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Zinalrothhorn

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Von Geoffrey Winthrop Young 1

Mit I Bild ( 112Übersetzt von Alexander Perrig ( Luzern ) Die Gesellschaft des Ehepaares Heywood verwandelte den Weg von Zermatt zum Trifthaus hinauf zu einem reizenden, mühelosen Abendspaziergang von zwei Stunden. Freilich wäre es klüger gewesen, oberhalb der langen Moränenzüge zu biwakieren, dort, wo heute — reichlich spät — eine neue Hütte errichtet wurde. Trift liegt kläglich tief für jede Gipfeltour. Ich legte mich frühzeitig zur Ruhe, hauptsächlich um der Geschwätzigkeit eines ältlichen, ziemlich ekligen Bergsteigers zu entrinnen.

Zwischen 10 und 11 Uhr zogen Knubel und ich wieder los, hinaus in die Nacht. In Gedanken versunken stiegen wir die Kehren der langen, finstern, steinigen Hänge hinan und dann hinauf auf den Kamm der bergartigen Mo- 1 Aus seinem neuesten Werke « Mountains with a Difference ». Verlag Eyre & Spottis-woode, London.

räne. Auf ihrer steilen, losen Wegspur fiel mein Tempo auf sein gewohntes Fünftel des Normalen zurück. Doch so vertraut kam es mir vor, wieder einmal hinter Knubels keckem, gleitenden Schatten daherzuschwingen, und so unmerklich wusste er die Gangart zu regeln, dass ich das Empfinden hatte, wir würden wieder mit der alten, beglückenden Hurtigkeit bergan eilen.

Es war eine klare, windlose Nacht mit wenig Sternen. Wie immer zu solcher Stunde waren wir schweigsam, umsponnen vom Gefühl der Einsamkeit der Berge. Wir allein bewegten uns oder schienen in diesen langen, lautlosen Stunden Dasein zu haben. Nun schaute ich zurück in die ferne Tiefe, hinein in die vor Dämmerungsanbruch dichter werdende Finsternis; da sah ich drunten die Laternenlichter der andern Partien — kleine Sternfunken in weiten Abständen. Nun verschwanden sie. Mit geheimnisvoller Plötzlichkeit waren sie hinter uns; und jetzt hatten sie uns auch schon überholt. Wir liessen sie unbeachtet vorbeiziehen. Sie schienen sinnlose Schatten, die sich ausserhalb unseres eigenen Daseins bewegten, um wieder im Nichts zu entschwinden. Endlich, als der erste Lichtschein am Himmel aufglomm, gelangten wir über das oberste Moränenstück und über die Schutthalden des Eseltschuggens hinaus, zum Rastplatz unterhalb der Gletscherschleppen des Rothorns. Hier frühstückten wir, nachdem auch Markus und der zweite Führer bereits zu uns gestossen waren. Es war ein trüber Tagesanbruch, und die Morgenröte am hoch über uns zum Himmel ragenden Gipfel war von kurzer Dauer und nicht vielverheissend.

Die ersten schneebedeckten Eishänge befanden sich in scheusslicher Verfassung. Ihre Oberfläche war durch Auftauen durchweicht worden und dann wieder zusammengefroren zu beinverrenkenden sogenannten « Hublä » oder « Heblä », d.h. zu schlüpfrigen Beulen und Buckeln mit all ihren listigen Rundungen. Eine lange Stunde unseres Aufstieges vollzog sich auf solchem Grund. Dann aber verwandelte sich die harte Eiskruste unter den direkten Sonnenstrahlen in raschem Wechsel in Schneesumpf und -schlämm. Unser Anstieg die zusehends steilern Schneehänge hinauf wurde zu einem Gekrieche; bei jedem Schritte aufwärts versanken Stelzfuss und Stöcke höllenwärts und blieben klebend stecken, wenn ich auch noch so krampfhaft riss und zerrte, um sie aufs neue loszukriegen. Aus Fatalismus und Vergesslichkeit und weil für Knubel diese Phase meines Bergsteigens neu war, waren die Skiteller für Stelze und Stöcke nicht mitgenommen worden.

