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Weihnachtliche Skihochfahrten in den Bündner Bergen

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Ernst Reiss

Mit 2 Bildern ( l, 2Unterbach ) Halte ich Rückblick auf all die vergangenen Bergjahre, dann treten immer wieder jene lückenlosen Weihnachtsfahrten in den Vordergrund. Ist es die herbe Eigenart dieser Jahreszeit oder ist es das Wiedersehen mit der vertrauten Berglandschaft, den alten Seilgefährten, da, wo so jedes kleine Ding etwas in Erinnerung ruft? Vielleicht ein leiser Hauch der Sehnsucht mag mich bei diesen Betrachtungen wohl auch berühren; denn goldig sind diese Tage des tiefen Erlebens in der Bergheimat, reich auch in ihrer Wiederkehr.

Jede Hochtour vom November bis in den Mai hinein pflegen wir im allgemeinen als Winterfahrt zu bezeichnen. Einen ganz besonderen Charakter aber tragen jene Fahrten, bei denen wir in den letzten Tagen des Dezembers, in der Christnachtzeit, das einsame Haupt eines Kletterberges betreten. Nur die Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse im Sommer und über die Menge und Beschaffenheit des Neuschnees geben solchem Unternehmen wirklich Aussicht auf Erfolg.

Die Alpen - 1947 - Les Alpes1 WEIHNACHTLICHE SKIHOCHFAHRTEN IN DEN BÜNDNER BERGEN Weihnachten auf Piz Kesch, 24. Dezember 1940 Ein Tag ist erwacht, wie dies eben nur der erste Christnachtstag sein kann. Neu ist alles auferstanden, und all das Trübe und Schwere ist verflogen im azurblauen Himmel, der sich heute in seltener Pracht vom Rätikon zu den Bergüner Stöcken wölbt. Die tausendfach glitzernden Kristalle, welche die Schneepolster am Saum des Sertigbaches umgeben, lassen uns geblendet die Augen zukneifen. Kurz hinter dem tiefverschneiten Bergdörfchen tauchen wir in die zartblaue Schattenwand der hier mächtig emporwuchtenden Dreier-gestalt: Mittagshorn, Plattenfluh und Hochducan. Wo sonst im Sommer das frohe Herdengeläute das ganze Kühalptal belebt, gleiten unsere Ski im leichten, durchfrorenen Pulverschnee dahin. Aus den schattigen Lawinenhängen treten wir in ein Meer von Licht und Sonne: Sertigpass 2760 m.

In kurzer Rast nehmen wir die letzte Wärme des goldigen Sonnenballs in uns auf, denn schon nach einigen Stunden wird uns die eisige Vollmondnacht mit ihrem Bann umfassen. Um nicht die Steilhänge der Munt Piatta Naira zu queren, ziehen wir unsere Spur ganz unten durch die Talsohle dem Ova Fontauna entlang hinauf zum Fusse des Vadret Kesch. Ein letztes Leuchten eines wolkenlosen Hochwinterabends dringt über den breiten Piz d' Aela hinweg durch das wilde Val Tuors, bevor wir mit des Tages Erblassen die winterverschlafene Keschhütte betreten.

Unzählige Male mag der Mond den gleichen Weg begangen haben; doch heute scheint es uns etwas ganz Besonderes zu sein, wie er über die schwarzen dämonischen Zacken des Piz Porschabeila so friedlich, fast feierlich dahingleitet. Ein kühler Nordwind fährt uns in den Rücken, wie wir bei dem mildglänzenden Nachtsonnenschein über die samtweichen Gletscherhänge pilgern. Silbrig fällt der stiebende Schnee aus den Stocktellern. Unheildrohend stehen die graublauen Eisflüch ten und dunkeldüstern Felsen der Keschnadel über uns. Hinten im Gletscherbecken vertauschen wir unsere Ski mit dem Pickel und kerben im harten Schnee den Schlußsteilhang hinauf zum Fels.

Die Uhr zeigt zwei Stunden vor Mitternacht. Wir stehen beim Gipfelsignal des 3400 Meter hohen Piz Kesch. Kein Lüftchen weht über den höchsten Davoser Bergriesen. In seltener Reinheit steht die zitronengelbe Mondscheibe am nachtschwarzen Himmel über einem Meer von Schatten und Licht reflektierenden Bergspitzen. Unsere nachttrunkenen Augen schweifen von den zitternden Glitzerlichtlein der menschlichen Behausung hinauf und hinüber vom Ortler bis zum Finsteraarhorn. Der harzige Tannenduft eines brennenden Nadelzweiges über dem eingegrabenen, flackernden Kerzlein streicht um den Steinmann. In unendlicher Weite fällt ein Stern in dieses grosse Schweigen. Es ist die Nacht des heiligen Sonntags.

