Die Bevölkerung der Alpen | Club Alpin Suisse CAS
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Die Bevölkerung der Alpen

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Von X. Rütimeyer.

Die Schilderungen neuerer Alpenreisen, welche, kühner als je zuvor, auch vor den höchsten und dro-hendsten Felsgebäuden nicht zurückschrecken, sind noch mehr geeignet, unsere Vorstellungen von der gewaltigen Bedeutung dieses Gebirges zu erhöhen, als es früher die Poesie that in Zeiten, wo man an die Wagnisse der jetzigen Bergbesteigungen nicht dachte. Und doch belehrt uns schon ein Blick auf die Karte, wie sehr der kleinliche, immerhin nur unserer eigenen Grösse entnommene Massstab, den wir dabei zu Grunde legen, uns gewöhnt hat, diese Erhebung des Bodens zu überschätzen. Ein Anblick des Alpenlandes aus hoher Vogelperspektive würde dies noch anschaulicher machen.

Allein fast eben so lehrreich sind in dieser Beziehung, und zugänglicher, Eisenbahnreisen, welche in kurzer Zeit sehr ausgedehnte Profile an unseren Augen vor-überfuhren.

Ein Eilzug führte mich unlängst in kürzester Frist aus den horizontlosen Marschen Holland's, dieses jugendlichen, noch von keiner merklichen geologischen Veränderung betroffenen Wiesenmeeres, durch die Sandflächen und Dünen von Zevenaar und Emmerich — offenbar die alten Küsten jenes Meeres — hinauf an Köln vorbei nach Bonn, und rastlos weiter bis Basel. Drunten auf den von Wasserstrassen dicht durchzogenen Wiesenflächen vermehrte noch der nächtliche Nebel, vom Mondschein silbern durchleuchtet, den Eindruck der Grenzenlosigkeit der Ebene; von Wesel über Düsseldorf bis Köln liess das Grau der Morgendämmerung noch nichts von den Hügeln bemerken, welche hier aua dem Quell gebiet der Wesel und der Ruhr bis nahe an den Rhein herantreten. Erst über Köln brach ein vollkommen heller Herbsttag an, von jener durchsichtigen Klarheit, wie sie nur der Oktober bringt. Hier entdeckte das Auge auch zuerst, landaufwärts, am Horizont sanfte Wellenlinien, welche sich gegen den glänzenden Morgenhimmel immer schärfer und dunkler abhoben. Hinter ihnen ging bei Bonn die Sonne auf. Wie grüsst das Auge des Schweizers, auch wenn es nur kurze Zeit sa belebten Horizont entbehrte, die edlen, kühnen Formen, zu welchen bald darauf, in dem ewig schönen Rhein-durchschnitt bei Bingen, jene erst noch schwachen Länderwellen sich erhobenVon Frankfurt aufwärts durch Baden machen die Gebirge, die bei Darmstadt, Heidelberg und Karlsruhe an die Eisenbahn herantreten, auf den Reisenden keinen grösseren Eindruck,

als es der Taunus that; erst bei Freiburg lassen die in noch unmittelbarerer Nähe aufsteigenden Formen des Schwarzwaldes fühlen, dass man sich schon mehr als Mitte Weges zwischen Amsterdam und Genua befindet. Allein hier ist es auch, bald überhalb Freiburg, wo man gewahr wird, dass keine Fläche — denn im Waggon empfand man nicht, dass man von Amsterdam bis hierher schon 800 Fuss anstieg — die Nordsee vom Mittelmeere trennt. Aehnlich wie drunten bei Bonn eine ferne Wellenlinie die ersten Gebirge ankündigte, die dann so rasch und kräftig anwuchsen, so zeigt sich hier eine zweite solche Wellenlinie, die das Auge nicht minder überrascht, als dort; warum? ihre Umrisse sind ja kaum verschieden von denen, welche dort das Siebengebirge bot, und wir befinden uns ja schon mitten in Bergen. Allein jenes erste Profil war schwarz, dieses schimmert in glänzendem Weiss! und man braucht nicht Schweizer zu sein, um zu fühlen, dass hier ganz andere Majestäten als dort sich ankündigen.

Noch vernehmlicher drängt sich freilich der Eindruck, dass wir vor einer mächtigen Scheidewand stehen, die den Norden vom Süden Europa's trennt, bei einer Reise in umgekehrter Richtung auf, wenn wir aus den ebenfalls dem Meere kaum erst abgewonnenen Ebenen des Po nach Mailand reisen und das ferne Schneeband der Alpen ohne Zwischenstufen vor uns rasch wachsen sehen.

Fussreisen bringen solche Eindrücke nicht; allein wie häufig vergessen wir über unsern Klagen, wie schnöde uns die Eisenbahn die Detailschönheiten einer Gegend entziehe ,'dass sie uns dafür oft das früher entbehrte Bild des Reliefs von Ländern in grösserem und richtigerem Massstab bietet.

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So erseheinen denn auch selbst die Alpen bei richtiger Vergleichung mit dem Boden, auf dem sie stehen, als eine kleine Bergreihe; gewiss nicht hoch genug, um sie von Amsterdam aus zu sehen, selbst wenn keine Vorberge sich dazwischen drängten. In der That, was sind selbst Höhen von 14,000 Fuss im Verhältniss zu dieser Basis? Etwas mehr als eine halbe Meile, während Amsterdam und Genua um fast 10 Breitegrade auseinanderliegen. Die Höhe dieses Prisma's verhält sich also zu seiner Basis ungefähr wie 1: 300, und 4er Höhewinkel, wenn wir die Alpen in die Mitte legen, beträgt keinen halben Grad. Wie viel gewaltiger erscheinen bei solcher Abschätzung die Gegen-flissler unserer Alpen und, nach den schönen Schilderungen Haast's, ihre Rivalen an Erhabenheit, die Alpen von Neuseeland, die auf einer Basis von kaum zwei Breitegraden ihre umgletscherten Gipfel ebenfalls bis in Fmsteraarhornhöhe heben!

Eine solche Betrachtung ist geeignet, unsere Vorstellungen von der Wirkung der Alpen nicht nur als Wasserscheide zwischen Süd und Nord, sondern auch als Scheidemauer fur die lebenden Wesen, für Pflanze, Thier und Mensch, bedeutend zu mässigen, und in der That zeigen uns die Alpenstrassen, und noch mehr die Versuche, Eisenbahnen selbst über dieses Bollwerk zu führen, wie gering das mechanische Hinderniss dieser Landerhebung anzuschlagen ist; sie vermag keinen noch so schwer beweglichen Organismus an der Ueberschreitung zu bindern.

Und dennoch hat sich uns von Jugend auf die Ueberzeugung tief und mit vollkommenem Recht eingeprägt, dass die Aipenkette als Schranke in die Geschichte aller Organismen unsers kleinen Erdtheils mächtig eingreift.

Auch haben Bild und Dichtung, wenn sie unsere Phantasie von früh an mit Vorstellungen von so grosser Verschiedenheit der Vegetation und Thierwelt hier und drüben nährten, uns durchaus nicht getäuscht. Unsere erste Reise über einen Alpenpass stimmte zwar unsere Erwartungen in dieser Beziehung merklich herab, und uns erschien der Weg von der Höhe des Passes bis zu den ersehnten Orangenhainen noch reichlich lange genug. Allein später, als wir mit der Pflanzen- und Insektenwelt vertrauter geworden waren, gewann jene jugendliche Ueberzeugung von Neuem Kraft und erhielt namentlich nicht geringen Zuwachs durch die Lehren der Geschichte, welche uns zeigt, wie auch die Völker hüben und drüben sich fremd geblieben und wie selbst seit jenem gewaltigen Stoss, der eis- und transalpinische Nationen zuerst durchein-andermengte, doch bald wieder Sonnen- und Schattenseite der Alpen sich in Farbe, Sprache und Sitte der neuen Ansiedler abspiegelte.

Woran liegt denn, so fragen wir jetzt billig, diese grosse Scheidekraft des Alpenzuges, wenn seine Höhe und Schroffheit, das heisst das mechanische Moment, ganz wegfällt?

Wir können darüber nicht im Zweifel sein; wer je vom Dom von Mailand oder auch nur vom Münster in Strassburg aus die weissen Mauern im Sonnenglanze leuchten sah, dem sagte das innerste Gefühl: es ist die Farbe dieser Zinnen, welche Norden und Süden trennt; und Malerei und Poesie, Sage und Geschichte bestätigen einstimmig diesen Schluss, nicht nur für die Alpen, sondern auch für den Himalaya und jedes andere Schneegebirge.

Oder, noch richtiger ausgedrückt, die Temperatur, das heisst der Umstand, dass die Kante jenes noch so flachen Prisma's doch in Höhen steigt, die unter dem Thaupunkte des Eises stehen.

Jedes Schneegebirge, selbst in den Tropen, ist ein Nordpol, das Leben bannend und trennend hineingestellt selbst in die daran sonst reichsten Zonen.

Keine Lebewelt legt dies deutlicher vor Augen, als das Pflanzenreich. Mit der gleichen Schärfe, mit welcher in gemässigten Ciimaten der Winter die Zeit der Früchte von der Periode der neuen Blüthen trennt, so scheidet der auf den Alpen thronende Winter die Triften und Wälder, welche mit wunderbarer Ausdauer von beiden Seiten an das Gebirge aufklimmen. Nicht die Steilheit seiner Festungswälle lässt ihn stets Sieger bleiben; denn nicht nur kleine Kräuter, sondern selbst mächtige Tannen klettern ja auch an lothrechten Felswänden aufwärts; und wirft auch ein gut gezielter Steinwurf sie zurück, so steht bald eine neue in der Bresche. Allein mag auch die Wurzel noch so sehr ihre Schuldigkeit thun und stets neue Nahrung nach dem Wipfel senden, so sterben doch die Knospen und jungen Schosse von oben ab im Eishauch, der von der Höhe her-unterweht.

Dass die kalte Hand der Alpen es ist, welche so die Kinder der Ebene zurückweist, gibt Jedermann zu. Allein warum finden wir dann oben an geschützten Stellen, selbst Tausende von Fussen über den letzten und zähesten Kräutern der Ebene noch im Sommer die kräftigsten Rasenplätze mit jener glänzenden Blüthen-pracht, deren Anblick mitten in der sonst leblosen Einöde Auge und Herz so sehr erquickt? Jedes Auge erkennt indessen, dass dies nicht etwa siegreichere Haufen aus jenem thalgebornen Volke sind; ganze Schaaren dieser Fremdlinge wandern ja alljährlich in den Albums der Touristen zurück in die Salons der entferntesten Länder, um dort, eine Art von eleganter Menagerie, unzweideutiges Zeugniss abzulegen von dem Muth, mit welchem die Eroberer in eine neue Welt vorgedrungen.

