spiegelhöhe des Sees geltend. Die nur mehr in geringerer Mächtigkeit vereiste Überlaufschwelle am Nordfusse des Eggishorns liegt seit Jahren tiefer als die Schwelle des Tunnelportals. Es findet daher in der Gegenwart ein natürliches Abfliessen des Sees über den Gletscherrand ins Massatal statt, sobald die Höhe des Eises überschritten wird. Hiedurch trennte sich der früher einheitliche See etwa seit Beginn dieses Jahrhunderts in zwei gesonderte Becken, in den Vorder- und den Hintersee. Erst bei einem künftigen Gletschervorstoss wird der Sicherheitsstollen wieder in Tätigkeit treten. Für dauernde Beobachtung des Gletschers und des Sees ist durch Wissenschaft und Technik ausreichend vorgesorgt.

Vom Gletscher und vom See, deren Zusammenhang, Werden und Schicksal hier in kurzen Zügen geschildert wurden, und vom Kampfe des Menschen mit den Naturgewalten wendet sich der Blick von neuem dem Gesamtbilde der erhabenen Hochgebirgslandschaft zu, die uns mit ihrem heroischen Viel-klang erfüllt. Nur zwerghaft — trotz allem redlichen Bemühen um Erkenntnis und Erfolg — fühlen wir Menschen uns gegenüber dem ewigen Walten der Urkräfte unserer Mutter Erde. Und wieder taucht hierbei die Erinnerung an die uralte Sage der Walliser Bauern in uns auf vom glutäugigen, feindseligen Rollibock: durch Verwegene gereizt oder verspottet, bricht er urplötzlich aus dem Aletschgletscher heraus und schleudert unter furchtbarem Klirren der Eisschollen an seinem Körper aus Rache mit seinen langen Hörnern Eis, Fels und Bäume hoch empor. Brausend und unwiderstehlich ergiessen sich dann die verderblichen Wassermassen des Märjelensees über die Fluren des Tales.

Urkraft und Mensch. Beginn und Grenzen unserer Erkenntnis und Macht. Der Ring der Zeiten ist geschlossen!

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