Welch stechende, erbarmungslose Sonne! Die Firnhänge bäumten sich zu Wällen auf, und ihre Schneeauflage wurde in lästerlicher Weise zusehends weicher. Knubel, der voranging, spurte eine Treppe von Stufen an; aber so langsam kroch ich, wie mich dünkte, da hinauf, dass die Morgenstunden, die mit uns um die Wette liefen und uns den Tag in atemloser Eile wegstahlen, uns einfach überholen mussten. Die firngekrönte Schulter unseres Berges — an deren linken Seite die Besteigung durchführt, hinüber zur Felsflanke des Gipfels und diese quer hinauf — wollte nicht näher rücken. Als ich nach einem ungewöhnlich erschöpfenden Stück Schneewatens anhielt, um zu rasten, stapfte Markus zu mir herauf. Nach der Lage der Dinge drängte sich der Rückzug auf. Um mir diesen Entschluss zu erleichtern, frug er mich rück- Die Alpen - 1952 - Les Alpes24 sichtsvoll, ob mir das Ganze wirklich so viel Spass bereite, dass solche quälende Gymnastik sich noch lohne. Ich warf einen Blick in die Runde. Meilenweit schien es mir bis zur weissen Schulter, und dann noch weiter quer durch die breite, zerfurchte Flanke des Berges, und wieder weiter das jähe Felscouloir der Wand hinauf zur unfassbar fernen Gabelscharte, dem gut erkennbaren Einschnitt in der Gratlinie, woselbst wir dann den Kamm des Südgrates erreichen würden. Hier erst, beim Überklettern der Grattürme, die hinauf zum Gipfel führten, würden meine Arme zum Mitspielen kommen und mir einige Erleichterung verschaffen können. Düstere Zweifel stiegen in mir hoch: das alles schien ja — so wie ich die Grenzen menschlichen Bergsteigens jetzt einschätzte — jenseits des Menschenmöglichen zu liegen. Und trotzdem zögerte ich noch, es auszusprechen, und versuchte, dieweil ich es zu Ende dachte, ein paar weitere Schritte aufwärts zu waten. Damit fiel die Entscheidung. « Frisches Vertrauen » hatte mich erfasst. Ich fühlte, dass sich alle die Mühen doch noch lohnten. Jeder erfolgreiche Schritt und jeder nächste und folgende erfüllten mich, mit jedem Zoll gewonnener Höhe, mit grimmiger Genugtuung — ausreichend, um die Waagschale der Entscheidung herabzudrücken. Mit jedem weitern Schritt und jedem weitern Augenblick überwog das Gefallen den Abscheu.

Als wir schliesslich das Achselstück der Schneeschulter erreichten, wo der pultartige Ostgrat dem Gipfelmassiv entspringt, bot sich uns, unter wenig anziehender Beleuchtung, ein recht entmutigender Anblick dar. Drum gönnte ich mir eine längere Rast und streckte mich am steilen Firn und Felsen aus. Wenn ich den Kopf umwandte, konnte ich gerade unterhalb des ungeheuren, rötlichen Überhangs der Ostwand — der Abbruchstelle der grossen Steinlawine — zu jenem Wandstück hinsehen, das Donald Robertson und ich und Knubel dereinst in einem packend schönen Aufstieg erstmals durchklettert hatten. Ich vermied es, an unsere heutige Tour zu denken. Mir war bewusst, dass sie nicht den Verlauf nahm, den sie hätte nehmen sollen: mehr als neun Stunden hatte unser Aufstieg schon gedauert; ich hätte somit jetzt, nach allen Vorkriegs- und Nachkriegserfahrungen, in bester Form sein müssen. Heute jedoch hatte das « frische Vertrauen » keine neuen Kraftreserven anzuzapfen vermocht. Mit Knubel und Markus in so frischer Verfassung, mussten wir aber trotzdem allem gewachsen sein. Wir rissen uns zusammen, rafften unsere Säcke und uns selbst auf und zogen neuerdings los.