Dies ist auch das Wort; der Ruhm gehört ihnen wirklich. Auch der Botaniker erkennt in den Alpen eine neue Welt von Organismen, welche dort oben angesiedelt ist und von da ihr Gebiet nach der Tiefe auszudehnen sucht; also in umgekehrter Richtung, allein meistens nicht mit grösserem Erfolg, als die Pflanzenwelt der Thäler. Unwillkürlich reisen zwar viele Alpenpflanzen thalwärts, von jenen Strömen wandernder Gesteine mitgerissen, welche unaufhörlich von den Alpengipfeln nach den Meeren fliessen. Längs aller Alpenflüsse stehen auf den Delta's und Schuttkegeln von Seen oder Nebenflüssen, wo die Geschiebe gelegentlich Halt machen, solche unfreiwillige Auswanderer aus der Alpenflora, als Fremdlinge aus einem andern Lande; auch halten sie sich selten lange, sei es, dass sie in dem ungewohnten Klima dahinsiechen oder sich verändern; allein neue Ankömmlinge halten die Colonie doch stets aufrecht; die Geröllbänke des Rheins unterhalb Basel, bei Neudorf, Istein und selbst viel weiter hinab, sind Jahr für Jahr an Alpenpflanzen gleich ergiebig.

So treten in den Alpen zwei Floren in gegenseitige Berührung, welche einander fremd sind, weit fremder, als selbst diejenigen der beiden Küsten des Mittelmeeres; auch ohne Uebergang, denn wir sehen nicht etwa die Pflanzenwelt sich thalaufwärts allmälig verändern, so dass diese Formen zurückbleiben, jene weiter dringen und oben Fuss fassen; nein, es sind zwei verschiedene Nationen, welche ihre Grenzen sich streitig machen.

Die eine ist thalgeboren, die andere hochgeboren im vollen Sinne des Wortes, ein Bergvolk von Blumen, gereift auf einer andern Flur, in einem andern Sonnenlichte.

Ob auch in einer glücklicheren Natur? Doch kaum; jene Eisregionen können nicht Heimath dieser Kinder aus der Fremde sein.

Und doch konnte man kaum daran zweifeln, als Wahlenberg zuerst aufmerksam machte, dass sich dieselbe Flora in den dem Alpenklima entsprechenden Breite-Isothermen wiederfindet, auf den Gebirgen von Skandinavien, von Grönland, an den Ufern von Lappland und Sibirien. Die neueren Nordpolfahrer, welche bedeutend weiter vordrangen, bestätigten die Angaben Wahlenberg's vollkommen. Besitzt doch selbst die Melville-Insel zwischen 70 und 80° nördl. Breite noch eine kleine Flora, deren Repräsentanten grossentheils auch auf unseren Alpen in Höhen von 9000'und 10,000'leben. Unter 80 Pflanzen, welche Kane zwischen dem 64. und 73. Grad nördl. Breite sammelte, ist die Hälfte auch auf unsern Schweizeralpen heimisch; ebenso die Hälfte derjenigen, welche Kane noch zwischen dem 73. und 80. Grad fand. Allein nicht nur die Alpen beherbergen diese hochnordische Pflanzenwelt, sondern auch die höheren Gebirge von Norddeutschland, von Schottland und Britannien; ja Alpenpflanzen finden sich noch auf den Pyrenäen und den Apenninen, selbst auf der Sierra Nevada und den griechischen Gebirgen. Und eine Anzahl der gleichen Arten taucht nach weit längerer Unterbrechung von Neuem an der Magellans- Stras se und auf den Falklandsinseln auf.

Zwei unter sich verschiedene Floren liegen so über- einander;

diejenige des heutigen Tieflandes und eine andere, welche am Pol ebenfalls den Boden, oder richtiger die Meeresfläche berührt, allein voa da an, als ob auf Brücken der Atmosphäre grosse Strecken Landes überspringend, erst wieder an jenen Berggipfeln Fuss fasst, welche in gleiches Klima der Atmosphäre hinaufragen, wie es das Tiefland des Polarkreises bietet. An unseren Bergen ist somit eine höhere Flora derjenigen der Ebene gleichsam aufgepfropft. Man möchte meinen, dass die Vegetation des Tieflandes, unter der älteren Pflanzendecke der Alpen emporspros-send, jene bei weiterem Wachsthum in die Höhe gehoben und auf den Alpen liegen gelassen hätte, ähnlich wie im Frühling die aus der Erde sprossende neue Vegetation die welke Blätterschicht des vorigen Jahres mit sich aufhebt und dann an Gesträuchen und Steinen etwa hängen lässt.

Diese Vergleichung scheint auch nicht nur Bild zu sein, sondern die richtige Erklärung der geschilderten Erscheinung. Der Zusammenhang der zerrissen in der Höhe schwebenden, in wärmeren Klimaten nur die Berggipfel überziehenden Polar- und Alpenflora ist durch die heutzutage wirksamen Mittel der Pflanzenverbreitung vollkommen unerklärbar; denn Fälle, dass Pflanzen, selbst nur in der leicht transportabeln Form von Samen, so weite Räume eines für sie unbewohnbaren Gebietes überspringen, wie zwischen Skandinavien und England, oder zwischen den schlesischen Gebirgen und den Alpen inneliegt, sind heute ausserordentlich selten.

Ueberdies haben wir ja in unsern naturhistorischen Museen die Belege in Händen, dass die Erde nicht nur in jährlichen Perioden, d.h. der gegenwärtigen Vertheilung der Wärme entsprechend, eine neue Knospen- oder für einjährige Gewächse wirklich eine neue Pflanzenwelt gebiert, sondern dass sie in grösseren Zeitabschnitten auch Pflanzengenerationen von längerer Dauer erzeugt.

So wie wir in der Dammerde eines Laubwaldes in Form von über einander liegenden Moderschichten die Blattfalle früherer Jahre, wie Jahresringe von einem Baumstamm, abheben können, so liegen ja auch in gleicher Folge unter der jetzigen Pflanzenwelt eine ältere und noch ältere, nicht nur aus abgestorbenen Individuen bestehend, sondern aus Arten und Geschlechtern, welche häuflg für unsern Erdtheil längst fremd geworden sind. Die Reste von Palmen- und Lorbeerwäldern in den grauen Sandsteinen der mittleren Schweiz, die Farn-krautwälder in den Steinkohlengebirgen sind nur bekanntere Glieder aus einer langen Folge solcher vege-tabilischer Jahresringe der Erde.

Edward Forbes machte zuerst aufmerksam, dass das Vorkommen der gleichen Pflanzen an so verschiedenen Orten auf eine frühere directere oder leichtere Verbindung der letzteren hinweise, und sprach die Vermuthung aus, der die bedeutendsten Pflanzengeographen unserer Zeit beistimmten, es möchte die den Polargegenden und dem Archipel der europäischen Berggipfel gemeinschaftlich angehörige Flora aus jener alten Epoche herstammen, als England noch mit Frankreich zusammenhing, als die Föhrenwälder noch lebten, welche man an den Küsten der Normandie und von England noch unter den jüngsten Meeresablagerungen findet, und als auch das baltische Meer eine directe Verbindung zwischen Skandinavien und den Alpen herstellte, eine Meeresbrücke, auf welcher Flösse von Eis mit Steinblöcken auch Pflanzen von einem Ufer zum andern fuhren konnten, in einer Weise, wie dies noch jetzt zwischen Grönland und Skandinavien, und, eine Art von Miniaturerinnerung, auch auf manchen Alpenseen geschieht, welche den Fuss von Gletschern bespülen.

Einen nicht unbedeutsamen Wink, dass dergestalt die Vegetation der Alpen einst in der sogenannten Eisperiode, deren Spuren so massenhaft über einen grossen Theil Europa's ausgebreitet sind, in viel directerer Berührung mit der Vegetation des hohen Nordens stand, als jetzt, möchte übrigens in unseren Gegenden auch die Thatsache geben, dass ausser den Geschiebbänken der Flüsse noch eine andere Kategorie von Standorten besteht, wo Alpenpflanzen in den Niederungen sich vorfinden, nämlich die Torfmoore. Hieher können Alpenpflanzen nicht durch heutige Flüsse transportirt sein; hingegen scheinen dies alte Colonien jener Polarflora zu sein, welche stehen blieben, als die Gletscher sich aus den Thälern der Ebene zurückzogen. Fast alle diese Torfmoore sind nämlich an ihrem Ablauf von alten Moränen umsäumt, welche bei dem Rückzug der Gletscher zurückgeblieben waren. In solchen Fällen mussten sich die Schmelzwasser des Gletschers hinter den Moränen ansammeln und legten so den Grund für die spätere Sumpfvegetation, welche indess häufig noch eine Portion der früheren, allein seither mit dem Eis nach den Alpen zurückgewichenen Flora beibehielt.

Erscheint so die Alpenflora auch nicht gerade als ein Kind aus einer glücklicheren Natur, so lässt doch eine Anzahl von Thatsachen sie betrachten als eine Vegetation aus alter, uns fremder Zeit, die einst wahrscheinlich über einen weit grösseren Theil unsers Erdtheils ausgebreitet war, allein jetzt nur noch eine Insel-flora bildet auf all' den Berghöhen, welche in ein arktisches Klima hinaufragen; und wir dürfen wohl an- nehmen, dass sie zu dieser Höhe anstieg in Folge der langsamen Erhebung, welche überhaupt den früheren Archipel der europäischen Gebirge allmälig in zusammenhängendes Festland verwandelte, das sich dann, obwohl nur sehr theilweise, von oben herab bevölkerte, weit reichlicher dagegen von unten her durch Einwanderung neuer Pflanzen von benachbarten Continenten.

Eine solche Erklärung der Verschiedenheit zwischen der Vegetation der Alpen und derjenigen des Tieflandes fordert unwillkürlich zu der Frage auf, ob auch die Thierwelt Belege für eine solche Ansicht biete.

Der Gang der Untersuchung ist für diesen Theil der Frage derselbe wie für die Pflanzenwelt. Besitzen die Alpen eine ihnen eigenthümlich zukommende Thierwelt?

