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Westliche-Zinne-Nordwand

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON MAX NIEDERMANN, WINTERTHUR

( Cassin-Ratti-Weg ) Mit 1 Bild(86 ) Welcher Bergsteiger kennt sie nicht, die gewaltigen Felsenburgen der « Drei Zinnen »? Es sind Berge von seltener Schönheit, die « Türme von Lavaredo »; Denkmäler steingewordener Verwegenheit, Wucht und Grösse. Ihre stolzen Gipfel zu ersteigen ist der Wunsch vieler Bergsteiger. Ihre gewaltigen himmelwärts strebenden Nordwände zu bezwingen ist die Sehnsucht eines jeden sportlich eingestellten Kletterers.

Bereits auf verschiedenen schönen und auch kühnen Kletterfahrten habe ich ihre oft sonnenwarmen, oft auch sturmumtosten Gipfel erreicht. Mit meinem Kameraden, Wisi Fleischmann, will ich nun morgen die Nordwand der « Westlichen Zinne » durchsteigen, auf der Führe, die von den Lecco-neser Bergsteigern Ricardo Cassin und Vittorio Ratti in nahezu dreitägiger Kletterei eröffnet wurde. Dieser Weg hat trotz der neueren, sogenannten direkten Durchstiege nichts von seiner Kühnheit und Härte verloren; die neueren Routen in den « Drei Zinnen » haben den Cassin-Ratti-Weg nur in der Zahl der verwendeten Felshaken überboten.

Es ist vollends Tag geworden, bis wir unter der « Westlichen » stehen und über die Einstiegsmöglichkeit werweissen. Man sieht nur wenige Meter hoch, bis zu den ersten, weit vorspringenden Felsdächern, die jetzt schon allerhand Mühsal versprechen.

Nach meiner Routenbeschreibung muss hier der Einstieg sein! Einige Meter hoch in brüchigem Fels, 20 Meter Querung auf schuttiger Leiste bis zu einem überhängenden Risskamin. Wisi nimmt die erste Seillänge in Angriff. Nicht lange geht 's, bis sein « Nachkommen! » ertönt.

Bald erreiche ich meinen Kameraden und übernehme gleich die zweite Seillänge. Die Schwierigkeiten steigern sich. Frei kletternd, ohne Hakensicherung, in schwerem, brüchigem Fels geht 's den überhängenden Kamin hoch, der nach etwa 30 Metern einen Standplatz bietet. Wisi kommt nach und übernimmt wieder die Führung. Der Kamin wird enger, aber auch immer überhängender und mühsamer. Hie und da ist ein einzelner Haken anzutreffen, fast jeder mit einer alten Abseilschlinge versehen, was uns etwas befremdet. Nach der Beschreibung müssen wir aber auf dem richtigen Weg sein.

30 Meter Seil sind abgelaufen, und ich hänge unter gelben Schutttrümmern, die den Weiterweg versperren. Auch die Kaminwände bestehen aus Schuttplatten. Gelbfarbige Trümmermassen warten geradezu auf die leiseste Anregung zum Sturz in die Tiefe. Ich habe Angst um meinen Gefährten.

Ein Haken wird in den Fels gehämmert Durch diesen gesichert, kommt Wisi nach. Bald steht er aufatmend neben mir; auch ihm war es nicht ganz geheuer.

Der Fels zeigt sich uns von seiner schlechtesten Seite, bietet äusserste Schwierigkeiten und ist dabei von einer Brüchigkeit, die ihresgleichen sucht.

Behutsam schiebt sich Wisi in dem Scherbenhaufen aufwärts, kommt nach wenigen Metern an einen dachartigen Überhang, quert unter diesem durch, erreicht die rechte Kante des Kamins, muss um diese herum und kommt so zu einem dürftigen Stand. Es fällt mir nicht leicht, meinen Freund zu erreichen.

Auf kleiner Leiste stehend, mustern wir den Weiterweg: links das Riesendach, rechts überhängender, glatter Fels, über uns ein handbreiter Riss im Felsendach - unmöglich! Doch halt, im Innern ist der Riss breiter. Ist er aber so breit, dass wir uns durchzwängen können? Nach zwei Wochen schwerster Fahrten mit den dazugehörigen Hungerkuren ist man nicht mehr allzu fett; also werden wir schon durchkommen. Unter dem Dach hochgreifend, mit dem rechten Fuss Wisis Schulter als Tritt benützend, kriege ich im Riss drinnen etwas zu fassen. Ein Klimmzug - und schon bin ich mit dem Oberkörper im Riss. Ich brauche nur einzuatmen, um vollständig verklemmt zu sein. Abwech-selndes Aus- und Einatmen, krampfartige Schlangenbewegungen sowie einige halb unterdrückte Kraftworte helfen mir im Riss höher auf eine schuttbedeckte Schrägrampe. Auf geneigterem Fels schnell vorwärtskommend, erreiche ich einen Pfeiler. Während ich Wisi nachsichere, halte ich Umschau und entdecke zu unserer beider Verblüffung, dass wir von der Westseite her in einer knappen halben Stunde mittelschwerer Kletterei ebenfalls hierher gekommen wären. Wir aber haben uns fast zweieinhalb Stunden, von der Nordseite her, mit dem äusserst schweren und dazu noch brüchigen Fels des sechsten Schwierigkeitsgrades herumgebalgt!