Bei der herrschenden Bruthitze hatte der Schnee inzwischen pestilen-zialen Charakter angenommen. Knubel erklärte den Weg über die Schulter-schneide als ausgeschlossen. So schickte ich mich an, die Wand unterhalb der Schneide zu queren, vorne und hinten von den festverankerten Führern gehalten. Aber kein Stelzentritt vermochte in dem trügerischen Schneeschaum Halt zu finden. An Pickelgriffen hangend wand und rollte ich mich durch den Quergang. Während der Sekunden aber, da ich mein richtiges Bein unten durchschwang und ihm mit einem Fusstritt eine neue Stufe schlug, saugte ich mich mit dem ganzen Körper am steilen Schneewall fest. Einmal an dieser Stelle, und damit auch am letzten, jähen Firnhang durch, querten wir in die Wand hinüber, in ein Gewirre narbenbedeckter, runzeliger Felsen. Jetzt endlich kam die Tour in Fluss, denn nun erlaubte mir die Wand ob ihrer Steilheit häufig, die Hände als Kletterhilfe zu gebrauchen. Mit jedem Klimmzug schrumpfte die unendliche Distanz ob mir zusammen und sank die Gabelscharte von ihrem Scheitelpunkt herab. Nun blieb uns nur noch eine letzte, lockere Kletterei, das morsche, schneebedeckte Mauerwerk des Couloirs unterhalb der Gabel übrig. Dann stiessen wir zu ihrer festen, roten Schwelle vor und reckten uns hinauf zur Fensterlücke auf der dramatischen Kontur des hochragenden Südgrates.

Unter unserem Standort Schoss die Westflanke in einer einzigen Plattenflucht zum Mountetgletscher hinunter. Vor ungefähr dreissig Jahren hatten Markus, Knubel und ich die Erstbesteigung dieses Wandstücks durchgeführt und auf diesem Wege die Gabelscharte erreicht. Nach einem Wettlauf hinauf zum Gipfel und zurück waren wir dann zum Trift hinabgestiegen. Damit hatten wir offenbar die erste Überschreitung dieses Passes, des höchsten und sinn-losesten Überganges am Rothorn, ausgeführt. Als ich seinerzeit unsere Erstbegehung der Westflanke beschrieb, vergass ich vollständig, den Pass als eine Erstüberschreitung zu erwähnen. Welch eigenartiges Zusammentreffen, das uns selbdritt, nach einer so langen Zeitspanne, zu ihm zurückbrachte, um uns an diese Lücke meines Berichtes zu erinnern.

Die Luft war warm, und milder Sonnenschein lag auf den Felsen. Wir liessen deshalb, und um uns zu entlasten, die Säcke, Äxte und Röcke und meine Stöcke, ja selbst meine Windjacke, in einer nahen Felsspalte zurück. In Polohemd und Kniehosen begann ich die zum Gipfel führende Felsgym-nastik. Die andern Partien waren bereits wieder im Abstiege begriffen und hatten uns auch schon gekreuzt. Drum war ich überrascht, vom Grat her über uns das Klirren und das Reden einer Seilschaft zu vernehmen, die sich in ähnlicher Gangart wie wir selbst fortbewegte. Mich dünkte, es müsse sich um die Partie des aufdringlichen Schwätzers handeln.

Die Bergwand, die uns während des ganzen Tages den Ausblick versperrt und den Sinn beengt hatte, wie dies Wänden im Gegensatz zu Gräten eigen ist, war nun mitsamt ihrem niederdrückenden Einfluss verschwunden. Auf dem freien Hauptgrate konnten wir die ermutigenden Lüfte der feinen Ge-birgshorizonte einatmen. Steil und schmal, gemauert aus braunen Riesenquadern, mit einladenden Felskanten, erhob sich der Grat vor uns — ein erhebender Anblick für abgehetzte Geister. Über solch wahrhaft vierschrötige Klippen hinauf konnte ich meine Arme zu jedem Fortschritt nützen und mich heiteren Sinnes auf die Blöcke hinauf und um sie herum schwingen. Knubel an der Spitze schnellte in einem eigentlichen Ausbruch hochgemuten Geistes der Höhe zu. Wieder einmal war es uns beiden vergönnt, gemeinsam über einen luftigen Grat zu klettern, eine Felsentreppe hinauf zwischen Erde und fröhlicher Höhe, hoch über weitherzigen Abgründen, die rechts und links zu den träge fliessenden Gletscherbrüchen und in die Tiefen grüner Täler stürzten. Und wir wussten beide darum, ohne dass es, bei unserer durch gemeinsame Taten längst gewonnenen Vertrautheit, der Worte bedurft hätte.