Nur zu einem sehr kleinen Theil. Denn wenn wir vorerst, wie billig, von jenen Thieren absehen, welche unsern Welttheil, wenn auch oft mit grossen Unterbrechungen, von seinem Nordrand bis zum Südrand bewohnen, wie der Bär, der Wolf, der Luchs, der Fuchs, die Katze, der Dachs, die Otter, die meisten Marder-arten, fast alle Nager, so kann man als eigentliche Alpenthiere höchstens die Gemse und den Steinbock namhaft machen, dann das Murmelthier, den Alpenhasen und ein paar Mäusearten. Die grossen Raubthiere, welche einzelnen Thälern der gebirgigen Schweiz ein so romantisches Gepräge geben, gehören offenbar den Alpen nicht als solchen an. Die Unzugänglichkeit mancher Schlachten, die lange Dauer des Winters, die Spärlichkeit der menschlichen Bevölkerung, alles dies erlaubte ihnen nur, sich hier länger als anderswo der Ausrottung zu entziehen, und ähnlich verhält es sich in den übrigen Gebirgen Europa's, wo solche Thiere noch zu Hause sind.

Sind nun etwa Gemse und Steinbock, Murmelthier und Alpenhase auch Bewohner des hohen Nordens? Nur der letzte, nicht aber die andern; die ausseralpi-schen Gebirge, in welchen sie noch vorkommen, sind die Karpathen, die Pyrenäen, selbst die Berge Griechen-land's. Und eben so vermissen wir in den Alpen, mit einziger Ausnahme des Schneehasen, eine Menge charakteristischer Thiere des Nordens, wie das Rennthier, den Bisamochsen, den Vielfrass, den Polarfuchs, den Lemming.

Das Resultat scheint also dem von der Pflanzenwelt entnommenen fast entgegengesetzt zu sein. Allein wir haben dabei einen grossen Factor der Thierverbrei-tung ausser Auge gelassen, welcher der Untersuchung eine andere Wendung gibt. Wir müssen erwägen, dass die Thiere wandern können. Und fragen wir, ob nicht etwa in früheren Zeiten die Rennthiere des Nordens, die Gemse und das Murmelthier der Alpen einer gemeinschaftlichen und ausgedehnteren Fauna angehörten, so stossen wir auf Thatsachen, welche allerdings den von der Pflanzenwelt gelieferten sehr ähnlich sind.

An denselben Stellen, wo wir Alpenpflanzen nicht nur verschleppt, sondern noch einheimisch in der Ebene antrafen, in den Torfmooren, diesen letzten Ueberresten der Eisperiode, liegen die Ueberbleibsel einer Thier-sehöpfung, welche von der heutigen in vielen Beziehungen abweicht. Der Urochs, der Wisent, das Elenthier, der Edelhirsch, der Biber, das Wildschwein finden sich dort reichlich, alles Thiere, die zum Theil fast ausgestorben, zum Theil nach Norden verdrängt sind; daneben auch die Gemse und der Steinbock; ihre Knochen sind zwar durch Menschenhand hier zusammengehäuft, allein sie sind ohne allen Zweifel nicht alle aus der Ferne, sondern aus der Umgebung ihrer jetzigen Fundstätte geholt.

Und graben wir noch tiefer in die Geröllschichten, auf welchen diese Torflager aufliegen, so stossen wir sogar auf die Knochen von Murmelthier und Rennthier, und zwar nicht nur in der Schweiz, sondern auch in England, in Frankreich, bis an die Pyrenäen; ja selbst Ueberreste des Moschus-Ochsen, der heutzutage auf einen kleinen Bezirk der nordamerikanischen Polarwelt eingeschränkt ist, sind sehr entfernt von ihrem jetzigen Wohnort, in England und im mittleren Deutschland, gefunden worden. An letzterem Orte fehlt auch nicht der Lemming des heutigen Skandinaviens.

In ganz ähnlichen Geröllablagerungen, welche nur schwer von denen unterschieden werden können, welche die oben genannten Polarthiere enthalten, stösst man dann auf die Ueberreste jener über ganz Europa verbreiteten Geschöpfe, welche uns in eine diesem Erd~ theil nun fremd gewordene Thierwelt zu versetzen seheinen, nämlich der Mammuth und das Nashorn. Au » dem Dasein dieser letztern hat man daher wohl sehr unrichtig auf eine von der jetzigen vollkommen verschiedene Bevölkerung Europa's zu jener Zeit geschlossen, denn es ist keinem Zweifel mehr unterworfen, dass sie schon mit manchen noch heute lebenden Bewohnern Europa's ihren alten Wohnsitz theilten, so mit dem Edelhirsch, dem Biber, dem Dachs und manchen andern.

In dem eigentlichen Gebiet des Alpenzuges scheinen nun leider Knochenreste, dieses werthvolle Material, das in unserer Frage in erster Linie zu berathen ist, fast ganz zu fehlen.

Es ist dies auch zum Theil erklärlich in einem Gebiet, dessen Thäler und Schluchten durch Gletscher so gründlich ausgefurcht worden sind. Ich kenne in den Alpen nur zwei Stellen, wo bisher solche Knochen gefunden worden sind, immerhin ein Wink, dass ferneres Nachforschen nicht überflüssig ist. Die eine ist die in letzter Zeit sehr bekannt gewordene Bärenhöhle auf Fronalp, in welcher 6 vollständige Gerippe von Alpenbären bei einander lagen; eine andere Höhle, am Wildkirchli in Appenzell, enthielt neben Gemsenknochen auch solche des längst ausgestorbenen Höhlenbärs, ein Umstand, der ein sehr hohes Alter der Gemse wahrscheinlich macht 5 denn man hat Grund zu glauben, dass der Höhlenbär in Europa grossentheils verschwunden war, bevor das Rennthier, ja an manchen Orten vielleicht noch bevor der Mammuth-Elephant sich über diesen Continent verbreitet hatte. In Höhlen des Jura fanden sich dann das Rennthier und das Elenthier.

Nachforschungen der Art, genaue Durchsuchung des Bodens in Höhlen und Mittheilung aller etwaigen Notizen über Knochenreste in den Alpen können daher unsern Alpenreisenden nicht genug empfohlen werden.

Das Bild, das wir uns von der Beziehung der Thierwelt unserer Alpen zu derjenigen der Ebene machen müssen, ist demnach in einem Punkte wesentlich verschieden von demjenigen, welches die Pflanzenwelt darbot \ die Alpenfauna bildet nicht etwa eine durch Hebung des Festlandes nur emporgehobene und auf Berginseln isolirte selbständige Thierbevölkerung. Auch war dies ja bei der Beweglichkeit der Thiere nicht zu erwarten. Allein in einem andern Punkte stimmen die Ergebnisse auf den »beiden Gebieten überein. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass unsere Alpenthiere in früherer Zeit eine weit grössere Verbreitung hatten und dass sie innerhalb unserer Grenzen mit nordischen Thieren zusammenlebten.

Auch dürfen wir wohl vermuthen, dass die Rennthiere, deren Ueberreste im Aargau und im Kanton Zürich, bei Genf, und die Murmelthiere, die man in der Umgebung von Bern an verschiedenen Stellen ausgrub, sich nicht von den jetzt dort lebenden Pflanzen nährten, sondern von den Alpenpflanzen, welche damals noch nicht auf kleine Colonien der Torfmoore beschränkt waren.

Noch wichtigeren Aufschluss als von den so wenig an einen festen Wohnort gebundenen Säugethieren dürften wir in unserer Frage von der niedrigen und schwerer beweglichen Thierwelt unseres Landes erwarten. Es ist leicht möglich, dass die Beziehungen zwischen den Arten der Insekten und noch mehr der Schnecken unserer Alpen und des Tieflandes zu ähnlichen Schlüssen führen möchten, wie die Pflanzenwelt. Leider kann ich hierüber keine Angaben machen; doch wird es nicht ohne Interesse sein, zu vernehmen, dass unter den Schmetterlingen, diesen beweglichsten der niedrigen Thiere, viele Arten, die sonst den Alpen eigenthümlich sind, sich auf den Torfmooren der Ebene wiederfinden. Ob man dies, wie es geschehen ist, bloss ähnlichen Feuehtigkeitsverhältnissen zuzuschreiben hat, scheint fraglich, wenn wir hören, dass von denselben Schmetterlingen der Alpen und Schneeregion ein starker Antheil gleichzeitig in Finnland und Lappland lebt.

Die unzweideutigste Auskunft über einen früheren Zusammenhang der Thierwelt der Alpen und des Nordens würden aber jedenfalls die auf sehr kleine und abgeschlossene Bezirke beschränkten Bewohner der Alpenseen geben, wie die kleinen Krebse und Wasserschnecken.

Doch ist man noch weit entfernt, diese kleinen Thiere an dem einen oder dem andern Orte genau zu kennen.

Der Versuch, die frühere Erklärung der Eigenthümlichkeit der Alpenflora auch auf die Thierwelt anzuwenden, wird manchem Leser verfehlt erscheinen, da er gerade für die wichtigste, d.h. die stabilste, un-beweglichste Gruppe von Thieren unterbleiben musste, und auch für die frühere Geschichte der höheren Alpenthiere nicht sehr viele Angaben vorliegen; allein man wird uns zugeben, dass gerade diese wenigen Thatsachen, das Zusammentreffen von Gemse und Höhlenbär in unsern Alpen, von Rennthier und Murmelthier in unsern Ebenen in Epochen, die wahrscheinlich nahe bei einander liegen, schon mancherlei versprechen. Und kehren wir zu den Stellen zurück, welche bisher über die Geschichte unserer Thierwelt den reichsten Aufschluss geben, zu den Torfmooren, um zu fragen, was aus den daselbst gefundenen Geschöpfen heute geworden ist, so erhalten wir auch von daher noch manchen nicht werthlosen Wink.

Neben dem noch heutzutage in einem guten Theil des mittleren Europa einheimischen Wild und neben dem nirgends mehr in unabhängigem Zustand lebenden Urochsen sind es besonders zwei grosse Thiere, deren Anblick uns heute befremdlich ist: das Eien und der Auerochs, den wir vom Urochs wohl unterscheiden müssen und daher lieber Bison oder Wisent nennen.

Elenthierknochen fehlten in keinem der zahlreichen Torfmoore, die bisher untersucht worden sind; in einer Höhle des Traversthaies fand man sogar in jüngster Zeit eine ganze Anzahl vollständiger Skelette.Vom Bison, jenem mächtigen Thiere, das noch die Waldungen Litthauen's bewohnt, lagen in dem einzigen Torfmoor von Robenhausen im Kanton Zürich auf einem Raum von geringem Umfang Ueberreste von mehr als einem Dutzend Individuen beisammen.

Beide Thiere haben sich bekanntlich nach dem Norden zurückgezogen; sie folgten also dem Rennthier und dem Moschus-Ochsen, und wir dürfen kaum zweifeln, dass auch diesem in noch früherer Zeit das behaarte Mammuth und das mit Wolle bedeckte europäische Nashorn in derselben Richtung vorausgegangen waren.

