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Wie vor mehr als 200 Jahren ein Bündner Prädikant eine Schaschaplana Bergreiss erlebt

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit 1 Bild ( 111Von j.U,r. Meng

( Herisau ) Die Scesaplana ( abgeleitet von sasso-plana, der Boden über dem Fels ) ist zwar kein Viertausender, ja sie erreicht mit ihrem Gipfel nicht einmal ganz die Dreitausendergrenze. Aber immerhin — die höchste Erhebung im Rätikon, die über ewigem Schnee herausragt, mit damaliger, primitiver Gebirgsausrüstung, in weglosem Fels, bei ungenügenden Unterkunftsverhält-nissen zu besteigen, Gletscher und Firn ohne Seil zu traversieren, war eine Leistung, die heute noch auffallen muss. Der Mann, der jenes Wagnis offenbar ohne Schwierigkeiten glücklich bestand, war kein geringerer als der Chronist und Schriftsteller Nicolin Sererhard. Er pastorierte während nahezu vier Jahrzehnten, von 1716 bis 1754, die Berggemeinde Seewis im Prättigau und schrieb nebenbei die heute noch interessante Einfalle Delineation aller Gemeinden gemeiner dreyen Bünden, der die nachfolgende Beschreibung entnommen ist. Das Werk wurde um 1742 anscheinend in einem Zug geschrieben. Die Bewältigung des umfangreichen Stoffes setzte eine jahrzehntelange Sammelarbeit und gründliche Kenntnisse von Land und Leuten in den drei Bünden voraus. In Sererhards Darstellung naturkundlicher Beobachtungen und Begebenheiten erkennt man den Einfluss des grossen Gelehrten Scheuchzer und seiner Zeit. Aber nicht weniger war der Verfasser von den Geheimnissen seiner heimatlichen Gebirgswelt erfüllt. Es macht auch den Eindruck, als ob er das Mystische und Mirakelhafte seines Jahrhunderts in einfalten, will heissen einfachen Beschreibungen seiner Heimat, so wie es der Volkserzähler mit Vorliebe tut, festhalten wollte. Sererhard lässt deshalb den düstern Alpensee im Hochgewitter mit menschlich-tierischer Stimme auf brüllen. Er lässt den « Drak » aus den aufgewühlten Fluten steigen und nach Beute Ausschau halten. Er lässt einen Bauern erzählen, wie ein grässlicher « Lindenwurm » den Berg hinabkriecht, sich in die Landquart stürzt und der Zollbrück zuschwimmt. An anderer Stelle wird die Alpviehherde, die nur um ein Kleines den Söm-merungstermin überschreitet, von etwas « Ungeradem ungestümlich gegen den See gejagt, dass alles in Gefahr steht, zu ersaufen ». Sererhard schreibt an einer Stelle von seiner « Scripta in genere », dass er diese nicht zum Druck, sondern nur « habe ein paar Freunden ad perlektionem überlassen wollen ». Es lag ihm aber offenbar daran, dass « etliche Lands Curiositäten » darin festgehalten wurden. Diese Merkwürdigkeiten waren jedenfalls das Spiegelbild seiner Zeit. Sie trugen aber auch dazu bei, die Beschreibungen der vielen Ortschaften, Täler und Berge vor nüchterner, flacher Darstellung zu bewahren und dem ganzen Werk in seinen Einzelheiten Plastik und Relief zu geben. Seine Lust, zu fabulieren, das Geschaute oder bloss Gehörte mit einer Fülle von Anekdoten schalkhaft zu würzen, trug dazu bei, dass das umfangreiche Werk, als einziges seiner Art, auch für die heutige Zeit seinen ursprünglichen Reiz bewahrt hat.

Nachdem Sererhard, wie er berichtet, auch den andern Bergen seiner engem Heimat, dem gras- und blumenreichen Vilan ( Dorfberg ) und dem stotzigen Tschingel, vorerst seine Besuche abgestattet hatte, lockte es ihn nicht weniger, das stolze Berghaupt zu besteigen, das er von seinem Pfarrhaus aus, als imposantes Dach der riesigen Grenzmauer, täglich vor Augen hatte, und an dessen Piana die Abendsonne ihr letztes Leuchten in überwältigender Pracht widerspiegelte.

