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Vorderspitze-Westwand. Eine neue Kletterfahrt in den Engelhörnern

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Eine neue Kletterfahrt in den Engelhörnern.

Von Otto Gerecht.

Graue Nebel um uns. Wir sitzen in unsere Kleppermäntel gehüllt hinten im Ochsental. Hie und da hören wir das Fallen von Steinen im grauen Nichts. Keiner von uns begehrt heute eine normale Kletterei zu machen. 120 Menschen sind in den Felsen der Engelhörner. Sicher ein Rekord, aber schön — ist das nicht mehr.

Ein leichter Wind macht sich bemerkbar, und plötzlich steht sie vor uns, die Westwand der Vorderspitze. Der Zeiss wandert von Auge zu Auge. Dann kommen wieder Nebel, doch Aiolos zerreisst sie bald. Das Schauspiel wiederholt sich während einer Stunde, und wir nutzen die lichten Momente, um einen Weg in die 600 m hohe Wand zu legen. Vier Paar Augen waren es, die diesen einzig möglichen Durchstieg fanden. Werden wir es schaffen? Heute vielleicht noch nicht, doch erkundigen wollen wir.

Es ist etwa 9 Uhr. Das Wetter hat sich gebessert. Wohl schleichen noch vereinzelte Nebelfetzen an den Wänden herum, doch die Mittelgruppe mit ihren steil abfallenden Westwänden ist frei.

Wir folgen der Simmelisattelroute bis zum Ausstieg aus dem Couloir. Jetzt geht es ins Unbekannte. Scharf biegen wir nach rechts ab. Die Felsen sind glatt. Mancher Fluch ertönt. Max und ich tragen neue Kletterschuhe. Das Gelände ist noch nicht schwierig, doch uns fehlt die sonstige Sicherheit. Kurz entschlossen werden die « Dolomit » mit dem Messer zerschnitten, bis sie ruppig sind.

Wir haben einen kleinen Grat direkt unter unserer Wand erreicht. Hier bilden wir zwei Seilpartien. Behende schleicht sich Felix über die stark geneigte, kleingriffige Platte empor. Jetzt folgt Quergang auf Quergang. Felix macht einen Versuch direkt hinauf. Es geht nicht. Er muss zurück, sich abseilen. Die Führung übernehmend, quere ich noch weiter nach rechts bis zu einer Rinne, welche uns schnell 40 m aufwärts bringt. Wieder folgen lange heikle Quergänge. Wir schieben uns ständig schräg an der senkrechten Wand hoch.

Überall, auf jedem Plätzli setzen wir eine Steintaube, um uns so den Rückweg zu sichern. Die Sonne hat schon längst den Grat der Mittelgruppe überschritten und scheint grell in unsere helle Kalkwand. Doch bald erlösen aufsteigende Nebel uns vom blendenden Licht.

Ein Kamin, endlich eine Abwechslung nach den vielen Quergängen! Man spürt mal wieder etwas im Rücken, kann sich mal wieder richtig verklemmen. Wir kommen auf einen grösseren Stand, wo alle vier notdürftig Platz finden und wieder vereint sind. Wir sind guter Laune,.von Umkehr spricht keiner mehr. Fast übermütig sind wir, doch bleiben wir sicher und überstürzen nichts. Der schwere Fels würde uns auch in die Schranken weisen.