Allein neben jenen wilden finden sich in den Torfmooren auch gezähmte Thiere, wie der Hund, das Schaf, das Rind, die Ziege, das Schwein. Es ist bekannt genug, dass die Thierwelt der Torfmoore bereits die Hand des Menschen schwer auf sich fühlte. Er war es ja, der von seinen auf Pfählen stehenden Hütten aus die Umgebung beherrschte und der jene Knochen aümälig anhäufte. Dass nun seither seine Hausthiere nicht erloschen sind, ist begreiflich; allein es ist von nicht geringem Interesse, dass diese Thiere heute in dem am wenigsten veränderten Zustande nicht etwa im Besitze des Bewohners dieser selben Gegenden gefunden werden; nein, dort sind sie seither grössten Theils durch neue Arten oder neue Racen ersetzt worden; sondern wir finden sie theilweise unverändert in den Alpen wieder, vornehmlich in Graubünden, also an derselben Zufluchtsstätte, wohin einst früher die nordische Vegetation sich zurückgezogen hatte und wo noch heute ein Theil der grösseren Raubthiere festen Fuss behalten hat.

Auch nach dieser Seite dürfen wir daher die jetzige Bevölkerung der AJpen als die einstigen Inhaber des ganzen Landes ansehen.

Immer waren hier die polaren Höhenregionen, dort die polaren Breitenzonen das letzte Bollwerk der flüchtigen Generationen von Geschöpfen; der Steinbock hier, der Moschusochs dort scheinen der Grenze ihrer Flucht, und hiermit dem sicheren Schicksal, welches früher das Mammuth und das Nashorn ereilte, nicht mehr fern zu sein.

Eine spätere Periode wird dasselbe vom Elenthier und vom Wisent sagen können, während der Urochs und einige verwandte Arten aus dem Geschlecht der Rinder, so wie das Rennthier, die sich unter die Hand des Menschen beugten, den letztern für ihre Forterhal-tung in vollstem Masse verbindlich gemacht haben, denn sie sind es, welche vom Pol bis zum Aequator ihn grösstenteils ernähren.

Das Zusammentreffen mit Hausthieren führt uns unwillkürlich weiter zu dem Menschen, dessen Geschieht© und etwaige Herkunft uns noch näher interessiren muss, als diejenige von Thier und Pflanze.

Ein jeder derartige Versuch musste noch vor wenigen Jahren als ein Verstoss gegen die sogenannte wissenschaftliche Ueberzeugung gelten, dass der Mensch keine andere als seine histçrische und mythische Vergangenheit hinter sich habe, allein keine geologische; man glaubte die Belege in den Händen zu haben, dass er noch keine der geologischen Veränderungen überlebt habe, welchen man so lange die Zerstörung ausgestorbener Thierarten zuschrieb; ja die Meisten gingen gleich weiter und schmeichelten sich mit der Hoffnung, dass er keiner solchen Katastrophe je anders ausgesetzt sein werde, als unter der Bedingung, dass dann gleich die ganze Erde, die ja nur um des Menschen willen da sei, mit ihm zugleich zu Grande gehen würde.

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Man stützte diese sogenannte Ueberzeugung weniger auf den in letzter Zeit viel citirten Ausspruch Cuvier's, dass Alles, was man zu seiner Zeit von fossilen Men-schenresten kannte, doch keiner andern als der gegenwärtigen Epoche der Erde angehöre, als auf die Besorgniss, mit den ältesten Aufzeichnungen des Menschen selbst in Widerspruch zu fallen. Allein auch Cuvier sprach nur aus, dass nach den ihm bekannten Thatsachen der Mensch nicht gleichzeitig mit den ausgestorbenen Thieren in den von diesen bewohnten Gegenden lebte; er gab auch ausdrücklich die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit zu, dass er zu gleicher Zeit mit jenen Thieren andere, uns noch unbekannte Gegenden der Erde bewohnte und von da aus dann nach dem Verschwinden jener Thiere deren Wohnsitz einnahm.

Allein auch seit jener Erklärung Cuvier's hat sich in unserer Kenntniss von der Geschichte des Menschen manches geändert. Es gibt kaum eine wissenschaftliche Streitfrage, auf welche sich passender, als auf diese, der Ausspruch von Agassiz anwenden lässt, dass wir allemal, wenn eine neue und überraschende Thatsache wissenschaftlich constatirt worden, erst zu sagen pflegen: das ist nicht wahr, dann: es ist gegen die Religion, und bald darauf: das haben wir ja längst gewusst.

In diesem speciellen Punkte lag der Grund des plötzlichen Umschwunges der Dinge offenbar darin, dass man früher stets nach den directen Ueberresten des Menschen suchte und nur diese verlangte, um den Beweis seines früheren Daseins herzustellen, indess man die weit dauerhafteren Spuren, welche er in den Erzeugnissen seiner Industrie allerdings reichlich in relativ sehr alten Geröllbänken neben den Resten ausgestorbener Thiere, oder auf dem Boden der Gewässer, die seine Bevölkerung d. Alpen.887

Hütten trugen* zurückgelassen hatte, als Naturspiel ansah; wenigstens insofern, als es hiess, sie seien durch Zufall an die Stellen gelangt, wo wir sie heute finden. So mussten wir, die wir über das Mittelalter lachen, das die thierischen Versteinerungen als Naturspiele deutete, bei der Entdeckung der Versteinerungen unserer eigenen alten Kunst gerade in den gleichen Fehler fallen.

Heutzutage kann es als ausgemacht gelten, dass der Mensch in einem grossen Theil von Europa nicht nur mit dem Bison und Elenthier, mit dem starken Ure und dem grimmen Scheich zusammenlebte, welcher die Dichtung sich ja noch wohl erinnert, sondern auch mit dem weit altern Mammuth und dem Nashorn, so wie mit gleichfalls ausgestorbenen Arten grosser Bären, Hyänen und Tiger, meistens Thiere, welche der Heldenthaten eines Hercules noch würdiger waren, als der nemäische Löwe und das erymanthische Schwein, von deren einstiger Verbreitung in Griechenland wir ja ganz directe Kunde haben. Auch die Belege, dass der Mensch selbst jene früher genannten, uns weit mehr fabelhaften Thiere besiegte, fehlen keineswegs; sie liegen in der Thatsache, dass ihre Knochen weit häufiger Spuren von den Zähnen oder doch vom Messer des Menschen an sich tragen, als etwa Menschenknochen die Spuren von Hyänenaähnen. Und wäre es auch wohl sehr unklug, hieraus wirklich auf Einzelsiege nach Hercules-Art zu schliessen, so liegt doch in solchen Thatsachen der Beweis, dass schon damals, wenn nicht der Arm, so doch die List des Menschen die stärksten Thiere zu besiegen wusste.

In der Schweiz sind Ueberreste von Menschen aus so ferner Zeit bisher nicht aufgefunden worden, und ich denke ,'dass wir dies wieder grossentheils dem schon erwähnten Umstand zuzuschreiben haben ., dass gerade unser Land in jener Zeit wahrscheinlich noch der bedeutendste Schauplatz jener grossen Naturerscheinung war, welche wir unter dem Titel der Eisperiode kennen und welche vor der Hand wohl als Titelblatt in die Chronik lies europäischen Menschen gehört.

Denn wenn auch wohl viele Kämme und Plateaux unserer Alpen niemals von Gletschern überfluthet wurden, so dürfen wir an solchen Stellen doch Menschenreste aus jenen Zeiten nicht leichtlich erwarten.

Um so reichlicher entfaltet sich das menschliche Leben nach dem Abfluss der Gletscher an den von ihnen hinterlassenen Sümpfen und seichten Seen. Ist doch hier fast durch die Arbeit eines einzigen Forschers, von Dr. Ferdinand Keller, in einem Zeitraum von 10 Jahren eine der Historie vollkommen fremd gebliebene Periode der menschlichen Geschichte aufgedeckt worden, über deren Cultur und Sitte nun schon mehr Details vorliegen, als über den Anfang von Athen und Rom.

Hier, in den Pfahlbauten, beginnt somit einstweilen unsere Kenntniss von der Bevölkerung der Schweiz, und es lässt sich schon jetzt mit voller Bestimmtheit sagen, dass von diesem Zeitpunkt an der Raum zwischen Alpen und Jura ohne Unterbrechung bis heute Schauplatz und Tummelplatz von Völkern war, mit allen Scenen, welche die Geschichte des Menschen begleiten, wie Zerstörung, Krieg und Fehde, das Erbthum seiner thierischen Natur, allein auch Sitte und Cultur des Geistes, die Früchte seiner höheren Aufgabe, auch der Verbesserung seines besseren Theiles eingedenk lu sein.

Der Anfangspunkt der menschlichen Geschichte ist hierdurch zwar um einen bedeutenden Betrag hinauf- gerückt worden.

Allein wir sind nicht im Stande, diesen Punkt mit den jetzt üblichen Zeitmassen auch nur annähernd zu bestimmen. Die Schichten von Torfr von Gerollen, von Wasser, welche zwischen diesen reichen » Spuren menschlicher Cultur und den Fundamenten der späteren solideren Wohnsitze inne liegen, in welchen der Mensch anfing, sein Tagebuch selbst zu führen, entsprechen Zeiträumen, welche sich noch nicht mit den Ziffern messen lassen, die wir für unsere heutigen Annalen brauchen. Einstweilen können wir den Anfangstermin und die Dauer der Pfahlbauten nur noch durch Parallelen aus der Geschichte der Erde oder der Thiere und Pflanzen bestimmen. Allein wenn auch hierdurch das Format dieser alten Chronik noch grösser ausfällt, als für die Anfänge der bisher ausschliesslich so genannten historischen Periode, so ist es doch wichtig, dieser relativen Zeitbestimmung die möglichste Genauigkeit zu widmen.

Hier lässt sich nun vorerst sagen, dass der Anfang der Pfahlbauten theils vor, theils in ,die erste Zeit der Torfbildung in unseren Gletschermooren fällt, denn die ältesten Ueberbleibsel jener Colonien liegen entweder unter dem Torf, unmittelbar auf der Schicht. von Mu-schel- und Schneckenschalen, welche den einstigen Seeboden bildete; oder sie sind schon von den tiefsten Lagern des Torfs umhüllt. Da nun solche Wassërthiere sich in grösserer Anzahl kaum unmittelbar nach dem Rückzuge der Gletscher ansiedelten, oder doch zu ihrer so massenhaften Anhäufung, wie wir sie in jenen Seen finden, eine geraume Zeit nöthig war, so mag allerdings schon ein erheblicher Zeitraum zwischen dem Rückzug der Gletscher und den ersten Ansiedelungen des Menschen inne liegen. Eine Vergleichung des Bodens un-.

serer Alpen- und Gletscherseen mit dem Untergrund der Pfahlbauten könnte manches Licht auf diese Frage werfen.