Doch lassen wir nun Sererhard das Wort:

« Meine Schaschaplana Bergreiss hat mich in noch mehrere Verwunderung versetzt als der Tschingel. Meine Reiss-Gefährten waren der jetzige Ganay-Badwirtx und ein alter nunmehr 83jähriger Jäger. Wir pernoctirten ( nächtigten ) in der Alp ( Fasons ) auf dem wilden Heu, morgens stiegen wir eine gäche Felsenkähle2 hinauf bis in die Höche, da wir durch eine enge Kluppen ( Scharte ) auf den grossen Gletscher 3 hin kamen, da musste mich schon über drei Dinge verwundern, dann beim Eintritt setzte mich auf einen Stein, einwenig zu ruhen, mochte es aber keinen Augenblick erleiden auf dem Stein zu sitzen, beschaute ihn, da befände, dz er mit vielen kleinen Steinspizlein ( Kristalldruse ) überzogen, die ebenso spizig als Nadeln gewesen. Als wir weiter gingen, da käme es mir spanisch vor, als alldorten gar nichts anders sehen konnten, als Himmel und Schnee. Doch eben in dieser Gegend gewahrete noch eine Curiositaet, dann wir sahen vor diesem Eingang über ein Stuck Gletscher, der artige Züge hatte, die bei ihrer Endung krum gebogen und auch durchhin etwas schwärztlich waren. Dieser Plaz machte just die Figur wie ein gepflügter Acker an deme die Furchen noch zu spühren sind.

1 Das ehemalige Schwefelbad Gani oder Ganey ( abgeleitet vom rom. Cani-Woll-gras ) stand gut anderthalb Stunden hinterhalb Seewis in der Nähe des Zusammenflusses des Stürviser- und Valpeidabaches. Es bestand schon im 16. Jahrhundert und war Eigentum der Familie Salis-Seewis. Um 1728 kam das weitherum bekannte Bad durch Kauf um die Summe von 280 fl. an den von Sererhard erwähnten Badewirt, Schreiber Andreas Gansner. Dieser brachte es zu hoher Blüte. Es wetteiferte als damals mondäner Kurort mit Leuk, Pfäfers und Baden. Es war lange Zeit der Treffpunkt hochstehender Persönlichkeiten, wie Jürg Jenatsch. Ende des 18. Jahrhunderts verlor es jedoch seine Bedeutung, geriet in Zerfall und wurde 1799 im Kampf um die Luziensteig von einer österreichischen Umgehungskolonne als Unterkunft benutzt und bei ihrem Abzug in Brand gesteckt und zerstört.

8 Der Aufstieg Sererhards und seiner Begleiter führte von der Alp Fasons durch das sogenannte Schafloch. Das war bis zum Bau des spätem Scesaplanaweges, ausgehend von der Scesaplanahütte, heute Eigentum der Sektion Pfannenstiel, der einzige gangbare Aufstieg.

3 Der oberste Teil des « Schaflochs » mündet durch eine Scharte an den Rand des grossen Schneefeldes, Brandner Ferner genannt. Dort setzt auch der in den zwanziger Jahren erstellte Höhenweg nach der Kleinen und Grossen Furka mit Fortsetzung zur Pfälzerhütte an.

Wir marschierten weiterhin über den entsezlich grossen Gletscher und betrachteten auch mit Verwunderung die ungeheure Gletscherspält1. Bei einem dieseren, in welchen die Sonne hinein glänzete, legte ich mich auf den Bauch und schaute in die Tiefe hinab, bis mir das Gesicht verging ( schwindlig wurde ), konnte doch den Grund des abyssi mit dem Gesicht nicht erreichen. Wir kamen endlich auf den obersten Gipfel des Bergs, da ginge es erst an eine rechte Verwunderung, nachdeme noch vorher hier unden auf dem grossen Gletscher ein Erstaunen vorgegangen, dann wir fanden auf diesem Gletscher Stück von Nusschalen, Ross- und Menschenhaar, und Hobelschnitten, worüber wir uns nicht wenig verwunderten. Ich schreibe es den Sturmwinden zu, welche dergleichen Dinge in der Tiefe erhebt, und durch die Luft hierhar getragen, gleichsam wie fliegenden Spreul.

