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Über die Lawinen

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Dr. Ernst Buß.

Illustration nach Zeichnungen des Verfassers.

Wem es auf einer Bergtour vergönnt ist, das Schauspiel einer schönen Lawine zu genießen, dem ist es eine freudige Überraschung, und er wird nicht ermangeln, dieses seltene Ereignis ins Gedenkbuch seiner Erinnerungen einzutragen. Unzähligen Touristen aber, wie überhaupt den meisten Menschen, wird ein solches Ereignis ihr ganzes Leben lang nie zuteil, weshalb auch die Vorstellungen, die man sich von den Lawinen macht, in weiten Kreisen teils unklar, teils völlig irrig und verkehrt sind. Die verbreitetste Vorstellung knüpft nach meiner Erfahrung sowohl an die sprichwörtliche Redensart vom lawinenartigen Anwachsen einer Sache als an das Wintervergnügen der Kinder an, das darin besteht, wenn schwerer, nasser, klebriger Schnee gefallen ist, davon ein paar Hände voll zu einem Klumpen zu ballen und diesen nun auf der Straße durch die Schneemasse zu rollen, bis eine Kugel daraus geworden ist, so groß und schwer, daß sie sie nicht mehr weiterzuwälzen imstande sind. Diese Kugel nennen sie Lawine. Meist denkt man sich nun die Lawinen im Gebirge eben auch so, daß eine kleine Menge Schnee, durch irgend etwas in Bewegung gesetzt, sich rasch zu einem Klumpen balle und dann als solcher, als mächtige, kompakte Kugel, durch die Lüfte sause oder über die Abhänge hinunterrolle, bis sie, in der Tiefe angelangt, unter dröhnendem Aufprall zerplatze und zur Ruhe komme. Oder man schließt, wenn vom schiefen Hausdach ein bißchen Schnee in zwei, drei Stücken in den Garten oder auf das Trottoir herunterfällt, von dieser kleinen Hauslawine auf ähnliche Vorgänge im Gebirge, wobei dann die Phantasie die fallenden Stücke ins Riesenhafte vergrößert und sich die Art ihres Fallens mit allen möglichen schreckhaften Begleiterscheinungen ausmalt. Angesichts dieser weit verbreiteten Unklarheit sei es daher einem, der seit Jahrzehnten Winter um Winter und Frühling um Frühling von seinem Fenster in Glarus aus Hunderte der herrlichsten Lawinen in ihrem ganzen Verlauf zu beobachten Gelegenheit hat, gestattet, dieses ebenso interessante und großartige als nicht selten Verderben bringende Phänomen in seinem Hergang zu schildern und von seiner malerischen Seite zu beleuchten. Die wissenschaftliche Erklärung dagegen sei berufenem Federn überlassen und hat in dem verdienstvollen Werke von Dr. Coaz, „ Die Lauinen der Schweizeralpen " ( Bern 1881 ), bereits ihren Bearbeiter gefunden.

Historisches.

Die Lawine spielt in der Naturchronik aller Alpenländer und nicht zum wenigsten in derjenigen der Schweiz eine große und traurige Rolle. Jahr um Jahr richten die Lawinen trotz allen Verbauungen beträchtliche Verheerungen an und fordern zahlreiche Opfer an Menschenleben. Alle Jahrhunderte wissen von Unglückskatastrophen zu erzählen. Führen wir nur einige wenige an, zunächst aus dem Kanton Graubünden.