Tinzenhorn, 25.126. Dezember 1942 Corn da Tinizung nennt das romanische Oberhalbstein den mittleren aus dem Dreigestirn der Bergüner Stöcke. Selbst wo wir auch im Hochtal des Landwassers sonnenseits hinaufsteigen, überall guckt hinten das « weisse Spitzchen », wie es Konrad Ferdinand Meyer in seinem Gedicht vom Davoser: :u Tal bezeichnet, über die graue Felsschulter der Munschetta. Schreiten wir aber in dem einsamen Val Spatlatscha zu den lieblichen Matten der Alp Prosutt, dann wächst aus lichtem Lärchenwald mit einemmal die riesige Bergpyramide des Tinzenhorns heraus.

Der heilige Tag aller Christen hat sich wieder gejährt, und wir blicken zurück —. Das feierliche Gepräge dieses schönsten Festes ist vorüber. Erinnerungen an die vergangene Jugendzeit gewinnen an Schönheit, wenn wir allein dem unendlichen Raunen einer Bergnacht der Natur lauschen. Schneller pocht das eigene kleine Herz. Fast lautlos gleist das körnige Silber des Schnees in die junge Skispur. In den letzten, schwarzen Wettertannen über den verschlafenen, obersten Staffeln zupfen die Windstösse in den Saiten der struppigen Baumwipfel ihr seltsames Lied. In den Wächtenmulden der grossen Steinblöcke auf dem Hüttboden säuselt es leise weiter.

Jetzt stehen wir nochmals vor dem heimeligen Aelahüttli. Träge wandern einige düstere Föhnstreifen am nachtschwarzen Himmel über die Berge der Lenzerheide. Aus dem Tale strahlen ruhig die kleinen Lichtlein der Albula-dörfer. Rückwärts steht die gewaltige Schattenmauer des Aelakolosses, während über die Vorschulter und die Südostwand des Tinzenhorns verstecktes Mondlicht huscht.

Wieder stehen mir mein Bruder Stefan und mein alter Seilgefährte Walter Rossberg zur Seite. Wir sind zuversichtlich für das, was wir morgen erleben dürfen.

Schon eine Stunde sind wir unterwegs, doch die Sonne zögert noch immer mit ihrem Licht hinter dem Grau des längst erwachten Tages. Da wo der Ostsporn unseres Berges in abschüssige Schrägschrofen übergeht, waten wir nun mühsam, oft bis zu den Hüften einsinkend, in dem mehligen, windgeblasenen Schnee empor. Unter dem kühnen Gipfelaufschwung, dem sogenannten « Dom », wollen wir noch eine Weile der Sonne warten. Dann aber greifen wir zum Seil, und schon sind wir in der Gemeinschaft die eifrigsten Kämpfer um den Besitz des schneesträhnigen und weissen Hauptes eines herrlichen Kletterberges!

Dürfen wir uns da nicht freudig die Hände reichen, wenn wir uns im Anblick der eiserstarrten, verschneiten Bündner Berge beim Gipfelsteinmann niederlassenWortlos sitzen wir da in Schnee und Fels. Wie lange haben wir uns auf diese seltene Hochwinterfahrt gefreut; und lange wird uns der Inhalt dieser Stunden im Alltag des Tales begleiten!

Christbaum und Fergensüdwand, 24.J25. Dezember 1943 Christabend — die Räder rollen, ja, sie eilen heimwärts zu meinen Lieben. Gespensterhaft suchen die Leuchtaugen der Lokomotive unter der gehobenen Nebeldecke den Weg auf dem kurvenreichen Schienenstrang zum Wolfgang-pass hinauf. Nirgends blickt ein Stern durch den düstern Wolkenvorhang. Vom Zugwind erfasst, schütteln dürre Grashalme über kaum fusstiefem Neuschnee frierend ihre Köpfe.

Dort hinten liegt das Silvrettagebiet; ich habe es nicht vergessen, wie wir im späten Herbst beim letzten Abendsonnenglanze das Tal der jungen Landquart verliessen. Durch die blinkenden Scheiben des Fergenhüttleins unt den warm umhauchten, braunen Gneis vom wilden Felsturm dort oben rief uns die Sonne noch einmal zu: Kommt Wieder!