Während ich wartete, bis die Reihe weiterzuklettern an mir wäre, nahm ich wahr, wie die Firnwände an den Riesen der Mischabel und des Nadelgrates, die bis dahin in unzufriedener Trübseligkeit über das Tal herüber zu unserm trüben Wandaufstieg gestarrt hatten, nunmehr im Einklang mit unserer frischeren Stimmung, freundlich aufleuchteten. Knubel, über mir auf dem braunen Kamm vom Firmament sich abhebend, gab mir, in unserer üblichen, wortlosen Sprache, durch Einholen der losen Seilschlingen das Aufbruchs-zeichen, und ich startete neuerdings, die Antwort nickenden, lotrechten Quadern und ihre rauhen Kanten hinauf. Alle Müdigkeit tropfte von meinem Denken ab, während sich ein paar Sonnenstrahlen wärmend ins Herz mir stahlen. Auf der roten Gabel hatte ich Knubel die Frage gestellt: « Wieviel Zeit räumen Sie uns bis zum Gipfel ein ?» Da er mit meiner Gangart noch nicht vertraut war, hatte ich gehofft, es würde seine Antwort dem raschern Tempo, das mir auf steilen Felsen möglich war, nicht Rechnung tragen. So war ich denn entzückt, nun festzustellen, dass wir im Begriffe standen, seine Schätzung um ein Drittel zu unterbieten.

Ich hätte gewünscht, dieses aufrechte Felsmauerwerk und seine lockenden Türme möchten noch eine lange Fortsetzung finden. Wenn ich dann aber Josefs geschmeidige Knabengestalt — in all ihren Bewegungen so gleich wie einst — da droben vor mir sah, oder rückblickend auf Markus'feingemeisseltem Profil das gleiche Lächeln wiederfand wie einst, dann überwog vorerst in mir nicht etwa das Empfinden, es wäre die Zeitenuhr um 25 Jahre rück-gedreht: vielmehr schien mir, wir hätten unser ergötzliches Klettern in dieser Zwischenzeit in irgendeinem andern Zeitsystem ununterbrochen fortgesetzt. Mir schien, als wären wir — ich weiss nicht wie — aus unserm spätem, minder interessanten Dasein entführt worden und hätten nunmehr unser früheres neuerdings gefunden, das unser kameradschaftliches Klettern durch all die Jahre beharrlich weitergeführt hatte.

Als wir, gezwungen den Hauptgrat zu verlassen, den ziemlich heiklen Quergang durch die Platten der Westflanke vollzogen und dann über die vereisten Platten des jähen Dachfirstes zum Grat zurückkehrten, sank unser Tempo wieder jämmerlich zusammen. Die Dachfirstplatten waren in widerlicher Weise mit einem unsichern Schneebewurf auf einer Eisschicht überzogen und bildeten für mich einen gefährlichen Gang. Ich musste warten und schaute zu, wie Josef diese Stelle mit aller Sorgfalt in direktem Aufstieg überwand und dann, das volle Seil ausnützend, noch weiter bis zum Grat anstieg. Dann erst war es für mich geraten, nachzukommen — und zwar aus reichlich frostigen Stufen, da wir auf dieser Bergseite leichten, aber durchdringenden Wind antrafen. Die letzte Kletterei den Gipfelgrat hinauf und seinen- Kamm entlang erheischte sorgsames Vorausbestimmen jedes Schrittes für meine schwingende Stelze und eigentliches Balancieren über schmale Schneiden hinweg. Das Feuer unseres hinreissenden Sturmes die schroffen Klippen hinauf fand denn auch Zeit sich abzukühlen, noch ehe unsere beiden Seilschaften auf dem Felsturm des Gipfels anlangten.