Am 24. Januar 1459 zerstörte eine Lawine bei Diseniis die uralte Kirche des heil. Placidus und einen Hof, wobei 16 Menschen das Leben verloren, und tags darauf ergossen sich zwei vereinigte Lawinen über das Dorf Trum, während die Leute sich eben beim Morgengottesdienst in der Kirche befanden, und begruben 19 Gebäude samt ihren Bewohnern. Von Davos berichtet der Chronist Fortunat Sprecher aus dem Jahre 1569, es sei „ eine Löuwene aus Severberg außer den Meierhof gegangen, innert der Crina ein Haus gebrochen und genommen und 7 Menschen getötet und das Eis im See gebrochen und tote Fische ausgestoßen ". Über dasselbe Gelände brachten nach Hans Ardüsers Chronik 1602 und 1609 „ grusamne grüselichi Schneelöuwi " schweres Unglück, und von Gassedra berichtet Scheuchzer in seiner Naturgeschichte des Schweizerlandes, daß 1624 „ erschrockliche Lauinen gefallen, welche den ganzen Flecken bedecket und über 300 Menschen getötet ". Noch lebt im Prättigau ein altes Trauerlied, das auf eine Lawinenkatastrophe vom 25. Januar 1689 gedichtet wurde. An diesem Tage wurden nämlich in Saas durch zwei Lawinen 180 Gebäude und 77 Menschen verschüttet; 57 Menschen kamen um, als sie auf den Ruf der Sturmglocken den 20 bei der ersten begrabenen zu Hülfe eilten. Auch das auf sonniger Bergterrasse gelegene Fetan im Unterengadin erlebte Schreckliches. Da sauste am 8. Februar 1720 eine mächtige Lawine von den Abhängen des Piz Clünas über das schöne Dorf hernieder, und es konnten von 61 Begrabenen nur 25 gerettet werden. Darunter befanden sich zwei Jungfrauen, die etliche Tage im Schnee gelegen und zu schlafen gemeint hatten, und ein 9Ojähriger Greis, der, vom Ofen weggerissen, am andern Ende des Schuttkegels hervorgekommen war. Dem hochgelegenen, oft von Lawinen heimgesuchten Tavetschtal an der Oberalpstraße drohte in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1808 ebenso Schlimmes. Da raffte die Lawine Ruinatsch das ganze Dörfchen Selva bis auf einen einzigen Stall mit sämtlichen 42 Bewohnern hinweg, die angstvoll mit dem Tode rangen; 17 vermochten sich jedoch aus den Schneemassen wieder herauszuarbeiten. Unter den Geretteten befand sich der in den Siebzigerjahren verstorbene bekannte Bärenjäger Johann Clemens Riegi. Ähnliches ließe sich fast aus allen Bündner Tälern, speziell aus dem Rheinwald-, dem Safien-, dem Valser Tal, aus dem Bergell, dem Misoxer-und Calancatal, dem Flüela-, dem Silvretta-, dem St. Bernhardin-, dem Umbrailpaß etc. berichten. Auch einige bekannte Persönlichkeiten fielen den Lawinen zum Opfer, z.B. im März 1596 Junker Dusch von Salis und Andreas von Hohensax, während Mathias Perl von Sta. Maria, Syn-dikus des Veltlins, auf dem Umbrail 7 Knechte und 210 Saumpferde durch eine Lawine verlor.

Auch der Kanton Tessin weiß von schweren Lawinen zu erzählen, die im Maggia-, im Livinen-, besonders aber im Bedrettotal niedergegangen sind. So wurde das Dorf Bedreüo selbst oftmals, z.B. in den Jahren 1634, 1695, 1749, 1806, 1817, 1825 und 1863, ganz oder teilweise durch Lawinenstürze verschüttet, zweimal samt Kirche, Pfarrhaus und Pfarrer. Am 7. Februar 1749 löste sich eine Lawine am Piz Lucendro und sauste nicht nur bis ins Tal hinunter, sondern setzte auch über den Tessin hinüber und fuhr auf der Südseite bis Ossasca di Sopra empor, legte einen guten Teil des Dorfes in Trümmer und raffte 13 Menschen hinweg, von welchen drei durch die Wucht des Windes „ 300 Schritte " weit über das Dorf hinaufgetragen wurden. Eine Familie von sechs Personen konnte, nachdem sie volle neun Tage unter der Lawine begraben gewesen, noch lebend hervorgezogen werden. Noch am 31. Mai 1879, nachdem längst mit der planmäßigen Verbauung der Lawinenzüge begonnen worden war, zerstörte eine Lawine in dem wenig weiter unten gelegenen Fontana die Kirche, das Gemeindehaus, eine Sägemühle und mehrere Ställe, wobei viel Vieh und eine Familie von sechs Köpfen den Tod fand.

