Das Schafloch
Vermessen von A. Wyttenbach und Ph. Gösset, beschrieben von H. Körber ( Section Bern ).
Das Schafloch In der Form eines rechtwinkligen Dreiecks, dessen Hypotenuse durch das Bett der Zulg, dessen eine Kathete durch den Sulzigraben und den schäumenden Grünbach, die andere durch das rechte Ufer des Thunersee » und die Aare bis zur Mündung der Zulg dargestellt wird, besitzen wir an der Schwelle des Berner Oberlandes ein Stück Schweizererde, das an landschaftlicher Schönheit und Mannigfaltigkeit zu dem Reizvollsten gezählt werden darf, was unser Ländchen dem Naturfreunde bietet, und welches in seiner Vegetation alle Uebergänge von der oberitalienischen bis zur hochalpinen Flora aufweist.
Ein durch Schluchten vielfach gegliederter Höhenzug, bei Thun am Grüsisberg beginnend, in der aussichtreichen Kuppe der Blume gipfelnd und ostwärts an den Sigriswylgrat sich anlehnend, theilt das Gelände in eine südliche und nördliche Abdachung. Der kühn aus dem Justisthal sich aufbauende Sigriswylgrat bildet seine östliche scharfmarkirte Begrenzung.
Der südliche Abhang schaut das herrliche Wasserbecken des Thunersees und in unvergleichlich schönem Bilde die ewigen Zinnen der Gletscherwelt; er ist bekleidet mit üppiger Vegetation: die edle Kastanie, das Merkmal eines glücklichen Klimas, entfaltet neben dem Nußbaum die stolze Krone, der Kirschlorbeer spiegelt im See das glänzende Blatt, am Weinstock zeitigt die süße Beere und im freien Felde steht hochstämmig der Pfirsichbaum.J ) Getreidefelder, Buchenwald und grüne Wiesen verleihen der Landschaft das Gepräge der Fruchtbarkeit und reichlichen Auskommens.
Es ist kein Wunder, daß der Mensch sich da gern niederließ. Die Sagen von den heiligen Männern Beatus und Justus, von einer verschütteten Stadt Roll, dann die reiche Stadt Thun mit ihrer gebietenden Burg, das uralte Kirchlein Scherzligen, die Schlösser Chartreuse und Oberhofen, die Kirchdörfer von Hilterfingen und Sigriswyl, sie alle sind Zeugen alter Niederlassung. Reiche Lustschlösser, schmucke Landhäuser, Weiler und Bauernhöfe in großer Zahl beleben den sonnigen Hang.
Wie anders die, Eriz genannte, Nordseite! Dort herrscht die düstere Fichte und das graue Torfmoor, da ist noch der Kohlenbrenner und der Holzknecht zu Hause. Nur vereinzelt und in weiten Abständen, nirgends zum Dorf vereinigt, stehen auf den wenigen gerodeten Stellen menschliche Wohnungen. So nahe dem volkreichen Land und der großen Heerstraße der Touristen, ist „ das Eriz " ein einsames, wenig gekanntes Revier, welches außer dem Holzhändler und dem kosmopolitischen Mausefallenmann selten eines Fremden Fuß betritt. Dorther kommen die Flößei1, welche die Stämme unserer Berge dem Rheingau zuführen; ein trotziges, hartes Geschlecht, s. Z. wohlbekannt im alten Berner Bataillon Nr. 18 als ein schwer zu regierendes, aber auch durch keine Strapazen umzubringendes Volk.
Sehen wir im Südhang unseres Gebietes ein Stück Tessin, im Nordhang ein Bild des Bregenzerwaldes, so repräsentirt seine Ostkante die Alpenwelt mit all ihrer Wildheit und ihrer Lieblichkeit.
Von steilem Wald umgürtet erhebt sich als mauerähnlicher ununterbrochener Wall vom Thunersee bis zu den Quellen der Zulg der Sigriswylgrat in jähen Wänden zu den Gipfeln der spitzen Fluh, der Mähre und des Rothhorns.
Die Schneide des Grates trägt nur zwei kleine, mit reichem Graswuchs bedeckte Hochflächen, deren Grün wohlthätig die hier oben durch fortschreitende Karrenbildung immer nackter werdende Felswüste unterbricht.
Auf der Nordwestseite ziehen sich steile Weidehänge an einigen Stellen bis zum zerklüfteten Grate hinauf. Die Südostseite stürzt in lothrechten Wänden in die Tiefe des einsamen Justisthals. Wenige ausgewitterte Kehlen gestatten, auf die Schutthalden an ihrem Fuße und in die Sohle des Thales niederzusteigen.
Eine farbenreiche Blüthenwelt bedeckt die Alpen und Fluhbänder. Schon im März, wenn die Bergthäler noch tief im Schnee begraben sind, leuchtet uns aus Das Schafloch.:ìl9 Stein und Gebüsch die rothe Erica in reicher Fülle entgegen. Der Sommer zeigt uns den Flor der bescheidenen und doch so farbenprächtigen Alpenpflanzen, welche lieblich die Wildniß schmücken, die kargen Rasenflächen, jedes Stückchen Erde in den Felsenritzen mit ihren zarten Gebilden belebend.
Und der rüstige Steiger, welcher der Höhe zustrebt,, um von Rothhorns Gipfel ein weites Stück herrlicher Hochalpenwelt mit Firn und Gletscher und Fels und See zu überblicken, genießt wohl die Freude, eine Scene aus dem „ Thierleben der Alpenwelt " lebendig vor sich zu sehen, sei es ein listig Füchslein, das seinem Bau zueilt, oder ein Steinhuhn, das würzige Wachholderbeeren nascht, oder gar, wenn er Glück hat, die flüchtige Gemse, die sorglos auf hohem Band, im Schatten der Fluh Siesta hält.
