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Zwei Besteigungen in der Sierra Nevada

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON FRIEDRICH KOBLET, ZÜRICH

Dem Besucher der südspanischen Stadt Granada sticht als erstes die gut sichtbare Bergkette der Sierra Nevada ins Auge. Die über 3000 m hohen Gipfel sind bis weit in den Sommer hinein mit Schnee bedeckt und geben einen reizvollen Hintergrund für das maurische Königsschloss, die Alhambra. An einem regnerischen Novembertag brachen vier junge Schweizer im gemieteten Auto auf, um die Residenzia « Universitaria » zu erreichen, die als Ausgangspunkt für Besteigungen in diesen Bergen gilt. Da wir damit rechneten, dass diese um die späte Jahreszeit nicht mehr besetzt sei, führten wir das Material für ein mehrtägiges Zeltlager mit uns. Doch Schnee und Sturm erlaubten die Erreichung des ersten gesteckten Zieles nicht und zwangen uns, das Lager in der Umgebung der Penones de San Francisco aufzuschlagen. In der Hoffnung auf eine Wetterbesserung begaben wir uns zur Ruhe. Schon kurz nach Mitternacht legte sich der Sturm, und bald wölbte sich ein wolkenloser Sternenhimmel über dem Lager.

La Veleta, 3428 m Viktors Stimme, die zum Morgenessen ruft, hat mich geweckt. Er verteilt die Portionen heissen Soyamaltes. Dazu knabbern wir Knäckebrot. Sepp, unser Leiter, entscheidet sich zu einem Versuch der Besteigung der Veleta. Das Wetter sollte kein Hindernis sein. Die Klarheit des nächtlichen Himmels ist zwar einer leichten Hochnebeldecke gewichen. Die Höhe des Schnees, der die Landschaft verzuckert, ist unbedeutend. Einzig der stete, starke Wind macht uns Kopfzerbrechen. Um 9 Uhr brechen wir auf. Auf dem Hügel hinter dem Zeltlager können wir uns ein Bild über dessen Position machen. Vor uns stehen die Zacken der Penones de San Francisco. Unter uns, in der Tiefe des Tales, sehen wir das Dorf Pino. Dahinter breiten sich die Stadt Granada und deren Ebene aus. Von links grüssen die in Eis und Schnee starrenden Gipfel der Sierra Nevada. Schon drückt die Sonne durch die Wolkendecke und lässt die Farben der Landschaft aufleuchten. Rechts abschwenkend sind wir bald auf der Strasse. Da, wo die Penones abfallen, stehen die Residenzen « Universitaria » und « Militare », und vor uns der Zugang zur Veleta. Ihr spitzer Gipfel glänzt im Sonnenlicht. Oberhalb der « Militare » verschwindet die Strasse unter der Schneedecke. Wir nehmen Richtung auf die Flanke, die am Veletanordgrat endet. Kaum deren westlicher Begrenzung entwichen, erfasst uns der Wind. Mit allen Kräften stemmen wir uns ihm entgegen. Die Kälte dringt durch die Kleider. Unentwegt kämpfen wir uns aufwärts. Rechts der Veleta erheben sich auf der Karte nicht benannte Gipfel im Sonnenschein. Unmittelbar unterhalb des Nordgrates lässt uns der Wind zeitweise in Ruhe. Grösste Vorsicht gebietet jedoch die steile, vereiste Westflanke. Blicke, die wir durch die Lücken im Grat ostwärts werfen, enden an den Gipfeln der Sierra Nevada. Die schöne Bergform der Alcazaba begeistert uns. Diese Seite des Grates fällt senkrecht in die Tiefe. Unermüdlich arbeiten wir uns aufwärts und nähern uns dem Veletagipfel. Um 2 Uhr stehen wir auf dem höchsten Punkt. Stumm drücken wir uns die Hände. Die Mühen des Kampfes gegen Wind, Eis und Schnee sind vergessen. Die Aussicht ist unvergleichlich. Weit im Osten und Süden breitet sich das Mittelmeer aus. Das Wasser ist gekräuselt und schimmert grünblau. Sogar Schiffe können wir deutlich auf der unendlichen Fläche erkennen. Vor uns die Grossen der Sierra: Mulhacen und Alcazaba. Eindrucksvoll sind ihre Nord- und Nordwestwände, die in den Talkessel von Maitena abfallen. Südlich die Ausläufer der Sierra Nevada, ein Hügelland, das an der Küste des Mittelmeeres endet. Direkt unter uns die vereiste Laguna del Rio Veleta. Im Norden das spanische Hochland. Gebirkskette reiht sich an Gebirgskette. In überwältigender Farbenpracht glänzen Gestein und Vegetation. Im Westen geht der Blick bis in die Berge Portugals hinüber, im Südwesten endet er an der afrikanischen Küste. Wir hissen die Schweizerfahne auf dem höchsten Punkt und halten mit den Photoapparaten die Ausblicke fest. Das Erlebnis einer solchen Besteigung selbst kann man nicht bildlich erfassen, das muss man in der Erinnerung mitnehmen. Nach einer Stunde Gipfelrast erheben wir uns gestärkt und frohen Mutes. Leichten Schrittes steigen wir ab. Schon ist die Dämmerung der Nacht gewichen, wie wir das Lager erreichen. Immer noch pfeift der hartnäckige Wind um unsere Zelte.

