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Warum steigt der Mensch auf hohe Berge?

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Peter Brandii, Bern

Eine charakterkundliche Studie Eine allein gültige Beantwortung der Frage, warum der Mensch auf hohe Berge steigt, ist nicht möglich; der menschliche Charakter ist zu komplex. Meine Antwort lautet: Mut und Freude, aber gelegentlich auch Angst sind die Triebfedern des Bergsteigers. Diese These ist, der Vielfalt des Menschen entsprechend, paradox. Sie steht nicht in den Statuten des Alpen-Clubs; dort wird als Zweck angegeben: Gebirgswanderungen erleichtern, Kenntnisse der Berge erweitern, Schönheit erhalten und Liebe zur Heimat wecken. Das sind schöne Ziele. Ich habe sie auch zu den meinigen gemacht. Mit Eifer und Begeisterung verfolge ich sie zu jeder Jahreszeit. Die Frage « Warum steigt der Mensch auf hohe Berge? » ist damit freilich noch nicht beantwortet. Nietzsches Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage heisst: « ...um über seine schlotternden Knie hohnzulachen ». 11 Ein scharfsinniger Denker trifft hier ins Schwarzeijäc 10 Fachkundige Bereitstellung der Netze und Hüllen in Murren am Schilthorn 11 Freiballonstart z " Fassen des Lauterbrunner Breithorns bei Stechelberg. Talsohle goo, Gipfel um 4000 Meter Photos A. Sautter, Zumikon doch zum Kranz des Meisterschützen reicht 's nicht aus: Nietzsches Paradoxon offenbart nur einen Gesichtspunkt, nämlich die Angst.

Ich kenne Menschen, die ihre Angst durch Wagemut überwinden wollen. Sie können es vielleicht. Mein Zweifel offenbart sich im « Vielleicht ». Suchen wir vorerst die Angst zu ergründen! Zunächst unterscheide ich Angst und Furcht. Beide haben ihren Ursprung in einer wirklichen oder vermeintlichen Gefahr. Bei Furcht « ist die Gefahr sichtbar und objektiv »; bei Angst ist sie « verborgen und subjektiv » [1]. Furcht kann verhältnismässig leicht überwunden werden. Sie ist der drohenden Gefahr angepasst, und eine Beschränkung der Gefahr verkleinert auch die Furcht. Die Gefahr wird vermindert, wenn wir ihr ausweichen oder wenn wir vorsichtig sind. Das Zauberwort, dessen Verwirklichung vor Gefahren schützt, heisst Übung. Übung macht den Meister. Übung schafft Sicherheit. Der Anfänger ist gefährdet. Der Könner hat wenig oder nichts zu befürchten. Der Nichtschwimmer ertrinkt im zwei Meter tiefen Wasser, wo der Schwimmer sich ungefährdet ergötzen kann. Die Furcht sieht die Gefahr. Furcht und Gefahr begegnen sich. Sie lernen sich kennen. Vernunft regelt die Begegnung.

Anders sieht es aus, wenn Angst mitspielt. Ihr ist mit Vernunft nicht ohne weiteres beizukommen; sie sitzt tiefer im Menschen drin. Sie kann auch da sein, wo Gefahren lauern, auf verkehrs-reicher Strasse oder beim Essen eines Pilzgerich-tes, beim Begehen eines Bergrückens oder bei der Abfahrt über steile Hänge. Sie begleitet mit Vorliebe die Furcht, ist da trotz Könnerschaft und gut trainierter Muskeln, oft sogar bei stark verminderter Gefahr oder bei überhaupt keiner. Häufig ist sie vorhanden zu Hause, im Bett; sie verfolgt den Menschen als seelische Krankheit, als Alptraum. Vielleicht kann sie überwunden und bekämpft werden durch ein kühnes « Dennoch ». In diesem einen Punkt hat Nietzsche recht mit seinem Argument « um über seine schlotternden Knie hohnzulachen ». Die Genugtuung- ich ver- meide den Ausdruck Freude ( worauf ich noch zu-rückkommewirkt nach einer Überwindung der beängstigenden Lage wie ein Sieg. Eine Angst wird in der Einbildung besiegt. Wird sie wirklich besiegt? Freud führt die Angst auf unterdrückte Triebe zurück. Gewiss, er meint in erster Linie den Sexualtrieb. Nehmen wir seine Theorie allgemein. Bergsteigen bedeutet sehr viel Bewegung. Der Bewegungstrieb wird ausserordentlich strapaziert und bis zur Erschöpfung befriedigt. So finden angstgequälte Menschen eine Ersatzbe-friedigung und fühlen sich trotz gelegentlicher quälender Angstzustände gesund und glücklich. Sie lieben ihre Berge, ihre Wanderungen, ihre Klettereien. Sie wissen nicht warum. Glücklicherweise.