So nahe liegt hier Alpenpracht beim dicht bevölkerten fruchtbaren Land, daß der Wandersmann am Seegelände den Hut mit Weinlaub schmücken und — noch ehe es welk geworden — Gentian und Alpenrose und Edelweiß dazu stecken kann. In der That erreicht man ohne besondere Anstrengung von der Dampfschiffstation Gunten in 8/4 Stunden Sigriswyl, in weiteren 2 lk Stunden die Berglialpen und in noch 1 1k Stunden das hochragende Rothhorn.
Herrn M. Schuppli verdanken wir die nachfolgende,, topographisch von unten nach oben geordnete Liste der vorkommenden Pflanzenspecies: Merligen. Ralligen.
Sedum maximum. Phyteuma orbiculare. Erica carnea. Rhododendron ferug. Hex aquifolium. Cy- clamen europaeum. Arabis sagittata. Cardamine im-patiens. Sisymbrium Alliaria. Sisymbrium Thalianum. Lathyrus silvestris: Rosa sepium. Cotoneaster vulg. Aronia rotundifol. Muscari botryoides. Peucedanum Cervaria. Laserpitium latifolium. Vincetoxicum officinale.
Sigriswyl.
Epilobium rosmarinifolium. Sedum villosum. Lappa major. Cardamine silvatica. Rosa mollissima. Rosa tomentosa. Gymnadenia odoratiss. Herminium Mo-norchis. Listera cordata. Carex disticha. Glyceria fluitans. Jasione montana. Cypripedium Calceolus.
Justisthal.
Adoxa moschatellina. Cirsium eriophorum. Pirola uniflora. Gentiana lutea. Soldanella alpina. Arabis bellidifolia. Potentilla aurea. Rosa pimpinellifolia. Rosa Grenieri. Plantago montana. Mercurialis perennis. Crocus vernus. Anthericum Liliago. Paradisia Liliastrum. Allium Victorialis.
Ralligstöcke.
Epilobium trigonum. Epilobium origanifolium. Saxifraga caesia. Astrantia minor. Gnaphalium leontopodium. Arnica montana. Centaurea Scabiosa. Crépis montana. Campanula thyrsoidea. Arctostaphylos alpina. Gentiana nivalis. Androsace lactea. Globularia nudicaulis. Anemone vernalis. Arabis serpyllifolia. Helianthemum œlandicum. Rhamnus pumila. Hedysarum obscurum. Vicia sepium. Rosa pomifera. Thesium pratense. Orchis pallens. Orchis globosa. Corallor- rhiza innata. Juncus filiformis. Aira flexuosa. Festuca nigrescens. Festuca pumila.
Rothhorn.
Sorbus Chamaemespilus. Saxifraga oppositifolia. Draba tomentosa. Potentilla minima. Lloydia serotina. Carex firma.
Herr v. Jenner-Pigott theilt Folgendes über die jagdbaren Thiere der Sigriswylkette mit:
„ Gemsen, die eine Zeit lang ganz verschwunden waren, aber sich jetzt, Dank dem eidg. Jagdgesetze und der daraus folgenden strengen Jagdpolizei, wieder zeigen, dürften gegenwärtig in einem Rudel von 11-12 Stück den Berg beleben. Meister Reinecke findet sich in großer Zahl. Der Hase kommt in zwei Arten vor, als Alpenhase und in der gewöhnlichen Art. Selten sind die Edelmarder, sowie der Haus- oder Steinmarder, wogegen Iltis ( von den Leuten Altäse genannt ) und Wiesel ziemlich zahlreich sich vorfinden.
Zu beiden Seiten dieses wilden Gebirgszuges an den bewaldeten Hängen auf der Zettenalp und in dem Wald- und Weiderevier, das sich östlich zum Hohgant und in 's Eriz hinzieht, kommt vielfach vor der Auerhahn. Bis zum Bergli hinauf und sehr oft in der „ Krinne ", die sich parallel mit dem Bergli hinzieht, wohnt der Spielhahn, und zwar habe ich schon oft 10—11 Stück mit einander aufliegen sehen ( Zettenalp ). Nicht so hoch hinauf geht das schmackhafte Haselhuhn, welches mehr die düstern Alpenwälder bewohnt ( Susen-egghubel, obere und untere Matt ).
Die köstliche Waldschnepfe bleibt oft bis in den 21 November in den moosbewachsenen Alpwäldern, welche den Fuß der steilen Felsen umgürten. Auf den öden Karrenfeldern, welche sich von der Alp Oberbergli bis zum Eothhorngipfel hinziehen, sowie auf den steinigen und felsigen Halden und jähen Abstürzen zu beiden Seiten des Grats, der sich über Blumhorn und Burst bis zur Sichel erstreckt, wohnen und nisten, selten gestört, das Steinhuhn und die Pernise in ziemlicher Anzahl und gar nicht scheu. Auch das Schneehuhn kommt vor. Raubvögel sind die gewöhnlichen; doch hausen in dem dem See zugekehrten Theil des Gebirges Fischadler, welche durch ihre seltene Größe imponiren. " Geologisch betrachtet gehört das Gebiet vom Grüsisberg bis zum Ralligbach der Nagelfluhformation an, welche in den Eingangs erwähnten Schluchten, so namentlich in der Kohleren nächst dem Dörfchen Hilterfingen, prächtig zu Tage tritt. Diese Nagelfluh besteht aus Trümmern von Faustgroße bis zu mächtigen Blöcken von Graniten und Porphyren mit vorherrschendem Feldspath in großen Krystallen. Die Gerolle sind fest verkittet durch einen grobkörnigen Sandstein, der nur eine Abschleifung, nicht aber eine Zerbröckelung des Gesteins zuläßt. Auffallend ist diese Cohärenz der Nagelfluh in den kleinen Bachrunsen zu sehen, welche am nördlichen Fuß der Ralligstöcke nach dem See fallen. Im Kappeligraben hat sich das Wasser ein enges Bett gegraben; an der Brücke, über welche der Weg von Endorf nach Merligen führt, fällt der Bach in malerischem Fall in ein Becken, dessen Boden und Wände so vollkommen glatt abgeschliffen und polirt sind, daß das Ganze Bas Schafloch.:ì23 bei der mannigfaltigen Färbung der Granite und Porphyre einem bunten Mosaikboden ähnlich sieht. ( Rütimeyer, Schweiz. Nummulitenterrain, Seite 7. ) Die Steinarten, aus welchen die Ralligstöcke selbst aufgebaut sind, sind vorzüglich Schiefer, Kalk und Sandstein. Am mächtigsten ist entwickelt der Nummulitenkalk. Seine charakteristischen Varietäten sind meistens dicht, als Marmor benutzbar, in oft viele Fuß starke Schichten getheilt. Der sandige Kalk bildet die Hauptmasse dieser Schichtenfolge, welche sich besonders durch den großen Reichthum an Nummuliten und Orbitoliten auszeichnet. Die dunkeln, quarzreichen Abarten dienen ihrer außerordentlichen Zähigkeit wegen in Bern als treffliche Pflastersteine.