Auf dem obersten Gipfel Sachen wir viel mirabilia, finde diesen Gipfel der höchsten einen zu seyn, den man weit und breit finden kan, sonderlich für den höchsten des sich weit erstreckenden Rhaeticones, dessen auch Gulerus und Sprecher ( beides Geschichtsschreiber und Chronisten ) in ihren Kroniken Meldung thun. Bald alle andere Gebirge scheinen gegen ihn, wann man auf dem Gipfel stehet, niedrig und zum Theil auch nur Michel zu sein. Der Prospect an diesem Ort ist etwas admirables. Man siehet rings umher etliche hundert hohe Gebirge mit ihren hervorragenden Gipfeln, welche meistens weiss bekappet oder mit Gletscher-Flecken versehen. Solcher Gebirge siehet man von danen vier bis fünf Rayen hinder einandern in einer recht wundersamen concatenation, dz man von weitem meynte, diese concatenation zieche sich bey jedem Reyen recht circul-weis rings umher. Man siehet so weit als es das Auge ertragen mag, nichts als Bergen und Bergen, eine unglaubliche Weite rings umher, aussert bey einer einzigen Oeffnung über den Lindauer See hinaus ins Schwabenland, da praesentirt sich das schönste Ansehen von der Welt; die Städte Lindau, Constanz, die Insel Reichenau, Arbon, Hochen-Ems etc. scheinen einem ganz nach zu seyn, mit dem Perspektiv kann man die Tücher und Gebäu gar wohl distinguiren.

Die ganze Eidgnosschaft ist hier zu übersehen und noch sehr viel weiter hinaus über beidere Gebirge hin. Unter etlich hundert übersehenden Gebirgen mag diesem Berggipfel keines das Aussehen benemmen, als nur der Gotthard ob Waltensbpurg um etwas...

Unter sovielen Berg-Ländern komt einem allhier keines gebirgiger vor als das Tyrol. Da sieht man einen gächen Felsenspiz hinder dem andern, das es von weitem anzusehen, gleichsam wie ein Wald. Wir sahen von hier hinab in das benachbarte Brandthal, und jenseits des Bergs St. Bartlimes Berg in Muntafun. Weiter hin jenseits des Closter-Thales sahen wir das St. Gerolds-Thal, allda waren die Leuth in der Ernd, und konten wir sie mit dem Perspektiv ordentlich distinguiren, welches Männer oder Weiber, und wi jedes bekleidet. Hinder diesem Gerold ligt das Bayerische und weiter hinab der Bregenzer Wald. Ja ich sähe auch bei dem Flüelen-Joch vorbei 1 Das ausgedehnte Firnfeld des Brandner Ferners bildet in seinen tiefem Schichten eigentliches Gletschereis und weist gegen den östlichen Rand hin auch Spalten auf.

das Schloss Tarasp im undern Engadin, welches mir niemand glauben wollte und doch wahr ist, masen ich die Gegend gar wohl kante.

Anbey käme auch allhier ein Imme oder Bienlin zu uns geflogen, von welchem ich urtheilte, ob es wohl möglich, dz dieses schwache Vögelin von dieser Höche seinen Heimweg finden und in seiner Cellula pernoctieren könne, wie die physici schreiben, dz solches geschehe, und geschehen müsse, wann sie ( nicht ) einandern verlohren gehen sollen. ist in Wahrheit ein rahres Stücklein der göttlichen Providenz.

Von diesem Schaschaplana-Gipfel liessen wir uns auf der andern Seiten durch die todte Alp hinunter zum Lüner-See, ist ein Galtvieh-Alp, den Munta-funern gehörig Allhier ist ein grosser See, einer Stund weit in seiner Circum-ferenz umzugehen, dieser soll auch die Eigenschaft haben, bey Wetter-Änderung zu brüllen.