Jetzt stehen wir auf einem Pfeilerkopf an der Kante, die von der Nord- und Westwand gebildet wird. Hier soll ein kleiner Quergang in die Nordwand hinausführen. An zwei Stellen versucht Wisi hinauszukommen. Mit äusserster Anstrengung gelingt es ihm einige Spannen weit, dann aber wird er wieder zurückgewiesen. Nun klettert er etwa 10 Meter gerade hinauf und scheint damit den Schlüssel zum Weiterkommen gefunden zu haben. Etwas zaghaft noch, aber stetig laufen die Seile durch die Sicherung. Einige Meter aufwärts, eine kleine, aber heikle Querung nach links, ein tropfnasser Kamin, alles im Bereiche des sechsten Grades, führen mich zu meinem Kameraden. Nun ist die Reihe wieder an mir.

Eine Querleiste führt nach links, und von ihrem Ende aus erspähe ich einzelne Haken, die nach links aufwärts führen. Der Fels ist durchwegs abdrängend und brüchig. Die Haken, die mir hochhelfen müssen, sind weit auseinander und nicht gerade zuverlässig. Unter mir noch knapp 10 Meter Fels, dann nichts als Luft und tief unten die Geröllfelder, über mir eine terrassenartige Über-hangreihe, eine weiter vorspringend als die andere. Für einen Moment durchrieselt mich ein leichtes Grauen, das aber verschwindet, sobald ich den Kampf mit dem Fels aufnehme. Jeder Meter erfordert schweres Ringen im harten Bereich des sechsten oberen Klettergrades.

Langsam raufe ich mich höher. Die gelben Felswülste versperren die Sicht zu Wisi. Die Seile drücken mir schier den Atem weg, wie Zentnergewichte zerren sie in die Tiefe.Vor mir liegt eine drei Meter hohe Stufe von abdrängendem, nahezu glattem Fels. Einige Unebenheiten müssen als Griffe und Tritte dienen. Einen Meter noch kann ich mich mühsam hochschieben, dann geben die Seile keinen Zentimeter mehr her. Also zurück, was nur mit äusserster Energie gelingt. Zweimal versuche ich 's noch - vergebens; die Seile müssen irgendwo klemmen. Einen Haken anzubringen ist absolut unmöglich; das Gestein ist vollkommen geschlossen. Über 30 Meter Seil sind draussen, weit käme ich ja sowieso nicht mehr; also entschliesse ich mich zum Nachnehmen.

Der Felshaken, an dem ich jetzt hänge, scheint ausnahmsweise gut zu sitzen. Bei jeder Bewegung federt der etwas vorstehende Haken nach unten. Lachend sage ich zu mir selber: « Was willst du eigentlich noch mehr? Dieser Schlingenstand ist ja hochmodern, er hat sogar eine eingebaute Federung! » Unter mir höre ich ein Schnaufen. Das muss Wisi sein. Noch ist er nicht zu sehen; doch da erscheint eine nervige Hand, eine zweite krallt sich im Gestein fest. Am gleichen Haken hängend, wechselt er aussen an mir vorüber. Er hat nun etwa 25 Meter des gleichen, unbarmherzigen Baustils vor sich. Jeder Meter ist ein Kampf, den er aber mit gewohnter Zähigkeit besteht.

Geraume Zeit später stehen wir auf einer Felsterrasse vor dem berüchtigten 40-Meter-Quergang. Behutsam schleiche ich hinaus, erst auf einer schmalen Leiste stehend, die Hände ins überhängende Kalkgestein gekrallt. Die Wand drängt meinen Oberkörper unerbittlich und immer stärker gegen den drohenden Abgrund. So wird ein Weiterkommen unmöglich. Durch einen Haken gesichert, lasse ich mich hinunter, bis ich die Leiste greifen kann, und hangle so weiter ins Leere hinaus, was besonders kribblig ist, da das Gestein kein Hakenschlagen erlaubt. Schliesslich erreiche ich einen alten, verrosteten Ringhaken. Durch diesen gesichert, kann ich einen fünf Meter tiefer liegenden Felszacken anpendeln. Hierauf geht es bei etwas verminderter Schwierigkeit über ein winzig kleines Band zu einem Felsabsatz, einem Sicherungsplatz, wie gewünscht. Die grausige Ausgesetztheit des ganzen Querganges kommt mir erst jetzt recht zum Bewusstsein, da ich den Freund nachkommen sehe. Unter sich hat er wenige Meter Fels, dann nur noch gähnende Leere - weit unten liegt das Kar, dessen mannshohe Blöcke wie Spielzeugwürfel aussehen.