Der gewaltige Bergsturz, welcher einst die am Seeufer gelegene Stadt Roll verschüttet haben soll, hat der Geologie eine Menge der interessantesten Bildungen aufgedeckt. Das ganze interessante Profil wird durchschnitten von dem Wege, der von Endorf nach dem Justisthal führt.
Wie die meisten Kalkformationen ist der Sigriswylgrat vielfach zerklüftet durch Risse und Spalten von bald geringerer, bald größerer Mächtigkeit. Auf der untern Berglialp öffnet sich mitten im Rasen eine enge Spalte von bedeutender Tiefe; hinunter geworfene Steine hört man lange Zeit von Absatz zu Absatz rollen.
In den Karrenfeldern des Oberbergli befindet sich eine ähnliche, doch weitere Schlucht, in welche man mittelst einer Leiter hinuntersteigt und in deren Tiefe sich der Schnee das ganze Jahr hält. Der Senn der 32-1Hans Körber.
wasserarmen kleinen Alp gewinnt aus diesem Schnee die Tränke für das Vieh, indem er den täglichen Bedarf in einem Holztrog schmelzen läßt.
Die größten derartigen Formationen finden sich jedoch an der Ostseite des Gebirgskammes. Der Vollständigkeit wegen erwähne ich eine unbenannte, östlich vom Vorder-Schafläger, etwa bei der Quote 1807 des topographischen Atlas befindliche schöne Balm von ungefähr 8 m Breite und G m Tiefe. Im Ostabfall der Hinter-Schafläger befindet sich eine unter dem Namen „ Schäferloch " bekannte, noch nicht untersuchte zweiarmige Höhle. Die bedeutendste Höhle des Gebietes und gleichzeitig die größte und interessanteste Eishöhle der Schweiz ist das südöstlich unter dem Roth-horngipfel befindliche Schafloch.
Drei Wege dahin stehen offen. Der eine steigt von Merligen auf steilem, am sonnigen Nachmittag „ brütig " heißem Pfad längs des Grünbaches in lVé Stunden in 's Justisthal; der Weg führt bezeichnend den Namen „ die Höll ".
Um so lieblicher ist das einsame Thälchen, welches zwischen den schroffen Flühen des Güggisgrat und der Ralligstöcke eingebettet liegt. Man folgt auf gutem Wege dem gewundenen Laufe des Bachs und erreicht in drei Viertelstunden die Flühlauihütte, direct unter dem Rothhorngiptel, wo man die Thalsohle verläßt und in lVa Stunden angestrengten Steigens auf kaum bemerkbarem Geißpfad die Mündung der Höhle erreicht.
Ein etwas längerer, aber angenehmerer Weg führt von Sigriswyl über die Ortschaften Endorf, Wyler und Rothenbühl über die Stätte eines im Juni 1881 abgerutschten Erdschlipfes und die Trümmer des oben erwähnten Bergsturzes, dann durch prächtigen Buchwald in 's Justisthal und verbindet sich bei der Hütte „ im Grön " mit dem erst beschriebenen Weg. Die Gegend hat fortwährend viel zu leiden von Rutschungen und Steinschlag; eine lange Strecke weit ist kein Baumstamm, der nicht bergwärts mit Narben bedeckt wäre. Als treue Hüter schützen die zähen Bäume die unterhalb liegenden Güter vor Verwüstung und gedeihen trotzdem vortrefflich; es wird eine Buche gezeigt, welche einen Meter über dem Boden abgesägt worden ist und aus deren Wurzelstock dreizehn kräftige Stämme von 20-40 Cm Stärke neu herausgewachsen sind.
Der lohnendste und darum auch begangenste Weg zum Schafloch ist derjenige, welcher von Sigriswyl über die Alpen des Vorder- und Hinterbergli führt. In leichtem Anstieg gelangt man über Zeig und Wyler-almend an die schattigen Hänge des Sigriswylgrats, welche auf steinigem Wege erklommen werden. In 21/2 Stunden gelangt man von Sigriswyl auf die blumige Alp des Vorderbergli, welche einen schönen Ausblick auf See und Hochgebirg gewährt. Ueber die Alpweiden ansteigend, erreicht man bald das Felsgewirr der Karren; in trostloser Nacktheit, zerrissen und trümmerbedeckt thürmt sich vor uns das Rothhorn rechts gewahrt man eine wunderbare Felsennadel von vielleicht 10 m Höhe bei nur 3 m Basis-durchschnitt. Der schmale Pfad zieht sich durch das Felslabyrinth rechts zu der nur wenige Kühe ernähren- den Hinterberglialp, und bald steht man bei 1821 m an dem jähen Abfall nach dem Justisthal. Ein Zaun ist zum Schütze des Viehs angebracht. Vorsichtig, an den Grasbüscheln sich haltend, geht man über steile Stufen abwärts, überschreitet eine wüste Kunse und folgt dann ohne Mühe dem Felsband, welches in drei Viertelstunden zum Schafloch führt. Der ganze Weg von Sigriswyl bis zur Höhle ist leicht in vier Stunden zurückzulegen.