Zweitens war damals das Land noch voll von wilden Thieren, unter welchen neben vielen noch heute häufigen der Hirsch und das Wildschwein, und dann etwa noch der Biber die bedeutendste Rolle einnahmen, Allein wir sagten schon oben, dass auch der Bär, der Wolf, die Gemse und der Steinbock von den Bewohnern der Pfahlbauten erlegt wurden, und bezweifelten wohl nicht mit Unrecht, dass diese ihre Jagdzüge weit in 's Gebirge ausdehnten. Endlich waren noch die auch schon aufgezählten Thiere in unseren Niederungen einheimisch, welche aus der Schweiz seit langer Zeit verschwunden sind; und zwar ohne allen Zweifel in weit reicherer Anzahl, als die ebengenannten, jetzt nur noch alpinen Raub- und Gratthiere. Den Urochs finden wir unverändert nur noch gehegt im Park von Chillingham in Schottland, den Bison und das im Norden noch weit verbreitete Elenthier zunächst in Litthauen. Von einem kleinen Wildschwein endlich, welches in der Umgebung der ältesten Pfahlbauten noch häufiger vorkam, als der wilde Eber Deutschland's, haben sich nur noch Spuren in zahmen Racen vorgefunden.

Angaben ähnlicher Art liefert auch die Pflanzenwelt. Ausser der jetzt noch dieselben Stellen bewohnenden Vegetation waren es namentlich die Legföhre und die Wassernus8, welche damals an jenen Seen lebten, zwei Pflanzen, welche ebenfalls aus diesem Gebiet verschwunden sind. Die Legföhre hat sich mit den Gletschern in die Alpen zurückgezogen, die Wassernuss ist im Gebiet der Schweiz nur noch an zwei Stellen, bei Langenthal und bei Elgg, bekannt; auch eine kleine Art von Seerose ist seither^in der Bergregion zurückgeblieben.

Es wäre leicht, diese relativen Zeitangaben durch Vergleichung unserer heutigen Hausthiere und Cultur-pflanzen mit den damaligen zu vermehren, wenn dies zu unserem hiesigen Zweck dienlich wäre. Allein das bisher Gesagte genügt hierzu; es geht daraus hervor, dass seit den ersten uns bekannten menschlichen Ansiedelungen in der Schweiz allerlei Veränderungen in dem Aussehen des Landes, in der Verbreitung von Thieren und Pflanzen eingetreten sind, die sicher nicht rasch erfolgen konnten.

Dennoch würden wir wohl nicht gut thun, der Ausfüllung von Seen mit Torf, dem Verschwinden gewisser Pflanzen und Thiere eine allzugrosse Bedeutung einzuräumen; es ist nicht ohne Gewicht, dass diese Thiere entweder noch da waren, oder jedenfalls noch sehr wohl in der Erinnerung der Einwohner lebten, als die Römer die ersten Notizen über die transalpinischen Völker erhielten, denn Cäsar zählt wenigstens das Elenthier und den Urochs als Bewohner des deutschen Waldgebietes auf.

Man könnte hieraus schliessen, dass zwischen den Einfall der Römer und die Periode der Pfahlbauten kein historisches Ereigniss fällt, welches der Aufzeichnung werth geschienen hätte. Und doch ist ein solches von nicht geringer Bedeutung zu constatiren, nämlich die Einführung der Metallarbeit. Den ältesten Pfahlbauern war diese Kunst unbekannt, während ja die Römer die Helveter schon im Besitz von Metallwaffen fanden, die im Inlande selbst geschmiedet wurden. Allein auch dieses Ereigniss, wenn anders ein Fortschritt, der sich wahrscheinlich so allmälig und unmerklich Weg bahnte, wie dies noch heute bei barbarischen Völkerschaften geschieht, diesen Namen verdient, macht keine Zeitbestimmung möglich, weil es eben vor den Zeitpunkt fällt, wo die transalpinischen Völker in Berührung mit den chroniksehreibenden Römern traten.

Wir sind daher genöthigt, den Faden unserer Un-tersuchiing wieder aufzunehmen, ohne eine irgendwie für heutige Gresehiehtschreibung brauchbare Bestimmung der Zeit des Auftretens des Menschen in der Schweiz geben zu können. Und mit dem ersten historisch controlirten Ereigniss, mit dem Eindringen der Römer in den barbarischen Norden, treten wir in das Gebiet der Geschichte ein, welche fürderhin an die Stelle der Naturgeschichte tritt und die Mitwirkung der letztern sehr entbehrlich macht.

Nichtsdestoweniger ist noch ein Feld vorhanden, auf welchem beide Wissenschaften vielleicht nicht ohne Nutzen zusammen arbeiten können. Die Geschichte erhält ihre Völker, deren Annalen sie von nun an mit viel grösserer Genauigkeit aufschreibt, als die Naturgeschichte die ihrigen, nicht in ihrem Jugendzustande, sondern als gemachte und gewordene Objecte, welche meist schon sehr viele Erfahrungen und Erlebnisse hinter sieh haben, die das Gedäehtniss dieser Völker immer nur sehr stückweise aufbewahrt hat.

Viele dieser Erlebnisse haben sieh aber abgespiegelt în der Physiognomie der Völker, diesem auch heute noch so treuen und für den Policisten und Biographen so gut, wie für den Ethnographen werthvollen Abbild des Schicksals auch jedes Individuums. Und haben auch die europäischen Nationen nicht mit der malerischen Treue wie die Assyrer und Egypter selbst die Gesichtszüge ihrer Zeit auf ihren Monumenten verewigt, so hinterliessen sie doch auch von diesen in ihren Gräbern einen der Zerstörung weniger ausgesetzten Knochenabguss, dessen Züge bis auf einen gewissen Grad enträthselt werden können.

Allein noch leserlicher ist die Physiognomie der Schädelkapsel, der im Alter zwar starren Hülle des Gehirnes, die sich aber in der Jugend vollkommen der Entwicklung dieses Centrums der organischen und geistigen Thätigkeit anschmiegt und so Zeugniss gibt wenigstens von dem durch Erbthum überkommenen Capital des geistigen Besitzthums auch entschwundener Völker. '

In Ermangelung anderer Hülfsquellen mögen daher die Schädel unserer Vorfahren mit berathen werden, wo es sich um Fragen handelt, über welche, von directen Aufzeichnungen zu geschweigen, weder Monumente, noch Cultur und Sitte, noch die Eigenthümlichkeit der Sprache Aufschluss geben.

Es ist angenehm, der Mittheilung der Resultate einer solchen Untersuchung die Bemerkung voranschicken zu können, dass eines der sichersten Ergebnisse des Studiums organischer Körper jeder Art dahin geht, dass die Natur ihren Erzeugnissen den Stempel ihrer Art, ihr Gepräge nicht leichthin aufdrückt. Die wunderbare Zähigkeit von Familienzügen, die sich trotz noch so vieler fremder Einflüsse während langer Reihen von Generationen fast unauslöschlich festhält, ist nur ein schwaches Beispiel für diese Thatsache. Die Paläontologie ist voll von Belegen, dass organische Formen durch weit längere Zeiträume fortbewahrt werden, als sie etwa der Stammbaum irgend einer Cäsarenfamilie aufzuweisen hat.

Doch bezieht sich diese Bemerkung nicht gleichmässig auf sämmtliche Organe eines Thieres oder einer Pflanze; es ist daher von Wichtigkeit, zu wissen, welche derselben stabiler, welche Veränderungen leichter aus- gesetzt sind.

Die wunderbaren Erfolge englischer Viehzucht scheinen in der That den Beweis zu leisten, dass in wenigen Generationen aus zwei verschiedenen Formen des Rindes, des Schafes, des Schweines und vor allem der Taube gleichsam eine dritte, neue Form erzeugt werden kann. Allein man weiss, dass solche neue Formen hauptsächlich nur auf Anhäufung oder auf verschiedene Vertheilung von Fett und Fleisch, überhaupt von weichen Theilen beruhen \ denn unter den so rasch erzielten neuen Charakteren solcher Kunstprodukte bleibt immerhin eine Anzahl von Zügen, welche die bei ihrer Bildung wirksamen Faktoren bald verrathen. Und zu diesen conservativen Elementen der Organismen gehört vor Allem das Skelett und die Schädelbildung.

Gehen wir, mit diesem Geleitsbrief versehen, an die naturhistorische Untersuchung der Bevölkeruung der Schweiz, so besuchen wir weder Garnisonen noch eidgenössische Lager, so ergiebig auch Studien an solchen Orten sein dürften, auch nicht Portraitsammlungen und photographische Albums, sondern die Gräber unserer Vorfahren, und vor Allem jene anthropologischen Museen, welche in der Mehrzahl der katholischen Cantone der Schweiz unter dem bescheidenen Namen von Beinhäusern theilweise seit Jahrhunderten fortgeführt werden, ein Material, das leider der reformirten Schweiz vollkommen fehlt.

Ich darf hierbei nicht daran denken, die einzelnen Schädelformen, welche sich hier vorfinden, einlässlich zu besprechen, sondern ich muss mich damit begnügen, die Hauptresultate einer in Gemeinschaft mit meinem Collegen His in dieser Beziehung vorgenommenen Untersuchung Herauszuheben. Dieselben fallen mehr in die Augen, als man von vornherein erwarten durfte, und als etwa ein erster Besuch in einer solchen Sammlung herauszustellen scheint.

Wenn man sich von den Störungen frei gemacht hat, welche der Unterschied von Jung und Alt, von Gross und Klein, von Weib und Mann dem ungeübten Auge verursachen, so bleibt eine geringe Anzahl von Formen zurück, welche an allen Orten, in der östlichen und westlichen Schweiz, im Norden und im Süden wiederkehren, und welche daher vor der Hand zu notiren wichtig ist. Gelingt es dann, die eine oder die andere von solchen constanten Formen geographisch zu begrenzen, oder, was noch wünschbarer, sie historisch zu bestimmten Punkten rückwärts zu verfolgen, so werden solche naturhistorische Angaben vielleicht hier und dort im Stande sein, Lücken auszufüllen, welche in den historischen Traditionen aller Völker um so häufiger sich finden, je mehr wir nach früheren Perioden ihrer Geschichte fragen.