Nach einer halben Seillänge Schutt und einer weiteren halben in festem Gestein gelangen wir unter einen Überhang, den Wisi bezwingen will. Mit Steigschlingen über das Dach und im Seilzug schräg links ansteigend, in abdrängendem, aber endlich festem Fels, erreicht er eine kleine Terrasse und hat damit seine recht schwierige Aufgabe gelöst. Es ist nun an mir, die nächste zu übernehmen. Erst gerade empor, kleine Überhänge erkletternd, gelange ich zu einer zweiten Terrasse und stehe so unter einem aus gelbem Gestein bestehenden Vorsprung, dem sogenannten 17-Meter-Uberhang. In meiner Beschreibung lese ich folgendes: « Die hier angetroffenen Schwierigkeiten können nur mit den schwierigsten bisher beschriebenen Stellen verglichen werden ». Das kann recht interessant werden! Technische Finessen und halsbrecherische Freikletterei helfen vorwärts. Nach diesem heissen Brocken kommt die gewünschte Abkühlung: Ein Quergang führt nach links durch einen richtigen Wasserfall. Das ist allerdings zuviel des Guten! Vor lauter Hasterei hänge ich noch einen Karabiner verkehrt ein, was mich noch einmal unter die kalte Dusche zwingt.

Tropfnass.wie ein begossener Pudel, kommt auch Wisi bei mir an. Vor uns her zieht sich ein breites überdachtes Band. Aufgeschichtete Steine sind Zeugen von Biwaks unserer Vorgänger. Für uns aber heisst es so rasch als möglich eine überwindbare Stelle in der Überdachung zu finden. Dort draussen steht ein einsamer Haken. Auf meinen Schultern stehend, kann mein Freund diesen ergreifen, und mit einem kräftigen Klimmzug schafft er es.

Die Wand öffnet sich nun zu einer weiten Schlucht, deren unterer Übergang in die platte Wand den besagten Wasserfall bildet. In der linken Schluchtwandung arbeiten wir uns dem Gipfel entgegen. Die Schwierigkeiten sind jetzt um einiges geringer, abgesehen von einzelnen heiklen Stellen. Das Gestein ist im allgemeinen gut; allerdings sind unsere Ansprüche in dieser Beziehung sehr bescheiden geworden.

Rasch kommen wir höher und wissen dies sehr zu schätzen, denn mittlerweile hat sich der Himmel mit gewitterschweren Wolken überzogen. Einzelne Blitze, von dumpf rollendem Donner begleitet, zucken aus den schwarzen Wolkenmassen; von Norden her rückt eine weisse Regenwand unauf- haltsam gegen uns vor, während unter uns Nebelmassen brodeln. Von der Zinnenhütte ist nichts mehr zu erblicken.

Dies alles genügt, um uns ohne Rast hinaufzuhetzen. Nur dem zeitweise aufspringenden Südwind haben wir es zu verdanken, dass wir noch an trockenen Felsen klettern können.

Soeben haben wir den Geröllkessel unter der Gipfelschlucht erreicht, stehen damit aber auch in einer dichten Nebelsuppe. Wir gelangen noch bis wenige Meter unter den Gipfel; da überfällt uns schlagartig das Gewitter. In wenigen Minuten tragen wir keinen trockenen Faden mehr auf unseren dampfenden Körpern.

Keiner von uns beiden weiss mehr über die Abstiegroute, als dass sie irgendwo durch die Südseite des Berges führt und Steilrinnen aufweist, die jetzt sicherlich Wasserfälle sind. In dem zeitweise stockdicken Nebel, unter dichten, durch fortwährend heranrauschende Hagelschauer verstärkten Regenböen, ist es aussichtslos, diesen Normalabstieg zu suchen. So beschliessen wir, über die ganze Ostwand abzuseilen, in Richtung der Scharte zwischen Grosser und Westlicher Zinne. Die Scharte liegt etwa 500 Meter tiefer, unter grauen Regenschleiern verborgen. Wir teilen die Arbeit: Ich schlage die Abseilhaken und seile als erster hinunter. Wisi kommt nach und übernimmt die heikle Aufgabe des Seilausziehens. Von Regen und Hagel unbarmherzig angefallen, gleiten wir in eine graue Tiefe hinunter. Die Wand ist ein einziger Wasserfall. Ganze Rutsche von Hagelkörnern, mit Steinen vermischt, fegen herunter. Die Seile sind weit mehr Wasserleitungen als irgend etwas anderes. Der steife Nordwind sticht bis auf die Knochen, die Kälte schüttelt uns. Zähneklappernd kämpfen wir den Wettlauf gegen die einbrechende Nacht.

Es wird gerade vollends dunkel, als wir die Scharte erreichen. Eilig hasten wir der Zinnenhütte zu, wo uns ein Liter Glühwein wieder zur lebensnotwendigen Wärme verhilft und die Lebensgeister neu erweckt.

In der Hütte anwesende Bergführer erzählen uns, wir seien die erste Seilschaft, die mit dem « Cas-sin-Einstieg », der die Schwierigkeiten um etwa 200 Meter verlängere, ohne Biwak durchgekommen sei. Sie gratulieren uns mit einem Doppelliter « Roten » zur ersten Abstiegsbegehung der Ostwand der « Westlichen Zinne ».

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