Für Winterpartien ist er nicht zu empfehlen. Bei weichem Schnee ist der Uebergang über die Karrenfelder beschwerlich; sodann kann man mit großer Sicherheit darauf zählen, auf der Justisthalseite gewaltige Schneeanhäufungen zu treffen, welche ein weiteres Vordringen unmöglich oder wenigstens gefährlich machen.
Den ersten Besuch machte ich dem Schafloch am 30. März 1884 in Begleitung von M. Schuppli und F. Wyfl. Wir hatten die Absicht, einen Plan desselben aufzunehmen. Es war ein herrlicher Frühlingstag; Erica und Leberblümchen in vollem Flor. Um 5 Uhr 15 Min. von Sigriswyl aufbrechend, erreichten wir über Eothen-bühl und Justisthal die Höhle um 10 Uhr. Der tiefe Schnee im Thalgrund und ein steiles, nasses Schneefeld nahe der Höhlenmündung hatten uns stark aufgehalten. Zu unserem Zwecke waren wir sehr primitiv ausgerüstet; ein 28 m langes Seil und eine Meßschnur war der ganze Apparat. In Ermanglung von Nivellir-und Winkelinstrument konnte das Gefälle gar nicht und die Axenrichtung nur schätzungsweise bestimmt werden. Physikalische Instrumente waren nicht vor- banden; so entstand ein Elaborat, welches zwar die Länge und Form der Höhle annähernd feststellte, welches aber doch nicht genügen konnte, sondern verlangte: Wiederkommen und besser machen!
Der Sommer verfloß, der Herbst ging zur Neige und es schien, als ob der Plan in diesem Jahr nicht mehr ausgeführt werden sollte. Als die schönen Spätherbsttage kamen, waren meine beiden oben genannten Begleiter abwesend. Da erboten sich freundlichst der alte Kenner des Schafloch Pit. Gösset und Ingenieur Wyttenbach nicht nur, mit mir zu kommen, sondern die Arbeit, die ich meinen ungenügenden Kenntnissen zugemuthet hatte, fachmännisch auszuführen. Das Resultat ihrer Arbeit liegt heute vor und es gereicht mir zur hohen Freude, daß sie mir die Ehre überließen, die begleitenden Worte dazu anzubringen.
Wir waren zu unserem Vorhaben mit Theodolit und Meßlatte, mit Thermometer und Hygrometer versehen; zur Beleuchtung bedienten wir uns statt der unzuverläßigen Pechfackeln kleiner Laternen, wie sie bei den schweizerischen Sanitätstruppen eingeführt sind, und einer Tunnellampe, die sich ganz vortrefflich bewährte; die Signale wurden mit Stearinlichtern abgesteckt. Schwer bepackt zogen wir am 20. September aus und hatten auf dem Dampfboot manches Scherzwort über unsern sonderbaren Aufzug hinzunehmen.
Wir engagirten Gärtner Bühler von Gunten und Gottfried Gafner, den 14jährigen Wirthssohn vonSigris-wyl, als Gehülfen und Träger. Sie leisteten uns beide gute Dienste, namentlich der wortkarge Gottfried arbeitete mit wahrem Feuereifer und großer Intelligenz.
Früh 3 1it Uhr am 21. September zogen wir aus dem gastlichen, sehr empfehlenswerthen Wirthshaus von Sigriswyl, nahmen den schönen Weg über das Bergli und waren um 7 1,2 Uhr am Ziel. Unsere 4 n* lange Meßlatte, welche sich in den engen Zickzackwegen sehr widerspenstig anstellte, hatte uns ziemlich aufgehalten.
Das Schafloch öffnet sich in südöstlicher Richtung nach der Seite des Justisthal am Fuße der senkrechten, stellenweise überhängenden Felswand, welche sich vom Unterbergli bis zum Rothhorn hinzieht. Aus dem Thale strebt eine steile, begraste, theilweise dünn bewaldete Halde, ein alter Schuttkegel, empor. Wo letzterer sich mit der Felswand bei 1780m Meereshöhe berührt, ist die Eingangspforte der Höhle. Wir stehen vor einem Felsenthor von 4,7 m Höhe und 14 m Breite. Menschenhand hat es durch eine niedrige Mauer und ein Holzgatter geschlossen, um die Schafe, welche bei Unwetter im Innern Schirm und Obdach finden, zusammenzuhalten. Rechts und links vom Eingang springen kräftige Felscoulissen vor, welche ihn vor den das Justisthal in der Längsrichtung durchziehenden Winden schützen. Die Alpenvegetation drängt sich dicht bis zur Felsenpforte; auf dem Felskopf zur Rechten blüht Edelweiß.
Betritt man das Schafloch, so sieht man sich mit Staunen in einem hellen Saal von gewaltigen Dimensionen, der nichts gemein hat mit dem Finstern und Schreckhaften, das man sich unter einer Höhle vorstellt. Der Boden ist sanft nach innen geneigt, während die Decke sich hebt und durch das weite Thor des Eingangs eine Fülle von Licht eindringt, genügend, um diese Vorhalle hell zu erleuchten.
Die Felsenwandungen sind grauer Kalk, dessen Schichten mit 10% ( 10cm auf 1 m ) nach dem Innern einfallen. Die Wände sind senkrecht abgeschnitten, Boden und Decke eben.