Die bisherigen, freilich noch einer sehr weiten Ausdehnung nicht nur fähigen, sondern noch mehr bedürftigen Untersuchungen auf diesem Gebiete liessen hauptsächlich drei Schädelformen erkennen, welche in der Schweiz, theils nach Raum, theils nach Zeit, so häufig auftreten, dass sie nicht nur als typisch für gewisse Gruppen der Bewohner gelten können, sondern schon jetzt als Hauptfactoren der Bevölkerung der Schweiz bezeichnet werden dürfen.

Unter diesen Formen stellen wir eine voran, welche an Reichlichkeit der Vertretung und an Umfang ihrer geographischen Verbreitung alle andern weit hinter sich zurücklässt. Da sie nicht nur zuerst in Graubünden mit Sicherheit unterschieden wurde, sondern auch dort in d|p That einstweilen am reinsten aufzutreten schien, so nennen wir sie geradezu den Bündnerkopf.

Der Bündnerkopf scheint das Vorbild für den grössten Theil der heutigen Bevölkerung der Schweiz zu bilden. Von Schaffhausen bis Genf, vom Bergell bis Basel fehlt er nirgends. In mehr als 20 Beinhäusern von Churwalden und Vorderrhein, über Uri, Untenvalden, Luzern, durch Solothurn bis nach dem französischen Jura bildet er oft nahezu an 80 Procent ihres Inhaltes. Er ist ausgezeichnet durch fast cubische Gestalt, mit steiler Stirn und noch steilerem und bespnders breitem Hinterkopf, so wie durch grosse vertikale Höhe, welche ihm nicht selten fast thurmförmige Gestalt gibt. Vor der Hand ist indess nicht sicher anzugeben, ob seine Vertretung überall gleich stark ist. Als classisene Stellen für diese Schädelform sind ausser manchen Thälern von Graubünden zu nennen der Kanton Solothurn, das Schlachtfeld von Dornach und, so viel sich aus spärlicheren Quellen ergibt, auch das bernische Emmenthal und das waadtländische Oberland.

Gräber aus älteren Perioden haben diese Form bisher noch sehr spärlich aufgedeckt. Am reichlichsten fand sie sich einstweilen, obschon selten in reinen Umrissen, in den ausgedehnten, von Hugi entdeckten Gräberstätten von Grenchen, welche nach dem Inhalt an beigefügten Geräthschaften einer schon christlichen Bevölkerung aus dem vierten oder fünften Jahrhundert anzugehören scheinen.

Dem Bündnerkopf gerade entgegengesetzt verhält sich eine zweite Schädelform, welche ein langgestrecktes Oval mit spitz vorragendem Hinterkopf und zusam-mengedrückter Schläfengegend darstellt. Nach der sehr allgemein üblichen Bezeichnung der Stellen, wo diese Form am ausgeprägtesten erscheint, sollte man sie^den Hunnenschäd«! nennen; es sind hauptsächlich die s. g. Hunnen- oder Hünengräber, welche diesen Typus geliefert haben, so der Hohberg oder Hunnenberg bei Solothurn, die schon genannten Gräber bei Grenchen, ferner s. g. Hunnengräber bei Pratteln, bei Biberstein im Aargau und an mehreren Stellen des Waadtlandes.

Da indessen alle diese Gräber der römischen Epoche des ersten bis etwa fünften Jahrhunderts angehören und auch die Schädel mit den wenigen ächten Römerschädeln, welche in den Sammlungen aufbewahrt sind, sehr gut übereinstimmen, so darf man wohl wagen, diesen Schädel den Römerschädel zu heissen. In neueren Gräbern und in der Gegenwart scheint diese Form in reinem Typus fast zu fehlen, allein man kann sich nicht deja Eindruck entziehen, dass sie in einer Anzahl von Bündner-köpfen älterer, bis selbst der gegenwärtigen Periode, bei welchen namentlich das Hinterhaupt in ungewohnter Weise zipfelförmig vortritt, noch Spuren hinterlassen habe. Doch muss ich beifügen, dass ich solche Köpfe in Bünden selbst nicht gesehen habe, wohl aber im Kanton Solothurn und Bern. Den reinen Hunnenschädel trug der Mörder Bannwart aus altem emmenthâlischem Geschlecht, der 1846 in Laupen hingerichtet wurde.

Einen weit grösseren Zeitumfang, als beide vorigen, umfasst die dritte Schädelform, welche wir die helvetische nennen, weil sie sich schon lange vor der römischen Invasion einfindet. Ihr gehören vor Allem die wenigen Schädel an, welche bisher in Pfahlbauten zum Vorschein gekommen sind, selbst aus der ältesten Periode der Bevölkerung der Schweiz, vor Einführung der Metalle. An mittlerem Umfang übertrifft dieselbe die beiden vorigen, indem sie grosäe Länge mit breitem, ausgedehntem Hinterkopf verbindet. In ihren ausgeprägten Repräsentanten besitzen diese Schädel eine ganz eigenthümliche Kräftigkeit und Würde der Physiognomie, welche beiden vorigen abgeht.

Allein sie bildet nicht nur den bisher fast ausschliesslichen Typus der Periode der Pfahlbauten, sondern von da an findet sie sich, wenn auch nirgends häufig, in den Gräbern aller Epochen, bis in die Beinhäuser der Gegenwart; in den letztern namentlich in den Urkantonen und im Kanton Solothurn.

Es ist fast überflüssig, zu betonen, dass Mischformen zwischen allen diesen genannten Schädeltypen nicht fehlen, ja an vielen Orten häufiger sind, als die reinen Typen. Allein auf die Gradationen und die geographische und historische Vertretung solcher Mischung hier einzugehen, erlaubt weder der Zweck dieses Aufsatzes, noch die so weit noch nicht gediehene Reife der Untersuchung selbst. Erwähnen wir nur schliesslich, dass noch eine vierte, obwohl vielleicht nicht so scharf begrenzte Schädelform sich noch in engeren Schranken, als der römische Kopf, in einer Anzahl von Gräbern des fünften und neunten Jahrhunderts im burgundischen Theil der Schweiz vorfand. Nach der interessanten Beoboachtung von Professor His soll dieser Burgunderkopf noch heutzutage im waadtländischen Patriciat zu Hause sein.

Angesichts dieser Ergebnisse kann uns einstweilen der Historiker mit vollem Rechte sagen, dass er uns die Mühe der Untersuchung hätte sparen können, da wir ja nicht nur die Namen unserer Schädel von der Geschichte entlehnen müssen, sondern diese auch längst mit weit reicherem und weit sichererem Material die verschiedenen Völker, welche vorübergehend oder andauernd auf unserm Boden sich ansiedelten, Schritt für Schritt verfolgt hat. Nichtsdestoweniger kann es von Interesse sein, das knöcherne Portrait derselben kennen zu lernen, und vornehmlich wird uns die Kenntniss von Schädelformen in den Perioden leiten können, welche jenseits der Geschichte liegen.

Unsere ersten Chroniker, wie Gilg Tschudi, Stumpf und Andere, welche die seither immer neu verglichenen Originalquellen bei Polybius, Scipionis Africani Schulmeister, wie ihn Tschudi nennt, bei Strabo, Livius, Plinius, Ammianus Marcellinus u. s. w., schon reichlich benutzten, erzählen uns von den Helvetern, deren Namen Glarean in Hellvetteren oder Plutonis Vetteren übersetzt, dass sie ein gar alt gallisch Volk seien, das mit seinen Nachpuren, den Sequanis und Raurachern, bei Cäsar's Zeiten dem celtischen, später unter den Kaisern dem belgischen Gallien zugetheilt ward. Und wie schon Strabo die von den Celten nur durch den Rhein getrennten Germanen die leiblichen Bruder der Letztern nennt [denn dies bedeutet das Wort Germani bei den Römern ), von denen sie wenig verschieden seien ( nur dass die Germanen grösser, wilder und blonder sind ), so schreibt Tschudi den Galliern auch deutsche Sprache zu. Er belegt dies mit dem Hinweis auf die Architectur der Sprache, welche * der deutschen weit näher stehe, als der lateinischen: Die Gallier sind an Zwyfel tütscher spraach gewesen, die sy uss zwang der Römern verlassen, redend noch all sententz nach der tütschen art, nämlich Que ha tu fait, was hast du thon, rymet sich nüt zu latin, quid habes feristi; je lay fait, ich habs thon, id est, ego habeo feci etc. In Summa, die gemein red liberal nach tütschem schrot gestaltet, welchs ein gut anzeygung, dz sy vor zyten tütseh gewesen, und als sy under latinische spraach von Römern gezwungen, habend sy doch die nit anders können fügen, dann nach der tütschen anerbor-rieh art, dardurch ein zerbrochen latin und zerhudlete spraaeh worden, wiewol sy noch vil wort uss altem abkommen zutütsch gebrucheud, so nit vom latin sind, als harnois, tütsch hämisch, item burgois, burger, latine cipt 's, riche, ryeh, dives, espérons^ sporen, calcarla etc. etc. ( Tschudi, in der uralt Warhaff tig Alpisch Rhetia.

Basel, 15 $8. )

Schon unsere Chronikei* geben indessen zu, dass durch das Eindringen der deutschen Alemannen und Burgunder im Anfang des fünften Jahrhunderts, von welchen erstere die östliche Schweiz vom Bodensee bis an die Reuss, die letzteren die westliche Schweiz besetzten, der helvetische Namen bis auf wenige Localitäten, wie Aventicum etc., unterging. Hiemit ist der Helvetisch namm ye mer und mer verblichen, und Helvetia gar mit andern Völkern vermischt worden; desswegen etlich es dafür achtend, das diese Völker nachvolgender tagen in Helvetia sässhaft, gar nit mer Helvetier, sonder gemeinlich eintweders Burgundier oder Älemannier syend. ( J. Stumpf, 1548. )

Dass solche Invasionen in das Gebiet der ohnehin früher durch den unglücklichen Zug des Orgetorix nach Gallien sehr geschwächten und überdies durch zwei Jahrhunderte von den Römern unterjochten Helvetiern diese einheimische keltische Bevölkerung schwächten, ist ausser Zweifel, allein gerade diesen wichtigen Umstand übersah Tschudi ., wenn er aus deutschen Ortsnamen und Sprachelementen überall auf keltische Bevölkerung schliefst \ dieser Irrthum verleitete ihn daher auch, allen deutschredenden Gebieten der eigentlichen Alpen keltische Bevölkerung zuzuschreiben. So nennt er die Bewohner des Unterwallis, die Seduner und Veragrer, rechte Alpenvölker alter gallischer Gelegenheit, zum Theil deutscher Sprache.