Heute aber schweigt die Natur; sie wartet fröstelnd auf den warmen Wintermantel. Schon einigemal ist der Lichtkegel meiner Taschenlampe im obern Teil des Hüttenwegs auf einem kleinen Bäumlein hangen geblieben. Mein Kamerad Franz Schmid mag es kaum erwarten, bis Heini unsern Christbaum auf dem Rucksack aufgeschnallt hat.

Fergenhüttli, drei müde, doch gutgelaunte Bergkameraden sind als seltene Wintergäste bei dir eingetreten und schmücken den kleinen Weihnachtsbaum. Es ist kalt. Heini zieht die Wolldecke etwas höher. In den Augen von Franz flammen die vielen Kerzenlichter. Glanz und Hoffnung von vergangenen und geplanten Bergfahrten spiegeln sich bei seinen Erzählungen wieder. Wer hätte gedacht, dass dies unser letzter Gang am Seil sein durfte ?—Wenige Monate später hat ihn, mit dem Gipfelbuch in der Hand, ein tödlicher Blitzstrahl getroffen. Das letzte Kerzlein erlischt im harzigen Tannenast. Wir betten uns auf die Wildheulagerstätte.

Hei, mir « krabbelt » es in den Fingern, wenn ich den griffigen, schwarzbraunen Gneis ergreife. Der angenehme Geruch vom Manilaseil erweckt die Freude vergangener Sommerfahrten. Wir sind am Einstieg der bekannten Fergensüdwand. Die erste Seillänge ist ausgelaufen. Franz hat den düstern Bann gebrochen. Das Licht dringt durch den grauen Wolkenvorhang. Verschneidung, gefrorene Grasbänder, Quergang und Platten, das alles verlangt beste Ausnützung der oft kleinen Felsgriffe. Die Wand wird steil, zum Dach und zur Kante und wird zur Himmelsleiter. Da haftet weder Schnee noch loser Stein. Nur Sonne küsst den stolzen Felsturm. Wie abgeschnitten gähnt tief unten der verschneite, weisse Kar.

Über die südlichen Bündner Berge wälzen sich zerrissene Schneewolken. Aber mit dem Betreten des luftigen Gipfels wird der Blick in das benachbarte Vorarlberg frei. Tief unten ruht auf hoher Terrasse unser Weihnachtshüttli; es scheint zu schlafen und zu träumen. Noch trennt uns davor der tiefverschneite Nordwestgrat, doch dessen wollen wir nicht bangen. Aus Wunsch wurde Erfüllung.

Verstanklahorn, 24./25. Dezember 1944 In der Ecke tickt die Uhr, bewegt von den langsam sinkenden Gewichten. Stille herrscht in dem heimeligen Bündnerstübli des gastfreundlichen Vereina-Berghauses. Alle Blicke sind auf das letzte Kerzenflackerlichtlein am obersten Aste einer knorrigen kleinen Bergföhre gerichtet. Die frohen Weihnachtslieder aus rauhen Kehlen sind verstummt. Das Licht erstirbt. Stille. Mein jüngerer Bruder gibt das Zeichen zum Ruhengehen. Wir gehen schlafen, um morgens frisch zur grossen Fahrt zu sein.

Fast lautlos, halb erstarrt, gleitet das vom Mondlicht goldig schillernde Wasser durch das sanfte Bachbett des Val Vernela. Ohne Hütte, ohne Baum oder Strauch zieht sich das lange Nebental unter den Nordwandfluchteu der Ungeheuerhörner hinauf bis zum Grond Naira und zum Verstanklahorn.

Das gelegentlich leise Gurgeln des Baches unter dem samtenen Schneepolster ist verstummt. Unentwegt führt unser schmales Spurband an den steilen Hängen der Moräne empor, bis dort, wo sonst der grosse Firnhang in die Nordwestflanke hinaufwächst.

Kalter Schattenhauch streicht von der Zinne des vordersten Silvretta-Bergriesen auf den fein geschwungenen Gletscher hinab. Mit umgehängter Lawinenschnur stapfen wir knietief im Neuschnee gegen den Sattel zwischen dem Schwarzkopf und dem schwach ausgeprägten Südwestgrat des Verstanklahorns. Belebendes Sonnenlicht fällt mit einemmal in die mattweisse Flanke, wie wir auf den freigeblasenen, unscheinbaren Felsrippen den Übergang zu den ersten Gratzacken suchen. Zusammengekniffene Augen schauen über ungezählte lichttrunkene Berggestalten, welche sich aus dem mannigfachen Schattenblau der vielen Seitentäler heben. Brauner Gneis lockt Kamerad Hans und mich auf den luftigen Gratkamm, derweil meine Brüder durch eine zuckrige, glatte Verschneidung den Zutritt zum eigentlichen Gipfelkopf suchen. Vereint, zuerst auf haltlosem Neuschnee, jetzt auf einer riesigen, flachen Wächte, die wie ein gewaltiger Umhang über die letzte Felsschulter hängt, erreichen wir den stummen, steinernen Hirten der stolzen Burg. Über einem Meer von Bergen steht ein tiefblauer Himmel, der sich in der Weite goldbraun auf den fernsten, gelbdunstenen Schneegipfeln verliert. Da wache oder träume! Die strengen Aufstiegstunden schenken dir selbst-vergessende Zufriedenheit.