Dölf löst mich nun im Vorangehen ab, nimmt schnell und sicher einen feinen Riss in schöner Kletterarbeit. Jetzt wird es schwieriger. Wir sind nur einige Meter nördlich der Kante. Hinüber können wir nicht, die Kante ist aussichtslos. Es will überhaupt nicht mehr gehen. Links und rechts glatte, grifflose Wände und über uns wölbt sich der Fels nach aussen. Ein Haken, der erste, fährt in den spröden Kalk. Gesichert packt der Kamerad den Überhang, schiebt sich Meter für Meter höher, vermag nach zehn Meter noch einen Stift anzubringen und klettert bis zu einem fussbreiten Sims. Mit dem Seil von oben verbunden, bin ich schnell bei ihm. Unterwegs den nicht sehr fest sitzenden Haken mitnehmend, beglückwünsche ich ihn zu diesem schweren Gang. Wir haben schon längst eine Viererpartie gebildet. Felix bringt auch den untern Haken mit. Es folgen ein paar schöne Risse, dann sind wir an der Kante, müssen sie rechts umgehen und kommen auf einen Gratabsatz mit einem Türmli, direkt unterm Gipfelaufbau. Hier gibt es kurze Rast und Besprechung.

Wir wissen, dass jetzt die Schlüsselstelle der Wand folgt. Vor uns bäumt sich der Fels noch einmal auf, glatt und senkrecht. Wenig ob unserm Standort zieht eine rissartige Verschneidung in der Wand nach rechts empor. Gelb und brüchig sieht sie aus, doch die einzige Möglichkeit, um weiter zu kommen. Von den Kameraden gut gesichert, trete ich den schweren Gang an. Fest sauge ich mich am Fels, hangele und spreize in die senkrechte Wand hinaus, 10, 20 m weit. Der Riss hört auf. Ich halte mich mit einer Hand am winzigen Griff und schlage einen Haken. Die Füsse haben nur die Adhäsion der Kletterschuhe. Dann schnappt der Karabiner, ich hänge in der Selbstsicherung und ruhe mich erst einmal aus. 20 m rechts von mir sehe ich eine feine Nische. Doch wie hinüber kommen? Neben mir hat die Wand einen Bauch. Nein, man könnte es eher mit einem Dach vergleichen, denn darunter ist etwas wie eine Einbuchtung ohne Boden. Vorsichtig lehne ich mich, soweit es geht, unter das Dach und suche Griffe. Der Fels ist abwärts geschichtet und faul. Ich räume, reisse alles Lose heraus und versuche es. Laut rufe ich meinen Entschluss in die Luft, damit die Wand es nicht verschlingt. Dann hangele ich unter dem Bauch durch bis zu einer Platte. Noch einen Haken muss ich zu meiner Sicherheit eintreiben. Schön singend fährt er in den Fels und gibt mir ein grosses Sicherheitsgefühl. Schwer geht es weiter, die Nische naht. Da tönt es von unten: Fünf Meter! Drei Meter! Doch es muss langen. Mit dem letzten Meter Seil habe ich es geschafft.

Ein zünftiger Abseilhaken findet eine passende Ritze. Eher würde der ganze Berg auseinandergehen, als dieser Stift sich lösen. Er muss auch mich und meine Freunde halten, sitze ich doch nur auf abschüssiger Platte. Sie mussten Geduld haben, meine Freunde. Über eine Stunde habe ich zu diesen 40 Meter gebraucht. Aus der Nische sind wir bald und finden am Grat ein feines Plätzchen.

Leise beginnt es jetzt zu regnen. Dichter Nebel umgibt uns. Bald sind die Felsen nass und glitschig. Am Grat sehe ich keine zwei Meter weit. Es sieht alles so fürchterlich plattig aus. Daher schlage ich noch einen Stift, turne die letzte Seillänge empor und lache. Wie ein riesiges Phantom schiebt sich einer nach dem andern durch den Nebel. Wir sind auf dem Gipfel. Eine unbändige Freude erfüllt uns. Ist das nicht die reinste Freude, die Freude nach vollbrachter Tat! Ist es nicht der Sinn allen Bergsteigens, Freude zu suchen und zu empfinden!

Lange können wir nicht oben bleiben. Es ist 4 Uhr, wir müssen hinunter. Max übernimmt die Führung und steuert wie ein guter Lotse durch dichten Nebel und wasserüberronnene Platten ins Ochsental hinab.

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