Die Formation der verwitterten Gipfelfelsen lud uns zur Ruhe ein. Ich konnte mich der Länge nach ausstrecken und mein Haupt an den Gipfelblock anlehnen, so dass dessen rauhes Profil und mein eigenes, nach Markus'Schnapp-schuss zu schliessen, nicht auseinander zu halten waren. Wir verpflegten uns und sprachen nur wenig. Ich rauchte eine Pfeife und schaute von meiner liegenden Stellung aus über die Gletscher von Zinal hinausdahin, wo meine Bergsteigerlaufbahn begonnen hatte.

Die gute, alte Zeit! Was barg sie doch an Freuden, was auch an Selbstbeherrschung, grimmiger Anstrengung, langanhaltender Spannung und fährnisvollen Augenblicken, alle nicht minder willkommen wie ihre Freuden! Welcher Zeitpunkt und welche Gesellschaft hätten dies alles besser wieder zu erwecken vermocht als gerade die gegenwärtigen? Wieder war Knubel bei mir, und auch Markus; unter mir das Rothorn, das mir längst schon durch neue Routen vom Osten und vom Westen her und durch verschiedene Überschreitungen vom Süden und vom Norden her zum Freund geworden war. Und unverändert wie einst hatte ich all dies wieder gewonnen, die Menschen schier so unverändert wie den Berg. Und doch? Wohl dreizehn, vierzehn Stunden mochten wir, mit Einschluss unserer langen Rast am Schultergrat, für diesen Aufstieg aufgewendet haben, während wir früher nicht mehr als vier bis fünf zu brauchen pflegten. Das war eine quälende Tatsache. Und ferner fehlte uns auch irgendwie der innere Einklang unserer frühern Tage. In ihrer Sorge um mich waren sie mir etwas entrückt, als wären sie gemeinsam vom Gedanken an die Anstrengungen beherrscht, die uns bevorstünden, bis sie mich wieder drunten in Sicherheit wüssten, gleich wie sie vorher der Gedanke an die Anstrengungen beschäftigt haben mochte, die es kosten würde, mich sicher hier herauf zu bringen. Aber auch in meinem Verhältnis zum Berge selbst war eine Änderung eingetreten: Das Empfinden, zu ihm zu gehören, wie er zu mir gehörte, das ich auf einem Gipfel angekommen sonst verspürte, war mir verloren gegangen. Ich fühlte mich wie ausgeschlossen, schier so als wären Schranken zwischen uns errichtet. Was aber empfand ich selbst über die Besteigung? Darüber, dass ich mir erneut den Weg zu einem Gipfel erkämpft hatte?

Meine Pfeife war ausgeraucht, aber ich hielt sie weiterhin zwischen den Zähnen fest. Ich schaltete die sichtbaren Berge ringsum aus meiner geistigen Betrachtung aus und mühte mich, alle diese Gedanken zu Ende zu denken. Nein, das war es wahrlich nicht, was ich auf einem Alpengipfel sonst zu empfinden pflegte. Nicht im geringsten glich es der Verwandlung, die jene Augenblicke nach vollendeter Besteigung — wenn noch der Rhythmus der Bewegung jede Fiber lebensvoll durchpulste und der Gesang des Kampfes alles Schweigen hymnengleich durchklang — so strahlend werden liess. So sehr ich forschte, ich konnte nicht behaupten, mehr zu spüren als eine kühle, trotzige Befriedigung darüber, dass ich, aller Behinderung und aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz, heraufgekommen war.