Keltische Helvetier, deutsche Lepontier blieben nach ihm auch im Besitz des Oberwallis und des Gotthardt, und von den Lepontiern leitet Tschudi auch die vielen zerstreuten deutschen Colonien in den Alpen her, wie am Hinterrhein und namentlich am Südabhange der Alpen, in Val Sesia, im Eschenthal ( d' Ossola ), Meynthal ( Maggia ), Liviner, Palenser ( Blegno ), Calanker und Misoxer Thal.

Neben diesen zwei Faktoren der deutschen Bevölkerung, den Helvetiern und den germanischen Alemannen und Burgundern, führen dann bekanntlich alle Chronisten seit Tschudi noch ein drittes deutsches Element in die Schweiz ein, die nordischen Cimbern und Teutonen, welche sich nach der durch Marius in Italien erlittenen Niederlage ( 90 v. Chr. ) unter ihren Führern Schwyter, Tschei, Resti und Rümo im Gebiet von Schwyz, Unterwaiden und Hasli niedergelassen haben sollen.

Neben den deutschen Elementen bleibt somit nur noch der schon vor den Römern dem romanischen Sprachstamm angehörende Theil des östlichen Alpenzuges übrig, dessen Volksstamm von den Alten übereinstimmend als Rhätier bezeichnet wird. Die Rhätier, die östlichen Nachbarn der Lepontier, sind auch die einzige Nation, welche seit ihrem Auftreten in der Geschichte niemals aus ihrem Wohnsitz, den Alpen, verdrängt wurde. Doch hat man bekanntlich auch ihnen noch eine frühere Heimath angewiesen. Tschudi bespricht ausführlich die von allen spätem Chronisten wiederholte Angabe des Plinius, dass die Rhätier Thuscier wären, welche zur Zeit des Tarquinius Priscus durch den Einfall der Gallier aus ihrer Heimath Etrurien vertrieben worden seien und sich in den höchsten Alpen-

Schweiier Alpenclub.26

gebirgen festgesetzt hätten, wo sie demnach durch die rucken Gelegenheit des, lands so east erwildet und ergrobet, das sie nüt jrer alten art in jnne behalten, dann allein den thon der spraach, und auch dieselben vast verbö&ert und gebrochen. Dann ron schulen und leermeister schry-bens und lesens under den nachkommen nüt gewesen, sonders aHein rüthotcen, mistgablen und segentzen gebrückt, dardurch sie in Künftigem aller Grammatic, schrybens und redensart entwonet.

In Folge der Schwächung der Helvetier durch ihre verfehlte Auswanderung nach Gallien vermochten dann diese romanischen Völker ihr Gebiet bis an den Bodensee, wo sie an die Vindelicier anstiessen, und an den Wallensee, ja bis in 's Gasterland auszudehnen; doch glaubt Tschudi nicht, dass dieses Revier allenthalben mit rhätischen Einwohnern besetzt war, sondern dass im Rheinthal mehrentheils die vorher dagewesene deutsche Nation verblieb. Die Limmat bildete dann die noch heute sogenannte March zwischen Rhätiern und Helvetiern.

Es ist bekannt, dass die genauere Kritik neuerer Forschung viele dieser Ansichten der älteren Zeit über die Quellen der Bevölkerung der Schweiz wesentlich verändert hat. Sehen wir ab von den Stämmen der Sicaner, Umbrer, Euganeer und Ligyer, welche von den Alten als früheste Bewohner der Alpen genannt werden und vielleicht einst eine Verbindung mit den kaum besser bekannten Basken herstellen dürften, so bleiben immerhin die Rhätier die erste Nation, welche von Alters an bis auf die Gegenwart im Besitz eines Theils der Alpen geblieben ist. Allein es scheint, dass sie sich schon sehr frühe nicht nur nach Norden, sondern auch nach Osten und Westen verbreiteten. Schon Strabo Bevölkerung d. Alpen.40&

bezeichnet die früher genannten Lepontier, die Bewohner der westlichen Alpen, ausdrücklich als Rhätier, und Dr. Keller weist nach, dass rhätische Ortsnamen sich dem Hochgebirg entlang bis an den Genfer See hinziehen; die Namen Brienz, Stans, Flüelen, Glaris, Zug, Saas, Lax, Lens, Nax, Spiez, Ems, Gombs, Glis, Viesch, Visp, Chippis, Vex etc. sind rhätisch. Allein mitten darunter kommen auch romanische Namen vor, wie Saxeln, Gestelen, Castels, Tschingel, und keltische, wie Thun, Sedunum, Brieg ete.

Auch Dr. J. K. Burckhardt in der vortrefflichen und vollständigsten Arbeit über die Quellen der Bevölkerung der Schweiz, die mir bekannt ist {Archiv für Schweiz. Geschichte 1846}, nennt Tirol, Bünden, den obern Theil von Uri ( der bis 1400 romanisch sprach ), Wallis und Savoyen als Wohnsitz der Rhätier, immerhin unter der Voraussetzung, dass die Ligurer und Sicaner ihnen noch vorausgegangen. Allein seit Niebuhr wird dieser Volksstamm nicht mehr als ein abgelöster und verpflanzter Zweig der Etrusker, sondern vielmehr als ihr Stamm-volk betrachtet, da von einer Auswanderung der Etrusker nach den Alpen bei den besten Schriftstellern des Alterthums nirgends die Rede ist.

Woher in solchem Falle die Rhätier selbst stammen mögen, ist noch Gegenstand des Streites. Manche Neuere vereinigen sie bekanntlich geradezu mit den Kelten, wie denn auch die Sprachforschung die keltische Grundsprache ( mit ihren heutigen irischen, schottischen, kymrischen und armorisehen Mundarten ) in einen italo-keltischen Stamm mit den romanischen Sprachen vereinigt und weit abtrennt von der slavo-deutsehen Sprache. ( Aug. Schleicher, die deutsche Sprache. Stuttgart, I860. ' ) Während demnach die Rhätier als die ersten einiger- massen bekannten Bewohner des Alpenzuges erscheinen, bleiben die keltischen Helvetier, welche nach Tacitus ursprünglich in dem Gebiet zwischen Schwarzwald, Rhein und Main sassen, auch nach neueren Angaben unbestritten in dem Besitz der Ebenen und des Hügellandes.

Allein zwischen ihnen und den Rhätiern blieben grosse Strecken der mittleren bergigen Schweiz vor den Römern nur schwach bevölkert; ja Dr. Burckhardt weist mit überzeugenden Gründen nach, dass namentlich die Urcantone ( Uri unterhalb der SchöUenen ), Glarus, Appenzell und das ganze Berner Oberland bis zur Völkerwanderung unbewohnt geblieben sind. Selbst die mittleren Alpen waren vor den Römern nur schwach bevölkert, denn von Alpenpässen kennt man aus so früher Zeit nur den Mont Genèvre, den grossen Bernhard und den Brenner; erst die Römer legten dann die Strassen über die rhätischen Gebirge.

Die Römer sind also das erste Volk, über dessen so folgenreiche Invasion vollkommen genaue Angaben vorliegen, welche nur anzudeuten hier überflüssig wäre. Allein noch dauerhafter war der Einfall der Alemannen und Burgunder im Anfang des fünften Jahrhunderts. Von hier an ist auch Alles zu datiren, was sich von deutschen Stämmen in der Ebene und im Gebirge der Schweiz befindet*, allein in 's Hochgebirge drangen sie nicht vor dem sechsten Jahrhundert ein, die Burgunder verbreiteten sich dann nach dem " Wallis und dem Jura, die Alemannen in die gesammte übrige Schweiz und namentlich auch in das Gebiet der Rhätier, welches von der Mitte des neunten Jahrhunderts in seiner ganzen Ausdehnung, mit Einschluss von Tirol, alemannisch war.

Von da an finden wir keine neuen Invasionen von bleibender Bedeutung.

Wenigstens vermochten weder die Longobarden, die sich am Ende des sechsten Jahrhunderts in den Besitz von Tessin und Ursern setzten, die romanische Sprache dieser Thäler auszurotten, und noch weniger die Sarrazenen, welche nach den schönen Untersuchungen von Dr. Keller im zehnten Jahrhundert von der Provence aus nach den Alpen vordrangen und sich allmälig aller Alpenpässe vom St. Bernhard bis nach Chur bemächtigten. Nur wenige directe Denkmäler, vornehmlich eine Anzahl arabischer Lokalnamen in Wallis, so wie die vielen Adjectiva moro ( maurisch ) und sarrasin zu Berg- und Ortsnamen der westlichen und südlichen Schweiz sind noch Zeugen dieser vor der Arbeit von Dr. Keller wenig bekannten Invasion.

Wohl aber vollendete der alemannische Stamm mit bleibendem Erfolg die Besetzung fast der ganzen Schweiz. Er war es namentlich, der auch die bis in 's neunte und zehnte Jahrhundert unbewohnten, von Wald und Sumpf besetzten Thäler der Waldstätte und über den Brünig das Gebiet des Berner Oberlandes bevölkerte, und nicht die Cimbern. Die treffliche Abhandlung von Dr. Burckhardt beweist schlagend, dass die Sage von der cimbrischen oder schwedischen Colonie, erst im Jahre 1440 und aus Parteizwecken aufgebracht, jeden historischen Grundes vollkommen entbehrt, obschon sie sich allerdings merkwürdig rasch selbst in den Mund des Volkes festzusetzen wusste. Und dieselbe Arbeit verfolgt auch mit aller nur wünschenswerthen Genauigkeit jeden ferneren Fortschritt der Alemannen. So tauchen sowohl in Unterwaiden und Uri als jenseits des Brünig die ersten Ortsnamen nicht vor dem Jahre 843 auf, die ersten Kirchen nicht vor 1081. In dieselbe Periode fällt auch die Oeffnung nicht des längst von den rhätischen Bewohnern von Ursern benutzten Gotthardtpasses, aber seiner Portsetzung nach dem deutsehen Uri.

Von Thun aus war das westliche Quellgebiet der Aare weit früher von deutschen Ansiedlern urbar gemacht worden, da die älteste Kirche des Oberlandes, in Einigen bei Thun, schon aus dem siebenten Jahrhundert stammt. Vom Simmenthal aus drangen deutsche Hirten in das noch heute welsch genannte Oberland von Waadt, das 1115 terra Alamannorum genannt wird. Auch im Wallis treten deutsche Ortsnamen erst nach 1200 auf, und von hier aus erfolgt dann noch später, im vierzehnten Jahrhundert, die Colonisation nach allen möglichen Richtungen, so rückwärts vom Lötschenthal nach dem von Lütschinen, allein auch vorwärts nach den vielen, seit geraumer Zeit wieder stark abschmelzenden deutschen Inseln am Südabhang der Alpen, deren Bevölkerung Tschudi dem keltischen Urstamm zugeschrieben hatte.