Nur 14 m weit dringt die Höhle in nordwestlicher Richtung rechtwinklig zur Felswand in den Berg; dann wendet sie sich scharf nach WSW, welche Richtung sie im Großen und Ganzen bis zum Ende beibehält. Der Fels ist trocken, wir finden nirgends eine Spur von Schmutz und Schlamm; er ist wärmer als die eingeschlossene Eisluft, welche ihren Feuchtigkeitsgehalt nicht an den warmen Wänden condensiren kann. Daß wir an der Pforte zu einer andern fremden Welt stehen, zeigen die physikalischen Instrumente: Früh 7 Uhr 40 Min. stand im Freien das Thermometer auf 10,5 ° C, das Hygrometer hatte einen dem föhnigen, thaufreien Morgen entsprechenden Stand von 57,3%. Nur 14 m im Innern, an der Ecke, wo die Höhle die Wendung nach Südwesten macht, zeigte evsteres 5,6°, letzteres 96%. Die Stearinflamme zeigte am Boden eine kräftige Luftströmung nach außen, auf 4 m Höhe eine solche nach innen.
Der angenehmste Weg zum Durchwandern der Höhle ist im Plan ( siehe Beilagen ) eingezeichnet. Dringt man in dieselbe ein, so findet man den Boden anfange mit kleineren, dann mit größeren Steintrümmern bedeckt, welche von einem einstigen Einsturz der Decke herrühren. Um ihnen aus dem Wege zu gehen, folgt man am besten der nördlichen Wand, an der eine Art Pfad bis zu der Stelle führt, wo die in ihrem Maximum 23,5 m breite Vorhalle sich auf 7,5 m verengt. Bei meinem Besuch im März, als ich diesen Pfad noch nicht kannte und über die Steintrümmer nach dem Innern kletterte, sah ich mit aller Bestimmtheit oben an der nördlichen Wand durch eine Oeffnung Tageslicht eindringen. Diese Oeffnung ist Niemandem bekannt; sie scheint ein längerer Kanal zu sein, der nur von einer bestimmten Stelle aus gesehen werden kann. Bei den spätem Besuchen fand ich die Stelle nicht mehr; trotzdem scheint mir die Sache zu wichtig, mit sie nicht hier zu erwähnen.
Nun erweitert sich die Höhle wieder. Durch die Einschnürung, welche wir passirt haben, ist die Wirkung des Tageslichts stark beeinträchtigt; es wird dämmerig und bald ganz finster; der Boden ist mit großen Trümmern bedeckt. Bei 86 m vom Eingang fühlen wir Eis unter den Füßen; rechts und links hört man Wasser niedertropfen; an der nördlichen Seite steigt das Eis merklich nach der Wand empor; bald sieht man auch links den ersten Eisstalagmiten, einen Conus von weißem krystallinischem Eis von 2 m Höhe und 3 m Basisdurchmesser. Wir sind hier in demjenigen Gebiete der Höhle, wo der Proceß der Eisbildung vor sich geht und wo sich die größten und schönsten Eisformationen befinden. Untersuchen wir die Natur des Eises, so finden wir zwei unterscheidbare Arten desselben: weißes krystallinisches und farbloses durchsichtiges; das letztere ist das nämliche Eis, welches wir in Eiszapfen, gefrorenen Wasserläufen etc. zu sehen gewohnt sind; es bedeckt in der Höhle den Boden und bildet die Stalaktiten, die von der Decke hängen.
Das krystallinische Eis ist porcellanfarbig, durchscheinend, aber nicht durchsichtig. Zertrümmern wir dasselbe, so zerfällt es in kleine, meist sechskantige Prismen. Es läßt sich damit folgender hübsche Versuch anstellen: Man setzt einen Block der Wärme aus; unter dem Einfluß der letztern lösen sich die Prismen und bringt man dann eine färbende Fltissig-keit auf die Eisoberfläche, so dringt sie in die mikroskopischen Zwischenräume und macht die Primsen sichtbar.
Aus diesem krystallinischen Eis bestehen die Stalagmiten, Eishügel, welche von niedertropfendem Wasser, von Dunst und Wasserstaub entstanden sind. Dieselben sind perennirend: ich sah die nämlichen Exemplare im Frühling, Herbst und Winter; im Winter größer als im Sommer. Das durchsichtige Eis kommt und geht mit den Jahreszeiten; das krystallinische Eis wächst und nimmt ab; aber es verschwindet nur im Lauf der Jahre, wenn z.B. die Wasserader, welcher es die Entstehung verdankte, versiegt. Stalaktiten sah ich nur im Winter; von der Decke bis zum Boden reichende Eissäulen sah ich eine einzige, von geringen Dimensionen, im Januar.
Herbst und Winter zeigten folgende Verschiedenheiten in der Natur des Eises: Die Oberfläche des Eisbodens war im September feucht und narbig wie die Schale einer Orange, daher undurchsichtig; im Januar trocken, glatt, hart und wasserhell, so daß man ganz scharf den Boden darunter sehen konnte.
Die Menge fanden wir im Januar bedeutender als im September, die Stalagmiten größer, namentlich die Erhebung nördlich war im Januar zu einem stattlichen Berg durchsichtigen Eises angewachsen, der mit Hülfe von 12 Stufen erklommen wurde, um das auf seine Spitze tropfende Wasser aufzufangen. Der Zufluß war sehr gering: ïh Liter in 18 Minuten.
Im Herbst erinnere ich mich nur wenig eigentliche Eiszapfen gesehen zu haben; im Winter waren sie sehr zahlreich an der Decke und den Wänden.