Die andern sassen etwas abseits auf den Gipfelfelsen. Aus der Gedämpft-heit ihrer Unterhaltung Schloss ich zweifelsfrei, dass sie sich ob der späten Tageszeit und ob des Abstiegs Sorge machten. Unvermittelt schössen alle Bruchstücke des Zweifels in mir zusammen und verdichteten sich zur Überzeugung, dass meinem Bergsteigen etwas abhanden, völlig abhanden gekommen sei. Noch ehe ich erkannte, was ich verloren hätte, sprang meine Phantasie voraus und erriet, dass ich es nie mehr rückgewinnen würde: ein grosser Berg und sein Besteigen würden mir jenes Empfinden in seiner Ganzheit nie mehr wiederschenken, das ich in der Vergangenheit empfunden hatte. Wie wenn ich drum gerade jetzt, hier auf diesem beherrschenden Gipfel, mich zum Entschluss durchringen würde, nie wieder einen Hochgipfel zu besteigen? Mit allem Vorbedacht wiederholte ich mir diese Worte immer wieder, um zu erfahren, welches ihre Wirkung wäre. Ich muss auf ein inneres Aufbranden entrüsteter Ablehnung gefasst gewesen sein, auf schroffe Selbstvorwürfe über meine Drückebergerei — mochte sie sich auch nur in meinem Innern abgespielt haben. Statt dessen stellte sich aber ein merkwürdiger Unterbruch im Denken, eine geistige Stille ein, in der ich, wie auf eine Erlösung, darauf harrte, ich möchte so und nicht anders entscheiden. Ich konnte nicht vorgeben, noch irgendwie im Zweifel zu sein. Deshalb entschied ich, so wie ich da lag und ruhte und Ausschau hielt, daßs dies meine letzte, grosse Besteigung sein solle.

Die Windstösse waren verebbt. Gemächlich zündete ich meine Pfeife wieder an und blickte langsam in die Runde zu all den Bergen dieser weiten Sicht. Welch gewaltige und doch so vertraute Berge! Der Grand Cornier und der Pigne de l' Allée, meine ersten Touren als Einzelgänger; die Dent Blanche und just mir zugekehrt ihr Viereselsgrat, den ich wieder erschlossen hatte; das Gabelhorn mit dem Wellenkuppengrat und dessen grossen Turm, den Theytaz und ich als erste überschritten; das Matterhorn, die erste Offenbarung des Hochgebirges, die mir in meiner Knabenzeit zuteil geworden, und sein Zmuttgrat, meine letzte Vorkriegstour mit Herford als Gefährte. Zu unsern Fussen der lange Mominggrat, hinüberführend zum Weisshorn, Schauplatz meines schnellsten Rennens mit Knubel. Und weiter in der Runde die Südflanken des Doms und Täschhorns, die wir erstmals durchforschten. Und in der Ferne die nicht minder vertrauten Gestalten der freundlichen Oberländer Gipfel. Schier jeder Gletscherwinkel dieser hohen Firnen barg eine Erinnerung, und die meisten dieser Felsgipfel und Grate weckten irgendein köstliches Abenteuer ins Leben zurück.

Wie ich so alle diese Erlebnisse im Schaubild der Erinnerung und im Lichte meiner neuen Entscheidung nochmals an mir vorüberziehen liess, war es mir völlig klar, welches meine Gefühle hätten sein sollen. Aber sie entsprachen dieser Erkenntnis nicht. Ich spürte nur vorübergehend Ungeduld darüber, dass das Kind, das ewig in uns lebt, der Versuchung erlegen war, den Entscheid dieser Gefühlsprobe zu unterziehen. Wie ich nun aber den Blick wieder den Bergen zuwandte, schauten sie mich an — nicht anders als wie dies rechtschaffene Berge zu tun pflegen. So sehr ich auch die alten Abenteuer an jenen Stätten wachrief, ich konnte doch auf keiner dieser längst vertrauten Felsenflanken, auf keinem dieser Gletscherbrüche den wilden Zauber und den geheimnisvollen Glanz der fernen Zeiten wiederwecken, nicht einmal jetzt in diesem Augenblicke letzten Lebewohls. Nur einfach Berge schienen sie. Und dabei waren sie als Berggestalten nicht einmal in der besten Form; die Nachmittagssonne war nämlich so diffus und tonlos, dass sie die Farben löschte und das Relief verflachte. Bedächtig zogen Herden schmutzig-gelber Flockenwolken hin und her; sie liessen keine Rückstrahlung zu und drückten das Landschaftsbild auf jene kartenähnliche Eintönigkeit herab, die wir bei solcher Wolkenbildung oft erleben, wenn wir von einem hohen Gipfel der Penninen an Nachmittagen Ausschau halten.