Im blauen Licht über den Aelawestgrat, 29.J30. Dezember 1944 Der Ruf der Abendglocken dringt dann und wann, vom trägen Windhauch getragen, als leises Wimmern hinauf zu den verschlafenen, weiss-eingemäntelten Bergtannenkindern, die geduckt unter den hohen, kahlen Gerippen der nadellosen Lärchengreise stehen. Ein kleiner, verirrter Weiden-sprössling sieht halb neidisch und fragend zu dem gut gekleideten Tannen-jungen in der geschützten Mulde. Teilnahmslos zieht dieser so heftig an seiner weissen schweren Zipfelkappe, dass sie auf einmal über sein Mäntelchen auf den Boden fährt. Mit hochgeworfenem Kopf fragt er erschrocken: « Pst — wer kommt; wer sucht zu Winters-Schlafenzeit das blaue Licht? » Durch ein Wirrwarr von gefällten Tannen windet sich unsere Skispur durch die Talsenke des winterverschlafenen Spatlatscha. Aber plötzlich steht er vor uns, im kalten Mondschattenblau, der mächtige Piz d' Aela! Der Urgewaltige wirkt hier so allein fast erdrückend.

Vor der kleinen Klubhütte erfasst bald da bald dort der frostige Bergwind den silbrigen Schneestaub zum neckischen Spiel. Vom Orgelpass bis zum Ross zittert das grell leuchtende Stickmuster der Sterne im nachtblauen Himmel. Ein mattgoldener Funken fällt wie durchs Leere hinter das mondbeschienene Tinzenhorn.

Die Dämmerung ist gewichen. Ski fallen in den Schnee, und auf ihnen bewegt sich eine kleine Kolonne durch ein Wellenmeer über den Steinblöcken im zaghaften Morgenlicht dahin. Dort, wo der Steihang zum Grat ansetzt, steigen wir auf blankgefegtem Weiss zur Aelascharte empor. Vor unsern sonnengeblendeten Augen öffnet sich hier das Bild von tiefscharfer, schattige«'und goldgleissender Winterberglandschaft. Hart über uns steht der grosse Berg.

Freude am luftigen Pfad, Vertrauen zum erprobten Gefährten, das ist das stets wiederkehrende Erlebnis, wenn uns am Einstieg zum Berg die Seile verbinden. Auf Geh und Steh liegt pulvriges Weiss. Zuerst geht es mühsam durch verschneite Bänder und Plattenkehlen; dann folgt der sich immer höher aufwerfende Gratfirst. Aber wie ich mich von fragwürdigem Standplatz aus über ein kleines, unterbrochenes Querband ziehen will, bricht mit zermalmendem Geräusch der Block unter meinen Füssen weg. Er überschlägt sich und fährt polternd, rasend zur Tiefe. Das Seil hält mich I — Der verschneite, luftige Grat steigt steil aufwärts. Zur Linken gähnt die schattige, zartblaue Wand, während rechts der fast senkrechte Südpfeiler in den wolkenlosen Himmel wächst. Da wo wir den eigentlichen Westgrat bei der Gipfel-vorschulter verlassen, wird der Blick auf die kristallbepanzerte, gritzende Hauptkuppe frei. Der Sonne strahlender Hauch hat den Odem des kalten Wintertages gebrochen. Beim Gipfelsignal, hoch über dem grossen, blauen Licht der tiefen, stillen Bergtäler, reichen sich vier glückliche Seilkameraden die schwere, behandschuhte Hand. Auch heute wollen wir dankbar den Reichtum dieser einzigartigen Fahrt als Ausklang des alten Jahres in uns aufnehmen!

Stumm blickt der einsame Steinmann auf uns zurück, wie wir den Berg verlassen. Er schaut den Lauf der Sonne, harrt den besternten eisigen Nächten und widersteht den gällenden Hochgewittern, den tosenden Winterstürmen. Stiller Wächter, du bleibst uns Symbol zu immer wieder neuem Tatendrang; und du bist zugleich Bild der Beständigkeit!

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