Folgende Zusammenstellung ist nicht uninteressant:
21. Sept. 1884. 19. Jan. 1885.
Temperatur der Luft im Freien 15,32,7 ° ,,100™ vom Eingang 0,21,3des aus Spalten fließenden Wassers... V3,5° Hygrometer100 °/o 100 °/o Bei weiterem Vordringen gelangt man bald nahe der südlichen Wand zu der schönsten Eisbildung der Höhle, von welcher alle Besucher mit Entzücken sprechen. Es ist ein ausgehöhlter Stalagmit von ungefähr gleicher Größe wie der oben erwähnte. Seine Eiswände sind milchweier ist behangen mit zierlichen wasserhellen Eiszapfen. Durch eine natürliche Pforte kann man gebückt in sein Inneres gelangen, dessen Decke durch Eissäulen getragen wird; eine Bank von Eis läuft der Wand entlang. Feenhaft spiegeln sich die Lichter an den Wänden, Säulen und dem krystallenen Behänge. Dem Außenstehenden erscheint das erleuchtete Gebilde als eine transparente Por-cellangrotte. Der Eisboden im Innern ist hohl; schlägt man ihn durch, so kommt man auf lose liegende trockene Steine. Ph. Gösset zeichnete im Jahr 1864 einen ganz ähnlichen hohlen Stalagmiten, welcher nahe der nördlichen Wand stand und nicht mehr existirt; die Zeichnung* ist diesem Aufsatz ( pag. 321 ) beigefügt und kann ganz gut als Abbildung des hier beschriebenen dienen.
Als ferneres beachtenswertes Eisgebilde sahen wir einen Eiskessel, dessen Bild Gösset ebenfalls aufgenommen hat ( s. pag. 333 ). Derselbe war halb mit Wasser gefüllt, auf dessen Oberfläche sich eine Decke zarter, radial geordneter Eisnadeln befand. Gösset hält das Gebilde für ein Schmelzungsproduet; im Januar war der Kessel nicht nur ausgefüllt, sondern in einen Eishügel verwandelt. Der Vorgang läßt sich leicht damit erklären, daß im September das tropfende 311-2° wanne Wasser, unterstützt vom Einströmen warmer Luft, Eis wegschmelzen konnte, daß dagegen beim Einströmen kalter Luft im Winter das Tropfwasser zu Eis verdichtet wurde und den Eishügel aufbaute. Die radiale Eisdecke ist durch folgenden Proceß entstanden: Das Wasser erkältet sich, wenn die Tropfen von oben nur in großen Zwischenräumen fallen, im Zustand vollkommener Ruhe unter 0der erste folgende Tropfen erschüttert die Oberfläche und es erfolgt plötzliche Eisbildung in der schönen krystallinischen Anordnung, die wir sahen.
Wenige Schritte weiter steht man am Rande eines jähen Abfalls; der Boden senkt sich in so großer Steilheit, daß das Eis ungangbar wird; man blickt in einen finstern Schlund, in welchen das Eis wie ein Strom hinunterzugleiten scheint. Gleichzeitig macht die Höhle eine scharfe kurze Wendung nach Nordwesten; sie sinkt mit einem Gefäll von 32° um 16 m. Mitten in dem Eisstrom steht, wie der bekannte Felsen im Rheinfall, ein kleinerer Stalagmit. Frühere Besucher sahen denselben als Eissäule, welche den Sturz in zwei Hälften theilte.
G. F. Browne, welcher in seinem Werke „ Ice-caves in France and Switzerland " 13 Eishöhlen beschreibt, sagt, daß er nie einen Eissturz gesehen habe, so großartig, sanft und ruhig, wie diesen.
Ohne Pickel oder Seil sollte der Abstieg nicht versucht werden. Herr Regierungs-Statthalter Studer erzählt, daß im Jahr 1844 ein junger Fremder, welcher allein das Schafloch besuchte, durch Vernachlässigung von Sicherungsmaßregeln beinahe den Tod gefunden hätte. Er blieb zwei Tage und zwei Nächte hülflos im Innern liegen. Mit der Kraft der Verzweiflung konnte er sich dann nach den nächsten Alphütten hinunter schleppen und ein schmerzhaftes Krankenlager war die Folge.
Auch unser erster Abstieg im März war etwas abenteuerlich. Wir wußten nicht, wo der Weg hinunter ging; die Fackeln dienten mehr dazu, die Finsterniß recht greifbar zu machen, als sie zu zerstreuen, und unser Sigriswyler Führer wußte nicht Bescheid. Da erbot sich der jugendlich unerschrockene Papa Wyß zum Pionier. Wir ließen ihn am Seil hinunterrutschen. Die Neigung des Eises zog ihn nach der rechten Seite, wo er bald in der Krümmung der Höhle hinter der Felskante verschwand. Immer mehr Seil ließen wir durch die Hände gleiten und immer rief er „ Nachlassen !" Wir geriethen in Sorge, das brave Manilla möchte nicht ausreichen; endlich konnte er mit 24 m Boden fassen.
Den besten Weg zum Abstieg findet man, wenn man sich nach der linken Wand wendet; mit 8-10 gehackten Stufen erreicht man die Wand und einen Schuttkegel, auf welchem ein Pfad gefahrlos zur Tiefe führt.
General Dufour ( damals Oberstlieutenant ) besuchte am 5. September 1822 das Schafloch und veröffentlichte in der Bibl. universelle, Tome XXI, einen Bericht darüber. Er nahm die angegebene Richtung und sagt: Es braucht einigen Muth, um über diese geneigte Fläche hinunter zu rutschen; aber Militärs lassen sich davon nicht abschrecken. Nachdem er über den Absatz so gut als möglich ( d' aussi bonne grâce qu'il me fût possible ) hinunter gekommen war, kletterte er über Felsen vollends zur Tiefe.
Am Fuße des Eishanges ist man im Schlußstück, dem schönsten Theil des Schaflochs angelangt; 50 m lang, 20 m breit, 7 m hoch, erscheint es wie ein gewaltiger Saal, dessen Boden mit Eis bedeckt einen gefrornen See darstellt. An der nördlichen Wand sehen wir, wie Draperien, drei Eissäulen. Man hätte nur die Eisfläche von den herumliegenden Stücken angebrannten Holzes zu reinigen, um die schönste Schlittschuhbahn zu gewinnen.