Vierzig Jahre besten Bergsteigertums, und damit besten Lebens, inmitten dieses Hochgebirges waren mir geschenkt gewesen. Und nunmehr sollte ich imstande sein, solch innige Bindungen ohne tiefere Ergriffenheit, als ich sie jetzt verspürte, aufzulösen? Gewiss war da doch etwas nicht in Ordnung? Oder war etwa unsere Trennung in Wirklichkeit, ohne mein Wissen, bereits schon früher eingetreten? Hatten denn all die Jahre, in denen ich darum rang, die kostbarsten Freundschaften wiederzugewinnen und sie festzuhalten, in Wirklichkeit nie mehr vermocht, als nur ein Trugbild meines frühern Selbst wiedererstehen zu lassen — dem selbst der blosse Widerschein der Glorie fehlte, die einstens meinen Bergen eigen war?

Paarweise wie zuvor seilten wir uns wieder an; dann begannen wir den Abstieg die obersten Felspartien hinunter. Lange Stunden der Plackerei würden uns nun bevorstehen; es schien mir deshalb wohl angebracht, sie damit auszufüllen, dass ich mich erforschte, wo es denn eigentlich mit meinem Bergsteigen schief gegangen sei. Wenn mir diese Entdeckung gelänge, dann würde dies folgerichtig ein nützliches Schlaglicht auf den Charakter meines einstigen, echten Bergsteigertums und damit auf die Natur allen echten Bergsteigens werfen. Mit solchen Überlegungen beschäftigt wandte ich mich frohgemut dem Abstieg zu.

Markus und der zweite Führer zogen voraus. Knubel hatte das Seil, das mich mit ihm verband, nicht abgelegt, während ich ausgestreckt der Ruhe pflegte. Mit der Versicherung, wir hätten reichlich Zeit, zog er es nunmehr ein, um die Distanz zu kürzen, und glitt mir nach. Die Nachmittagssonne hatte die rauhkantigen Klippen köstlich durchlüftet. Kühn konnte ich mich an den Handgriffen herunterschwingen, mit dem einen Fuss auf den Simsen Tritt fassen und den Stelzfuss nach seinem Gutdünken herunterrasseln lassen. Bei dieser Felskletterei war es mir eine herzliche Ermutigung zu sehen, dass das vorauskletternde Paar uns keinen Vorsprung abgewann. Wenn ich mein Kletterstück beendet und festen Stand gefasst hatte, brauchte ich jeweils kaum zu warten: wie stets im Fels schien Knubel schon wieder bei mir angelangt und neuerdings auf meine nächste Bewegung gefasst, dieweil ich nur ein Augenlid zusammenkniff und wieder öffnete.

Als wir den Gipfelgrat verlassen und uns herunter zu den Platten der Westflanke wenden mussten, waren die Stufen, die wir im Aufstieg auf dem Schneepflaster des Plattendachs geschlagen hatten, von der Sonnenhitze aufgetaut und für mich unsicher geworden. An einem Steilhang vermag die Stelzenscheibe bei schlechtem Schnee nie Halt zu finden, und auch der rechte Fuss kann in solch faulem Schnee nicht sichern Stand gewinnen, denn das Gewichtsverlagern von der starren Stelze auf das gesunde Bein hat etwas von der Wucht eines Falles an sich. Wir waren uns denn auch darüber einig, dass wir Zeit sparen würden, wenn ich die steile Schneeleiter auf diesen Platten sitzend, durch das Seil von oben her gehalten und gebremst, langsam herunterrutschen würde. Dadurch mussten natürlich die Stufen für Knubel als Letzten zerstört werden. Aber er grinste nur, als ich ihn frug, was er dazu wohl meine.

Von der Felsleiste am Fuss der Platten schaute ich hinauf, um zu beobachten, wie er dies meistern würde. Nie habe ich eine elegantere Kletterbewegung gesehen als Knubels schwierigen Abstieg diesen weißschleimigen Absturz herunter. Das Wasser sprudelte nur so die eisbedeckten Felsen unter ihm herunter, während seine Füsse, geführt von einer wellenförmigen Bewegung der Beine, die zwischen Schwimmen und Schlittschuhlaufen lag, abwechselnd rechts- und linkshin glitten, in steter Haftung mit dem Grund. Steptanzen war es auf poliertem Boden bei einer Neigung von mehr als 50 Grad. Über diesem beherrschtem Gleiten aber Schoss seine gedrängte Gestalt in vollem Gleichgewicht herab, ohne Ruck und Wanken, und fand zugleich noch Zeit, die losen Schlingen unseres Seiles einzuholen. Nie habe ich etwas Ähnliches an künstlerischem Fusswerk auf derart schlechtem und riskantem Grund erlebt.