Mulhacen, 3478 m Vier Tage sind vergangen. In der Nacht nach der Veletabesteigung legte uns der Sturm das Lager zusammen, so dass dieses am folgenden Tag an einer geschützteren Stelle errichtet werden musste. Der zweite Tag diente der Rekognoszierung und machte unsere Hoffnung zunichte, die Basis der Nordwand des Mulhacen von dieser Seite her zu erreichen. Die Erkenntnis, dass seine Besteigung nur in Verbindung mit einer Überschreitung der ganzen Kette der Sierra Nevada möglich ist, wurde damit gewonnen. Gestern wurde dieser Versuch gestartet. Der Schneesturm, der uns unterhalb des ersten Crestonegipfels in Schneelöcher trieb, setzte ihm ein Ende. Müde und geschlagen kehrten wir bei Nacht und Nebel ins Lager zurück. Eine nächtliche Wetterbesserung stellte uns jedoch wenige Stunden später wieder auf die Beine, und erneut schritten wir in Richtung des Mulhacens aus.

Über dem Mittelmeer erhebt sich die Sonne. Sie lässt den Schnee der Sierragipfel glitzern. Gegen den Col Veleta stampfen vier Männer. Noch ist es beissend kalt. Doch bald wird die Sonne ihre Wärme spenden. Ohne anzuhalten wird der Col überschritten und abgestiegen. Das steinhart gefrorene Tracé erlaubt ein rasches Fortkommen Gegen 10 Uhr erreichen wir die Lücke beim ersten Crestonegipfel, wo wir gestern zum Rückzug gezwungen wurden. Vor uns, im Lichte der Sonne, steht der Mulhacen. Sein Westgrat, der direkt zum Gipfel führt, scheint sehr nahe. Links unseres Standortes strecken die Crestones ihre Spitzen in den blauen Himmel Auf der uns zugewandten Südseite ist eine Querung möglich. Bei guten Schneeverhältnissen ist diese ein Vergnügen. Sie nimmt aber viel Zeit in Anspruch, denn die Perspektiven täuschen. In diesen Bergen bemerkt man die grossen Distanzen erst, wenn man den Weg unter den Füssen hat. Im Wiederanstieg zwischen Caldera und Crestones treffen wir auf rauhes Eis. Noch immer glauben wir, dass bei dieser Lücke der Einstieg zum Mulhacenwestgrat beginnt. Doch oben, welche Überraschung! Der Berg ist uns nicht näher gerückt. Vor uns in der Tiefe liegt die Laguna de la Caldera. Links die Fortsetzung der Crestones. Spitze Gipfel reihen sich. Eine Überschreitung würde uns Stunden kosten. Der direkte Abstieg zur Lagune ist zu steil, ausserdem wissen wir nicht, ob uns deren Eis auch tragen würde. Sepp übernimmt die Führung. Immer mit bis zur Haue eingeschlagenem Pickel steigt er 20 m schräg links ab. Dann horizontale Querung. Er hält direkt unterhalb den senkrechten Felsen der Crestones östliche Richtung. Wir folgen ihm in angemessenen Abständen. Sepp erreicht einen Felspfeiler, der die ganze Flanke durchschneidet und am See unten endet. Vorsichtig steigt er in die Felsen ein. Seinem Weg folgend erleben wir nun in diesen südlichen Bergen das erste Mal richtige Kletterei! Die Felsen sind sehr brüchig, und ständig lösen sich Steine. Nach 50 m direkten Aufstiegs ist es möglich, ein vereistes