Wir fanden im März auf der Eisfläche eine dünne Schicht Wasser, im September war das Eis nur feucht, im Januar war es trocken und mit dünnen Schlamm-spuren überzogen; es ist also zwischen September und Januar trübes Wasser hinuntergeflossen, welches sich verflüchtigt oder Abfluß gefunden hat. Bühler sagt, daß der Abfluß des Schaflochs an der Westseite der Ralligstöcke auf Bodmialp als Quelle zu Tage trete; auf welche Weise dies constatirt worden ist, weiß ich nicht. Im September war die Eisfläche etwa, 3 m länger als im Januar.
Beim Abschluß der Höhle hebt sich der Boden wieder um 5 m, die Decke senkt sich und die Felsen schließen sich zu einer breiten niedrigen Nische, in welcher man nur kauernd verweilen kann.
Das Thermometer, in dieser Nische 1 Bi* Stunden lang ausgesetzt, zeigte unter dem Einfluß der Erdwärme, 1,0°, das Hygrometer verharrte constant auf dem Maximum von 100%.
Die ganze Länge des Schaf lochs beträgt, horizontal gemessen, 206,8 m; seine tiefste Stelle, die Oberfläche des Eissee's, liegt 1752 m über Meer ( 37,8 m tiefer als die Mündung ). Die Länge des Eises ist 107,3 m.
Betrachtet man den Grundriß, so ist ersichtlich, daß sich die Höhle in fünf sehr deutlich geschiedene Unterabtheilungen zerlegen läßt:
1 ) Der Eingang, Richtung NW, Breite 14 m, Länge 17 m.
2 ) Die Vorhalle, vom Eingang bis zu der Einschnürung, der breiteste und höchste, helle und wasserfreie Theil, Richtung WSW, Breite 23,5 », Länge 44»1.
3 ) Der Stalagmitensaal, von der Verengerung bis zum Eissturz, das Revier der einfließenden Wasseradern und der Eis- und Stalagmitenbildung; im vor- 22 deren Theile noch dämmrig, im hintern Theil« finster. Riehtung vie oben, größte Breite 20 m, Länge 60 m.
4 ) Der Eissturz; er trennt die Höhle in zwei Stufen, Richtung NW, Breite 1212 m, Länge 29 ».
5 ) Der See; die Höhle nimmt hier wieder die großartigen Dimensionen der Vorhalle an, Breite 21 mt Länge 56 m, den Boden bedeckt ein erstarrter Wasserspiegel von 41 m Länge; Richtung wieder WSW.
Die atmosphärischen Verhältnisse sind in folgender Tabelle zusammengestellt:
2i. September Ì884.
Zeit.
Station.
Entfernung vom Eingang.
Temp.
Hygr.
Std. Min.
Meter.
C.
% 7. 45 Im Freien10,5 57,3 8. 55 Nr. I 14 5,6 96 10. n ^ 99 0,2 100 11. 15 r, IV 160 0,2 100 12. 40 Im Freien — 15,3?
1. 30 Nr. V 206 1,0 100 2. n 1V 160 0 100 3. 25 n n 99 0,1 97 4. n l 14 5,0 93 4. Im Freien — 13,3 Ì9.
Januar Ì885.
12. 40 Im Freien
2,7 48 1. 30 Nr. I 14 — 1,0 75 2. 46 V II 99 — 1,3 100 2. 20 71 206 4- 1,2 9 Das Schafloch.:i39 Acht Stunden lang hatten wir wacker gearbeitet, Abends 4 Uhr waren wir fertig. Nur die Vermessung des Eissturzes will ich als interessante Episode hervorheben. So steil und glatt das Terrain war, wollten die Ingenieurs doch auf der abgesteckten Linie bleiben. Gösset voran hieb mit mächtigen Streichen Stufen in den steilen Hang, Wyttenbach dirigirte die Arbeiter mit der Latte. Dichte Ströme gefrornen Hauches drangen aus dem Mund der angestrengt Arbeitenden und hüllten die Kolonne in eine Wolke von Dunst, durch welche mattroth die Signallichter und Laternen schimmerten, und in welcher die Figuren wie dunkle Schatten sich bewegten. Darüber die drohend niederhängende Felsdecke, welche hier nur noch 3 m vom Boden entfernt ist; der dröhnende Schall von Gossets Pickel, die niederrollenden und springenden Eisstücke, Wyttenbachs durch den Wiederhall der Wände verstärkte Commandoworte und hin und wieder ein unwilliger Ausruf, wenn Einer auszugleiten in Gefahr gerieth oder von einem Eisstück getroffen wurde. Alles dies bildete eine packende malerische Scene unterirdischen Schaffens.
Als wir die Höhle verließen, fanden wir, daß das Wetter umgeschlagen hatte; der Niederhorn-grat war in Nebel gehüllt. Da sahen wir, zurück- blickend, ein schönes Phänomen. Die weite Halle erschien plötzlich zu unserer großen Ueberraschung mit Dunst gefüllt, und während wir verwundert denselben betrachteten ., verdichtete er sich zu einem weißen, sehleierartigeu Wölklein, welches, vom leisen Luftzug geführt, in die freie Luft hinaussehwamm.
Diese Erscheinung ist auch bei den Eishöhlen des Jura beobachtet worden; die Landleute sagen, sie zeige sich, wenn das Eis schmelze.
Zum dritten Mal besuchte ich das Schafloch, wie schon erwähnt, am 19. Januar 1885, in Begleit von Ingenieur Wyttenbach und Wilhelm Brunner. Der Erstere beabsichtigte, die Dicke des den Boden deckenden Eises zu messen und sonst einige kleine Lücken in der Vermessung auszufüllen; ich wünschte, bei möglichst tiefer äußerer Temperatur die Luftverhältnisse der Höhle zu beobachten.