Das Wallis nicht weniger hatte oft genug unter der Tücke der winterlichen Elemente zu leiden. So ging das Lenker Bad zweimal, 1518 und 1719, durch Lawinen unter. Im ersteren Jahr zerstörte eine solche, die vom Torrenthorn herunterkam, das ganze Dörfchen und brachte 61 Bewohnern den Tod; im zweiten wurden 55 Leichen herausgegraben. Ein Knabe namens Stephan Rot, der in einem Keller verschüttet lag und, als er über sich schaufeln hörte, unaufhörlich sang und betete, bis man ihn hörte, wurde am achten Tage gerettet, starb aber in der darauffolgenden Woche an den Nachwehen seiner Leiden. Am 18. Februar 1720 wurde das Dorf Obergestelen, als die Bewohner Sonntags eben aus der Kirche gekommen waren, mit 120 Gebäuden, 85 Menschen und 400 Stück Vieh die Beute einer riesigen Lawine, die den Himmel völlig verfinstert hatte. Dabei wurde das große Haus des Major Tafener in die Luft gehoben, bevor es zusammenstürzte. In dem übereinandergeworfenen Haufen von Häusern brach Feuer aus und, um das Elend voll zu machen, staute der Lawinenschnee die Rhone dermaßen auf, daß sie ringsum alles überschwemmte und den zu Hülfe Eilenden den Zugang verwehrte. Hundert Jahre später, nämlich im Jahre 1827, suchte eine Staublawine das Dorf Biel heim, verschlang 40 Menschenleben und vernichtete den größten Teil der Häuser; und 1849 wurden in Saas Grund trotz eiliger Flucht der Bewohner 27 derselben von einer Lawine ergriffen und 18 davon getötet. Die furchtbarste Katastrophe aber traf das Städtchen Martinach. Scheuchzer schildert sie folgendermaßen: „ Anno 1595 den 4. Mai haben sich bei Martinach etliche Schneelauwen mit großem Geprassel in den Fluß Roddan gestürzt, also daß das Wasser aller Orten aufgeloffen und in gedachtem Flecken in die 500 Häuser samt mehrtheils Menschen und Vieh zugrund gegangen, der Flecken Brenz aber dermaßen verflößt worden, daß daselbst keine Anzeigung eines bewohnten Gebäudes mehr anzutreffen und das Dorff Banien mit 140 Personen verschluckt, auch alle Brücken von Martinach bis St. Moritzen niedergeworfen und zerrissen worden. "

Auch im Kanton Glarus haben oft genug Lawinen übel gehaust, besonders im Sernftal. In der Erinnerung der Bevölkerung leben noch manche fort, so z.B. eine aus dem Jahre 1817, die in Netstal eine Menge Häuser abdeckte und u.a. auch das Schulhaus des Daches und der Treppe beraubte, so daß die darin versammelte schreiende Jugend vermittelst Leitern heruntergeholt werden mußte. Der Schaden bezifferte sich auf Fr. 150,000. In den Dreißiger- oder Vierzigerjahren desselben vorigen Jahrhunderts war am selben Ort in der Neujahrsnacht eine fröhliche Gesellschaft in einem Gasthaus versammelt und sang eben das Lied: „ unter meinem Dache leb'ich froh und still ", als plötzlich eine Lawine das Dach über ihr hinwegschleuderte; und in den Fünfzigerjahren flog infolge einer solchen ein ganzer Kreuzstock samt den Fenstern ins Zimmer, in welchem der Pfarrer schlief, so daß er mit genauer Not dem Tode entging. In Schwändi wohnte jenseits des bekannten malerischen Dörfchens von Ziegenställen bei Ennetecken eine Witwe Zopfi mit sieben Kindern. Am 8. März 1817 begab sich der älteste Sohn zu einem nahe gelegenen Stall, als er plötzlich über sich eine Lawine vom Glärnisch durch die sogenannte Guppenruns gegen den Stall herunterkommen sah. Mit dem Ruf: eine Lawine! eilte er zum Hause zurück. Ebensoschnell aber war auch die Lawine schon da, drückte das Haus zusammen und begrub es samt seinen Bewohnern. Sofort eilten 200—300 Männer mit Schaufeln herbei, um den Verunglückten Hülfe zu bringen. Bei der Ungeheuern Masse von Schnee war es jedoch erst am Nachmittag des folgenden Tages möglich, sie herauszuholen. Sie waren alle entseelt. Nur ein schwarzes Kätzchen kroch unversehrt aus dem Schneegrab hervor. Daß auch das Berner Oberland, der Kanton Uri, das Appensseller-land und die übrigen Hochgebirgsgegenden der Schweiz wissen, was Lawinen sind, ist selbstverständlich; doch sind mir besonders bemerkenswerte nicht bekannt. Dagegen führe ich noch einige Kuriosa an. In Tschiertschen im Schanfiggertal wurden im Februar 1695 zwei Sennen, die ihre Tausen mit frischgemolkener, noch warmer Milch am Rücken trugen, miteinander von einer Lawine fortgerissen. Der eine wurde gerettet, weil bei seinem Sturze der Deckel der Tause aufging und die ihm über Kopf und Nacken rinnende Milch ihm den Schnee um Mund und Nase löste; der andere dagegen, dessen Tause geschlossen blieb, wurde tot hervorgegraben. In Baien im Wallis verdankte eine im Jahre 1741 mit 18 andern von einer Lawine verschüttete Frau ihre Rettung dem Umstand, daß sie ihr Spinnrad im Arm hatte, das zwischen ihrem Gesicht und dem Schnee einen das Atmen ermöglichenden freien Raum schuf. 100 Stunden hatte sie, als man sie ausgrub, unter dem Schnee zugebracht; ihre Schicksalsgenossen waren alle umgekommen. Im Unglücksjahr 1720, das sich durch besonders zahlreiche Lawinenkatastrophen auszeichnete und u.a. im Dorfe Muäras des Tavetscher-tales in einem Augenblick 60 Gebäude, 100 Menschen und 237 Stück Vieh vernichtete, blieben etliche Familien dadurch verschont, daß ihre am Ende der Flugbahn der Lawine gelegenen Häuser nur ganz sachte und langsam fortgehoben und zugedeckt wurden, weil die Wucht des Ansturms sich an den höher gelegenen Häusern gebrochen hatte. Die guten Leute waren nicht einmal aufgewacht und merkten erst, als es immer nicht Tag werden wollte und sie in undurchdringliche Finsternis gehüllt blieben, daß sie unter einer Lawine begraben lagen. Daß es auch sonst bei den Lawinen gelegentlich nicht an Komik fehlt, zeigt uns jener Bauer von Soglio im Bergell, der sich 1669 vor einer solchen hinter eine Mauer flüchtete, dem aber der Schnee dennoch so in die Gewandung eindrang, daß Hemd und Beinkleider davon vollständig angefüllt wurden und er, mit einem steinharten Schneepanzer umgeben, als wandelnder Eiszapfen sich nur mit Mühe und Not nach Hause schleppen konnte. Ähnlich erging es vor wenigen Jahren in Netstal einem Handelsreisenden, der, als eben am Wiggis eine Staublawine niederging, um sie besser sehen zu können, sich wichtig auf einer Mauer aufpflanzte, oben angelangt aber plötzlich mit samt seinem Musterkoffer hinuntergefegt wurde und dann, von oben bis unten mit Schnee gefüllt, zum Gelächter der Umstehenden in kläglichem Zustand aus dem Straßengraben aufgehoben wurde.