Couloir zu traversieren, um den folgenden Parallelpfeiler zu erreichen. Ein verschneites Band führt unter leicht überhängenden Felsen um diesen herum. Diese Querung ist sehr ausgesetzt. Die Felsen verlassend, geht der Weiterweg dann wieder über Firnhänge. Allmählich nimmt die Steilheit ab, und der Zugang zum Col Mulhacen ist frei. Von dort aus erscheint die sonst so imposante Alcazaba als ein verschneiter Trümmerhaufen, denn die Gliederung der Nordwestwand tritt nun vor das Auge. Bereits stehen wir höher als ihr Gipfel. Wir halten kurze Rast, um dann den letzten Anstieg zum höchsten Gipfel Spaniens in Angriff zu nehmen. Der Westgrat entpuppt sich als sehr breit. Von der in der Ferne sichtbaren Firnschneide ist nichts mehr zu finden. Doch zeigen sich andere Schwierigkeiten. Die abwärtsgeschichteten Platten sind mit Blankeis überzogen. Wir hacken uns aufwärts, denn die Steigeisen liegen im Lager unten. Einzig Viktor ist mit einfachen Eisen versehen, was sich insofern bemerkbar macht, dass er sehr bald über uns verschwindet. Langsam, aber sicher wird auch dieses letzte Hindernis, der Westgrat, überwunden. Der Blick wird frei, und wir stehen auf dem höchsten Gipfel Spaniens. Wir schauen uns verblüfft um. Nur die Nord- und Westseiten des Berges sind steil, die andern sind relativ sanft abfallend. Der Gipfel selbst ist eine breite Kuppe. Einzig die Nordwand hat alpine Ausmasse. Aber wir sind erfreut, erreicht zu haben, was wir seit einer Woche begehrten! Eine tiefe Befriedigung kehrt in uns ein. Das herrliche Wetter und die unvergleichliche Fernsicht belohnen uns für alles Schwere, das wir durchmachten. Mittelmeer, spanisches Hochland und die andalusische Küste entzücken das Auge. Auf dem höchsten Punkt, beim Kreuz, stecken wir die Schweizerfahne auf, das Symbol unserer schönen Bergheimat. Unvergesslich wird uns der Mulhacen bleiben, diese Gipfelstunde immer in unserer Erinnerung wach sein.

Bereits ist die dritte Nachmittagsstunde vorbei. Ein langer Rückmarsch steht uns bevor. Nur schwer trennen wir uns von diesem schönen Fleck Erde. Der Abstieg über die vereiste Westflanke erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Vom Mulhacen aus sahen wir, dass wir die gefährliche Traverse der Crestonessüdseite umgehen können, indem wir zur Lagune absteigen und deren linkem Ufer bis zum Fuss der Caldera folgen. Der Aufstieg zu dieser ist steil, doch der Firn trägt sehr gut. Um 5 Uhr stehen wir auf ihrem Gipfel. Nun beginnt ein Wettlauf mit der Nacht. Auf und ab keuchen wir, und oft will uns die Müdigkeit übermannen. Auf dem Col Veleta ist die Nacht bereits Sieger geblieben. Doch der Mond erhellt uns den Weg zum Lager. Stolz sind wir, im November, bei Schnee und Eis, die ganze Kette der Sierra Nevada überschritten zu haben, trotz den wilden Stürmen, die um diese Jahreszeit dieses Gebiet beherrschen.

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