Keiner wird je die Zahl der auf diese Art « motivierten » Bergsteiger ergründen. Sartre behauptet sogar: Der Mensch ist Angst. Wer sie nicht zeigt, verkleidet sie. « Selbst wenn die Angst sich bemän-telt, tritt sie dennoch in Erscheinung. Diese Angst ist es, die Kierkegaard ,die Angst Abrahams'nannte. » Dann folgt bei Sartre die Geschichte vom Engel, der Abraham einflüsterte: Du wirst deinen Sohn opfern. « Angst führt nicht zu Untätigkeit », fährt Sartre fort. Jeder, der Verantwortung trägt, hat Angst. Jeder ist verantwortlich [2 ].

Ist der Unterschied zwischen Angst und Furcht klar? Verlassen wir Nietzsches Gesichtspunkt. Es gibt noch mehr Aspekte. Ein weiterer Grund, warum der Mensch auf hohe Berge steigt, ist das Gegenteil von Furcht: Mut.

Mut schliesst nach meinen vorangehenden Ausführungen Angst nicht aus. Mut kann sogar aus Angst hervorgehen. Nicht alles, was mutig scheint, entspringt echtem Mut. Es gibt viele Beweggründe, mutig zu scheinen. Wer will schon seine Furcht zeigen? Also ist es besser, stolz zu sein und Mut an den Tag zu legen. Bis zur Todesverachtung. Todesverachtung ist nicht Mut. Es soll Selbstmorde gegeben haben, die aus Furcht vor dem Tod begangen worden sind. Was das hohe Seil über den Wasserfällen für den Seiltänzer ist, ist die Eigernordwand für den Kletterer und der 8a Nürburgring für den Rennfahrer. Wieweit spielt die Eitelkeit eine Rolle? Ist einer mutig aus Prahlsucht? Mutig, um zu imponieren, um zu blenden? Waghalsigkeit und Tollkühnheit haben oft diese Beweggründe. Haben die Wasserspringer von Acapulco Mut? Tollkühn sind sie, ja. Für Geld und zur Befriedigung der Schaulust reicher Feriengäste springen sie knapp über den Felsvorsprung in die tief unter ihnen glitzernde Meeresbucht. Bezahlter Mut? Mut als Gewerbe? Die Fragwürdigkeit liegt auf der Hand.

Unterscheiden wir noch den physischen Mut, dessen Schein und Sein ich soeben darlegte, und den sittlichen Mut. Dieser wird gelegentlich mit dem Wort Zivilcourage bezeichnet. Ich kenne waghalsige Kletterer ohne Zivilcourage. Mancher lässt sich zu sensationellen Taten bewegen, weil er es seinem guten Ruf schuldet. Er muss Erfolge nachweisen. Innerlich zittert er. Ich will nicht von den « Mutigen » berichten, die aus Rache, aus Zorn und Hass ihre « mutigen » Taten ausüben. Man denke an die Terroristen in aller Welt. An München 1972. Von Kriegen abgesehen, gab es noch nie so viele Sensationsmeldungen über todesverachtende oder selbstmörderische Unternehmungen. Fanatiker sind nicht mutig, sie sind einseitig, geblendet. Sie sehen nur das Ziel ihres Übereifers. Die Gefahr ist Nebensache. Eiferer finden wir auch bei den Extrem-Kletterern.