Unterhalb der Plattenfirst stiegen wir noch ein Stück weit in gleicher Richtung ab; dann bogen wir herum zum luftigen Quergang schräg durch die Westflanke hinunter, der uns wieder, nur etwas tiefer, auf den Kamm des Hauptgrates zurückbringen sollte. Die Traversierung führt durch den obern Teil der mächtigen Westwand, die in furchterregenden Abstürzen zum Mountetgletscher abfällt. Der Abstieg vom Schneedach hatte uns ziemlich Zeit gekostet; ich sah denn auch, dass unsere erste Seilschaft die Wand bereits gequert hatte und eben, mit ziemlichem Vorsprung, im Begriffe stand, da drunten den Hauptkamm wieder zu betreten. Jetzt hatten aber auch wir trockenen, grobkörnigen Fels erreicht, was mir erlaubte, wieder rascher fortzukommen. Nach zirka 14 Stunden mühevollen Aufstiegs schwelgten nun meine Muskeln in Ergötzen ob dieses erlösenden Abwärtsschwingens und -turnens.

Nach Auslaufen von ungefähr 50 Fuss freien Seiles war ich eben auf eine steile Klippe, den Anfang des Querganges heruntergekommen, hatte auf einer kleinen abgerundeten Leiste der Klippenfläche passenden Stand gefunden und rief nun Josef zu: « Alles gut! Nur los! » Da meine Augen und eine Hand an der glatten Fläche Halt fanden, stand ich unschwer im Gleichgewicht. Ich schaute zu, wie Josef herabstieg. Da fiel mir ein, dass ich, nach der etwas ungewöhnlichen Rutschpartie droben über die Schneefirst, die Schneebrille auf mein Hutband hinaufgeschoben hatte, ohne sie aber daselbst zu sichern. Ich versuchte ohne Handhalt auf meinem einzigen Bein im Gleichgewicht zu stehen, fand, dass ich dies bequem tun könne und griff mit beiden Händen nach dem Hut...

Wieso ich stürzte, ist wohl allein für mich von Interesse. Da ich aber gerade bei Einbeinigen selbst und bei Leuten, die für deren Wiederanpassung an die Lebensverhältnisse verantwortlich sind, auf so viel Unverständnis der wirklichen Gefahren und Bedürfnisse des Einbeinigen gestossen bin, drängt es mich doch zu einer kurzen Erklärung: Wenn ein Einbeiniger sich im Dunkeln aufhält oder seine Augen schliesst, fehlt ihm jener zweite Fixpunkt, der ihm, dank seiner Augen oder seines zweiten Beines oder eines Griffes, sonst zur Verfügung stünde und ihm das Aufrechtstehen anzeigt. Er vermag deshalb nur so lange im Gleichgewicht zu bleiben, als er unbeweglich steht oder doch nur eine wohlberechnete Bewegung ausführt. Beginnt er aber eine unvorsichtige Bewegung, so wird er höchst wahrscheinlich, ohne es zu merken, damit fortfahren, bis er das Gleichgewicht verliert und umfällt. Infolge des Hoch-hebens meiner Arme unterbrach ich an der steilen Fläche vor mir die Augen-sicherung, deren ich bedurfte, um mir Rechenschaft zu geben, dass ich aufrecht stünde. Diese Armbewegung reichte aus, um ein unbewusstes Rück-wärtsschwanken über meinen einzigen Fußstützpunkt hinaus einzuleiten. Lange bevor mir etwas den Gleichgewichtsverlust anzeigte, muss meine Fallbewegung jede Auffangchance überschritten haben. In Tat und Wahrheit versuchte ich gar nicht, mich aufzufangen; ich gab auch keinen Laut von mir und ward vom Alpdruck überfallen, bevor mir zum Bewusstsein kam, ich Stürze.Fortsetzung folgt )

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