Die Reise war wegen der Masse pulverigen Schnees, welche im Justisthal und an der Berghalde lag und häufig bis zu einem Meter Tiefe hatte, eine sehr mühsame; wir sanken streckenweise bis zu den Hüften ein und hatten von Flühlaui aus 5 Stunden schwerer Arbeit. In Folge dieses Zeitverlustes konnte nicht alles Gewünschte vollbracht werden. Wir gruben beim Eissee auf 60om Tiefe in das Eis, ohne Grund finden zu können. Gösset kam bei einer Messung im Jahr 1876 mit 45cm auf Fels. Auch mein Zweck wurde nicht erreicht. Während die Berner Sternwarte ( 567 m ) an diesem Tage in dickem Nebel lag und Mittags 1 Uhr eine Temperatur von — 2,5 ° hatte, wandelten wir im reinsten Sonnenglanz und das Thermometer zeigte bei 1780 m Seehöhe im Schatten2,7 °. Die Luftströmungen der Höhle waren daher, wenn auch schwächer, die nämlichen, wie im September.
Dagegen konnten wir die hiervor mitgetheilten vergleichenden Beobachtungen über das Verhalten des Eises machen.
Ueber die Ursachen der Eisbildung in Höhlen sind eingehende Abhandlungen veröffentlicht worden; namhafte Gelehrte, wie de Pictet, Thury, Browne, Fugger, haben sich mit dem Problem befaßt. Es würde den Rahmen meines Aufsatzes allzu weit ausdehnen, wenn ich das, was mir über diese Forschungen zugänglich wurde, hier mittheilen wollte. Nur sei mir erlaubt, einige wenige auf das Schafloch bezügliche Momente hervorzuheben.
Seine Lage besitzt nach der Schätzung des fleißigen, nun leider verstorbenen, Meteorologen Pfarrer Krähenbühl in Beatenberg eine mittlere Jahrestemperatur von nur 2,5seine Mündung ist während eines großen Teils des Jahres von kalter Luft umflossen, welche, dem Gefäll der Höhle folgend, in die tiefsten Theile hinuntersinkt, wo sie sich wie in einem Reservoir lange erhalten kann.
Der aufgespeicherten Winterkälte tritt als permanent wirkender Gegner die höhere Temperatur des Erdinnern entgegen. Unser Thermometer zeigt uns dieselbe am Ende der Höhle in der Felsennische, welche wärmer ist als der ganze übrige Höhlenraum, und in dem durch Felsenritzen tropfenden Wasser mit seiner Temperatur von 3,5 °.
Diese beiden Faktoren regeln im Schafloch das Gleichgewicht zwischen Bildung und Vergehen des Eises. Je nach dem Witterungscharakter eines Sommers und Winters, je nach der kleineren oder größeren Wasser- und Kältezufuhr nimmt das Eis zu oder ab. Im Mittel bleibt seine Menge constant, wie auch das Temperaturmittel eines Ortes sich in langen Zeit- räumen gleich bleibt. Einen Beleg liiefnr finden wir in Dufour's Bericht, welcher sagt: Das Eis beginnt da, wo die Helle bemerkbar zu sein aufhört. Auch heute, nach 63 Jahren, könnte der Anfangspunkt des Eises nicht besser in Worten bezeichnet werden. Die öfter aufgestellte Behauptung, daß Eishöhlen im Winter weniger Eis enthalten als im Sommer, kann einmal zutreffen; Regel ist es nicht. Tm Jahre 1884 85 habe ich sie nicht bestätigt gefunden.
Nicht übersehen dürfen wir die an warmen Tagen einströmende warme Luft; ihre Wirkung wird paralysirt durch das niedertropfende, zerstäubende und theilweise verdunstende Wasser; die Luft sinkt abgekühlt zu Boden und verläßt wassergesättigt die Höhle; auch ist es wahrscheinlich, daß die selbst im Sommer kühlen Nächte an Kälte wieder zuführen, was der warme Tag geraubt hat. Der Kreislauf der Luft ist um so kräftiger, je größer die Temperaturdifferenz zwischen Außen und Innen; er ist am deutlichsten in dem im Verhältniß zum Innenraum engen Eingangsthor. Die Flamme der Kerze wurde dort ( bei 15° C. Differenz ) horizontal niedergelegt, 50 m vom Eingang gab das Licht noch Ausschlag, bei 70 m blieb es unbeweglich, aber die befeuchtete Haut spürte noch einen Hauch. Von 80 m an konnte keine Strömung mehr constatirt werden.
Zur genauen Feststellung aller Verhältnisse, welche hier influenziren, bedürfte es einer längern Reihe von Beobachtungen in kalter und warmer Jahreszeit, bei Tag und Nacht, was allerdings bei der Abgelegenheit und schweren Zugänglichkeit des Schafloches seine Schwierigkeit hat. Ein Maximum- und Minimumthermometer würde gute Dienste thun. Herzlich wünsche ich, daß meine Mittheilungen Andere zum Studium des so sehr interessanten Objectes und Veröffentlichung ihrer Beobachtungen veranlassen möehten.
Und wenn wir gerade am Wünschen sind, so will ich darauf hinweisen, daß sich vom Unterbergli aus mit wenig Müh'und Kosten ein gangbarer Weg zur Höhlenmündung erstellen ließe; würde dann noch im Innern durch Wegräumen von ein paar Blöcken und Ausfüllen von ein paar Löchern ein schmaler Gang zum Eis freigemacht, so verlöre der Besuch gewiß nicht an Reiz.
Von der Neuheit und Großartigkeit der Scenerie hingerissen, hatten wir am 21. September mehr nach Eisthttrmen ausgeschaut, als nach Felsbrocken, deren wir im Leben schon mehr gesehen hatten; dafür mußten wir büßen. Von den fünf Mann, die am Morgen thatendurstig ausgezogen waren, kehrten drei als Verwundete nach Sigriswyl zurück. Der eine hatte eine ernste Knieverletzung, der andere einen zerschnittenen Finger, der dritte ein blutig geschürftes Schienbein. Die Geister der Tiefe lassen sich nicht ungestraft ihre Geheimnisse entreißen.