Aber bleiben wir bei den Normaltouristen. Es gibt « Blinde » unter ihnen, die keine Gefahr sehen. Ohne zu denken, ohne Voraussicht und Vorsicht, stumpf und ohne Einbildungskraft betreten sie, mangelhaft ausgerüstet, Felsen und Gletscher. Glück ist es, nicht Mut, gelangen sie heil zum Ausgangspunkt zurück. Führerlose Anfänger auf schwierigen Bergwanderungen reihe ich hier ein. Hört man ihr Bergsteigerlatein, tönt es anders. Ja, Mut und Prahlerei passen schlecht zusammen. Seien wir kritisch und schöpfen wir Verdacht bei Maulhelden, die nachtwandlerisch über Grate wandern. Der Phantasievollere wird sich Gefahren ausmalen, die der Phantasielose « mutig » übersieht. Der Leichtfertige ist nicht sei- nés Mutes wegen kühn, er glaubt einfach, dass die Schwierigkeiten geringer seien. Gelingt ein Unternehmen, ist es gut. Sein Mut ist erwiesen. Gelingt es nicht, ist es Leichtsinn gewesen. Es würde den Rahmen sprengen, wollte ich den Mut und die Furchtsamkeit, die Kühnheit und die Feigheit bis in alle Einzelheiten und charakterlichen Feinheiten ausleuchten. Nur eines noch: Der Mutige sucht nicht immer Gefahren. Der Schwierigkeitsgrad einer Bergfahrt bestimmt nicht den Grad des aufgebrachten Mutes. Der wirklich Mutige - im Gegensatz zum Scheinmutigen - empfindet Gefahren als reizvoll und als sein Lebensgefühl erhöhend. Er bereitet sich sorgfältig auf eine Begegnung mit ihnen vor und erlebt diese mit einem Gefühl der Freude [3].

Damit bin ich beim letzten Gesichtspunkt meiner Antwort angelangt.

Die Freude ist ohne Zweifel ein Grund, warum der Mensch auf hohe Berge steigt. Ich meine die Freude am Ausserordentlichen, an der Bewegung, an der Leistung und am rauhen Wind des Geschehens. Der Tag wird intensiver erlebt. Die geschürften Hände tun zwar weh, der Schmerz überwiegt aber nicht die Genugtuung. Konrad Lorenz bezeichnet die Abneigung gegen jegliche Unlust als Todsünde der zivilisierten Menschheit. « Die wehleidige Unlustvermeidung » macht die Freude unerreichbar. Die « Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens » werden planiert, die « grossartigen Wellenberge und -täler » werden ausgeglichen, und « aus Licht und Schatten » wird « ein einförmiges Grau ». Es entsteht « tödliche Langweile ». Lorenz nennt dies den « Emotionellen Wärmetod » [4J. Glücklicherweise regen sich Gefühle gegen diese Verwöhnung. Das Bergsteigen ist eine Reaktion. Hier wehrt sich der Mensch gegen eine Gleichschaltung. Wenn der Schmerz betäubt und das Leiden nicht geduldet wird, wenn der Tod versteckt stattfindet und Anstrengungen höchstens hinter Zigarrenqualm und Akten in bequemen Sesseln gemacht werden, dann verlangt eine gesunde Natur nach dem Gegensatz. Der Gegensatz besteht in Hoch und Tief, Steilheit und Abgrund, Milde und Sturm, Sonne und Gewitter; kurz, im Erlebnis einer Bergbestei-gung-Mut und Freude sind komplementär. Sie ergänzen sich. Sie bilden eine Einheit in Verschiedenheit. Sie sind Yang und Yin, die Urkräfte im altchinesischen Tao-Symbol. Sie greifen ineinander über und bedingen einander gegenseitig [5].

Nietzsche stellt die eingangs zitierte Frage und beantwortet sie mit einer rhetorischen Halbheit. Ich versuche zu ergänzen. Die Ganzheit bleibt unerreicht. Stets begleiten Geheimnisse und Rätsel das Tun und Lassen der Menschen.

Literatur:

[1] Karen Horney: Der neurotische Mensch unserer Zeit.

Kindler Taschenbücher 2002.

[2] Jean-Paul Sartre: Drei Essays. Ullstein Buch Nr. 304. [3] Ludwig Klages: Handschrift und Charakter. [4] Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. Serie Piper 50. [5] Jürg Wunderli: Rätsel Mensch und moderne Psychoso- matik. ABC Verlag Zürich.

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