Zuvorderst ob dem Brandthal hat er einen Damm x nicht von Felsen, sondern von untereinander gemischten Steinen, Leim und Sand und macht eine Figur, als wan er mit Menschen Händen gemacht wäre. Hinder diesem Damm gehet ein Weglein hinab ins Brandthal und van dannen weiter auf Pludenz. Merkwürdig ist weiter von diesem See, dz sein Ausfluss nicht über den Damm hinlauft, sondern ein namhaftes tiefer under dessen Bord mitten durch den Damm hindurch ein Loch, von welchem sich das Wasser durch einen Fall hoch hinunder in die Tiefe senkt. Von diesem See-Damm soll eine Weissagung sey, er werde einmal ausbrechen und das unden liegende Land bis an den Constanzersee werde davon untergehen. Danachen die Pfaffen selbiger Orten jahrlich eine Mess wegen des Ausbruchs dieses Sees lesen sollen, und könnte man hievon schier sagen: es geschehen Miracul, indeme sich dieses Seewasser in Wein verwandle, wann nämlich die Pfaffen von ihrem durch dieses Messlesen erlösten Geld ihnen selbst Wein anschaffen.

Man mutmasset auch, als wann ein Drak in diesem See wohnete, und hat mir der Alp-Hirt gesagt, er habe etliche mal gesehen, dass ein grosses Thier sich aus dem See hervorgelassen und auf einem in dem See hervorragenden Stein ein Stund oder zwey an der Sonnen gelegen, und wiederum dann sich in den See hinein gelassen. Ob nicht Draken im See wohnen, ist ein quaesto.

Von dieser Alp ist auch dieses curios, dz auf den Tag St. Verena ( 1. Sept .) stili novi mit der Haab verruken müssen, wann sie schon noch Weid hätten und lieber länger blieben, dann wann sie nur einen Tag das Ziel überschreitten, so komt in der Nacht etwas Ungerades unter die Haab, und jagt sie samtlich so ungestümlich gegen den See, das alles in Gefahr stehet zu ersaufen.

Von diesem See kamen wir in einer halb Stund hinauf auf das Joch ( die Lüner Egg ) oder in die Seewiser Alpen. Ein halb Stund weiter hin ist ein anderer Durchpass ins Muntafun, heisst beim Schweizer-Thor, ist ein 1 Der erwähnte, wie von Menschenhand erstellte Damm am nördlichen Rand des Lünersees ist eine ausgesprochene Endmoräne des Gletschers, der einst das heutige Seebecken ausfüllte.

wunderlicher Pass, da man zwischen zwei perpendicular gegen einander aufgerichteten sehr hohen Felsen, welche nicht weiter als circa drei Klafter von einandern stehen, durch gehet, und bis beynahen an dieses Schweizer-Thor erstrecken sich Seewiser Gränzen.

Wann ich etwann von einem hohen Berg viel andere Bergen mit ihren Gletschern übersehen und bewundert, gedachte ich dabey: ad quid so viel weise Kappen ?, ich meine Gletscher, nam Deus et natura nihil faciunt frustra, und fiele mir ein, freylich ja werden diese vasta corpora auch ihren von dem weisen Schöpfer destinirten, mutmasslichen Nuzen haben.

2. Muthmasse ich auch, dz die Gletscher in der heissen trokenen Sommerszeit mit ihren kalten und feuchten exhalationibus ein merkliches con-tribuiren werden zur Reinigung, Erfrischung, Temperatur und Correction der ungesunden Lüften, welche villeicht anstekend werden wurden, wann sie nicht täglich ein neues Temperament erlangen könten, wie auch zu deren Anfeuchtung oder Humectation, dass der Thau aus der angefeuchteten erfrischten Luft desto reicher auf die Erde fallet.

Hier aussen ob Seewiser Dorf ist auch ein hoher Berg, genant der Vilan. Von diesem übersieht man auch viel Bündner und theils Schweizer-Bergen, doch bey weitem nicht wie von bemeldten allerhöchsten. Vom Vilan siehet man auch gar leicht Rapperweiler Bruk, mit ihren Stühlen, sogar mag man auch mit dem Perspectiv distinguiren, wann Schiff zwischen den Stühlen auf oder abfahren. Man siehet auch hier die linke Seite des Sees bis nache an Zürich zu, dies und Rappersweil selbsten mag man nicht sehen.

Nun will ich umkehren von meinem Ausschweifen und mein liebes Seewis besser beschreiben. » ( Hier anschliessend folgt eine eingehende Beschreibung des Dorfes und seiner Umgebung, wovon wir in diesem Zusammenhang absehen wollen. )

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