Auch nach dem Gebiet der rhätisch gebliebenen Churwalen drangen um diese Zeit zahlreiche Colonien deutscher Walser aus Wallis ein, und östlicher sendeten, demselben Zuge folgend, die deutsehen Baiern ihre Colonien über die Alpen bis in die Gegend von Vicenza und Verona, wo sie auch heute in raschem Schmelzen begriffen sind.

Ich darf es dem Leser so ziemlich überlassen, die Vergleichung zwischen den so reichen Ergebnissen der historischen und den noch sehr dürftigen Aussagen der naturhistorischen Untersuchung gegen einander zu halten. Nur die Hauptresultate verdienen hervorgehoben zu werden. Es ist offenbar, dass hiermit der helvetische Typus sieh als keltisch, der Bündnerkopf als alemannisch herausstellt; auch entspricht die heutige Verbreitung 4es ersteren den Voraussetzungen, welche sich auf die Bevölkerung d. Alpen»40t

angeführten Angaben der Historiker stützen, in hohem Masse. Auch die grosse Verbreitung des Bündnerkopfes konnte vorausgesehen werden, und es ist nicht ohne Interesse, dass dieselbe Schädelbildung sich weit über die Schweiz hinaus nach Oesterreich und nach Schwaben, ja bis nach Norddeutschland erstreckt. Auffallend ist dagegen die schwache Vertretung der Burgunderform und das Fehlen eines besondern Rhätierschädels.

Die Frage über den Ursprung der Rhätier, ob sie Etrusker, ob sie Kelten seien, oder ob sie — wofür vor der Hand die meisten Gründe zu sprechen scheinen — einem älteren, vorkeltischen Stamme angehören, wird durch dieses Ergebniss um keinen Schritt gefördert. Sicher ist nur, dass die Form des Etruskerschädels, welche nach den davon aus Italien erhaltenen Resten von der Bündnerform sehr erheblich abweicht, bisher in Graubünden nicht gesehen worden ist. Dagegen scheinen die alemannischen Völker in Rhätien weit stärkere Reste hinterlassen zu haben, als man anzunehmen geneigt sein konnte. Allein auch damit, dass gerade in dem seit ältester Zeit fortwährend romanisch'gebliebenen Thale von Graubünden, in Tavetsch, dem ächtesten Gebiet der Rhätier, die überwiegend grosse Mehrzahl der Bevölkerung dem alemannischen Schädel-typus zuzugehören scheint, ist noch keineswegs gesagt, dass sich nicht doch noch bei genauerer Durchsuchung ein rhätischer Typus auffinden lasse. Der Umstand, dass Graubünden die kurzköpflge Form im Maximum zu besitzen scheint, vielleicht auch mit einigen ferneren Zuthaten, ist wenigstens auffallend.

Am meisten Aufschluss sollte sich, wie man sieht, erwarten lassen aus einer sorgfältigen Vergleichung der Formen von Tavetsch und Ursern mit denjenigen von Uri.

Allein ich muss gerade auf die Gefahr hin, mich getäuscht zu haben, gestehen, dass ich nicht im Stande war, einen Unterschied in der Kopfform dieser beiden Gegenden zu finden, obwohl ich gerade diese besonders einlässlich untersuchen konnte.

Ich darf wohl mit dem Ausdruck der Erwartung schliessen, dass diese kurzen Andeutungen über die Ergebnisse eines noch in seinen ersten Anfangen befindlichen Studiums hülfreich sein möchten, um das Interesse, das uns dabei betheiligt, an 's Licht zu stellen; allein auch mit der Aeusserung der Hoffnung, dass die anthropologischen Schätze, welche die Schweiz und namentlich das Alpenland beherbergt, nicht der blossen Neugierde, allein einem Studium, das sie nicht profanirty mit der Freundlichkeit geöffnet werden möchten, mit welcher die Bevölkerung der Alpen wissenschaftlichen Bestrebungen immer entgegenkam.

Auch bedarf ich noch ein Wort der Entschuldigung, dass ich Gebiete, zwar von unverkennbarer und enger Verwandtschaft, allein von so verschiedener Reife, dennoch gleichzeitig besprochen habe. Es konnte dies dem Leser gewissermassen ein Anrecht geben, die aus der Geschichte der Pflanzen, der Thiere und des Menschen, so weit sie bekannt sind, hervorgehenden allgemeinen Folgerungen schliesslich noch zusammengestellt und in ein Gesammtbild vereinigt zu sehen. Und dennoch darf ich dies nicht wagen.

Man wird leicht bemerken, wie bestimmt die Schlüsse zu lauten schienen in Bezug auf die Herleitung der Pflanzenwelt; weniger für die Thierwelt; und wie unsicher ist Alles, was sich über unsern eigenen Ursprung sagen liess! Und doch erstreckten sich die Schlüsse über die Ursprünge der Alpenflora auf Zeiträume, die unsäglich weiter hinter uns zurückliegen, als die ältesten Menschenschädel, die wir in der Schweiz noch kennen.

Allein gerade hierin liegt auch die Erklärung der scheinbar geringen Reife des anthropologischen Studiums; denn im Vergleich zu unseren Kenntnissen von der Vegetation der Alpen ist jene wirklich nur scheinbar. Es verhält sich hiermit sehr ähnlich, wie mit der Beurtheilung einer grossen Fernsicht in unseren Alpen. Am fernen Horizont erkennen wir die vorragenden Gestalten der Berge mit Leichtigkeit, weil sie frei in den einfachen Hintergrund des blauen Himmels aufragen und keine Details ihre charakteristischen Formen trüben j allein sowie das Auge sich dem Vordergrunde nähert, wird der Hintergrund complicirter und störender,, die Ansicht wird mannigfaltiger durch alle die tausend Vorsprünge und Wechsel von Farbe und Relief, und die Formen selbst verlieren ihre typische Gestalt, weil die Profile, die wir umfassen, immer mehr sich nur auf unsern speciellen Standpunkt beziehen.

Die Schlüsse über sehr entfernte Ereignisse sind daher bestimmter, weil sie leerer sind; diejenigen über näher liegende Epochen müssen eine weit grössere Anzahl einzelner Thatsachen und Faktoren berücksichtigen und erscheinen daher unsicher und schüchtern. Allein sie kosteten deshalb nicht weniger Umsicht und Arbeit. Wir wären wohl in grosser Verlegenheit, wenn wir die Geschichte der Racen und Schläge einer einzigen Species unserer Alpenpflanzen so genau verfolgen sollten, wie wir es für Völkerstämme wenigstens versu-. chen müssen.

Ein Grundzug, welcher der ganzen organischen Bevölkerung unserer Alpen indess ein Gepräge von unabweisbarem Interesse gibt, besteht darin, dass wir ohne Zweifel an dieser wenn auch noch so wenig über die Fläche des Continentes sich erhebenden Mauer von Gipfeln und Kämmen in ganz anderer Weise, als in den Ebenen der Tiefländer, die Wellen des Lebens sich brechen sehen.

Von allen Seiten scheinen die Ströme neuer Schöpfungen von unten anzudringen und die älteren auf ihrer Flucht hier noch einmal Fuss zu fassen, obschon sie auch von oben bedroht sind durch die Unbilden der unorganischen Natur, auf deren Kosten sie doch leben müssen. So erhält sich eine sonst überall verdrängte und, nach ihrem Farbenschmuck zu schliessen, wirklich einer glücklicheren Natur entstammende Pflanzenwelt noch auf den weniger zerrissenen Kämmen und an sonnigen Wänden selbst der höchsten Gebirge, mitten in einer Einöde von Eis, die früher, ja noch in unserer eigenen Sagenkindheit, von mancher jetzt dem Anschein nach auf ewig begrabenen beblümten Alp geschmückt war.

Wir dürfen dabei wohl kaum zweifeln, dass ein guter Theil der kleinen Thierwelt, mancher Käfer und mancher Schmetterling, hier mit hinaufzog, dessen Vorfahren sich einst in einem längeren Sommer sonnen konnten. Allein auch manche Thiere, welche einst der Bewohner unserer Torfseen von seiner Wasserfestung aus erlegte, haben sich in die unzugänglichen Schluchten der Alpenfestung flüchten müssen und sind genöthigt, sich vor ihrem Verfolger mit doppelter Klugheit zu schützen, weil ihnen kein weiterer Rückzug offen steht; ihre einstigen Gefährten, weiche den Weg nach Norden einschlugen, haben wenigstens noch grösseren Spielraum offen.

Am wildesten brach sich von jeher an den Alpen der Sturm der Völker. Den Wogen einer Fluth vergleichbar, stiess eine Nation nach der andern an die hohe Düne. Wie manche Welle brach sich oben und ist zurückgeblieben in den Völkerinseln, welche, in Sprache .und Dialekt, in Cultus, Kleidung, Sitte von ihren nächsten Nachbarn verschieden, zugeschlossene Alpenthäler als letzte Zufluchtsstätte bewohnen, oft noch umgeben von Hausthieren, die sie an ganz anderem Ort erworben haben! Wie manche schlug hinüber und ist noch erkennbar in den Colonien, welche am jenseitigen Abhang hinunterhängen oder oft schon wieder durch den Andrang von drüben zurückgestaut sind!

So betritt unser Fuss in Wirklichkeit bei unseren Alpenwanderungen den Schauplatz des Lebens früherer Generationen, die in den Ebenen längst unter dem Gerolle der Gegenwart, das auch uns aufnehmen wird, begraben liegen; ja man darf sagen, dass wir in um so tiefere Schichten der Vergangenheit dringen, je höher wir uns nach den Zinnen dieser Zufluchtsstätte schwindender Schöpfungen erheben. Rührt wohl daher das wonnige Gefühl, als ob wir in eine alte Heimath träten, das den Einen, der unheimliche Eindruck, dass er auf einer Todtenstätte wandle, der den Andern beschleicht, wenn er, durch Gesellschaft nicht gestört, einsam auf unseren Alpenhöhen umherstreift? Man möchte es glauben. Sind es doch Stimmungen von gleich feierlicher Art, bald freundlich, bald düster, welche über uns kommen bei dem Betreten von Gräberstätten, die uns näher liegen.

Belehren uns indess beiderlei Scenen, dass, was einmal geschaffen worden, auch zu Grunde gehen muss, so geben wir doch auf unseren Alpenhöhen Einer Stimmung vor allen andern Raum: dass Ein Kleinod, das sich auch an diese Festung geklammert zu haben scheint, nicht im Sturm von unten her, nicht im kalten Strome von oben ersterben möge — der Hauch der Freiheit!

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