Wie die Dorfgeschichte im kleinen, so hat aber auch die Weltgeschichte im großen wiederholt das Eingreifen der Lawinen in die Ereignisse, speziell bei Kriegszügen, zu erfahren Gelegenheit gehabt. Denn Lawinen waren es doch wohl mit, die 218 v. Chr. beim Zug Hannibals über den Mont Cenis oder den Kleinen St. Bernhard ihm nicht nur fast sein ganzes Zugvieh und die Saumtiere, sondern auch einen ansehnlichen Teil seiner aus Libyern und Spaniern bestehenden, an die Schrecken des Hochgebirges nicht gewohnten Armee dahinrafften. ( Vgl. Livius XXI, 35: Nivis tot hominum jumentorumque incessu dilapsa est etc.Auch beim Übergang Napoleons I. über den Großen St. Bernhard und seiner Generale über Simplon, Gotthard und andere Pässe im Frühjahr 1800 ging es nicht ohne Lawinenstürze ab. Mußte doch Béthencourt am Simplon mit 1000 Mann an einer gefährlichen Felswand von einem Tobel zum andern hinüberklettern, weil Lawinen Brücke und Straße weggerissen hatten. Und Macdonald, der im November desselben Jahres eine Heeres-abteilung über den Splügen führte, verlor im Cardinellotobel südlich der Paßhöhe ganze Kolonnen, die von plötzlichen Schneestürzen in die Tiefe geschleudert wurden. Ein vom Luftdruck fortgetragener Trommler wirbelte nachher noch stundenlang im Abgrund fort, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber vergebens. Niemand konnte ihn retten.

Traf das Unglück hier Fremde, so wurden dagegen eidgenössische Truppen im Mailänder Zug von 1478 davon betroffen. Beim Übergang über den Gotthard wollten die ca. 1000 Zürcher, wie sie es heute noch lieben, „ stark die Vordersten sein ". Da riß sich plötzlich eine mächtige Lawine los, fegte ihrer 60 rettungslos in den Abgrund hinab und dämpfte damit den Übermut. Zwei Dezennien später, im Schwabenkrieg, führte der französische Gesandte, der Baillif von Dijon, eine Schar von Schweizer Söldnern über den St. Bernhard nach Italien. Davon wurden nahe bei der Paßhöhe am 16. März 1499 gegen 100 Mann von einer Ungeheuern Lawine jählings dahingerafft. Am andern Ende der Schweiz dagegen waren es die Feinde, denen das weiße Element übel mitspielen zu wollen schien. Als da im Juni desselben Jahres die Landsknechte Willibald Pirkheimers, gegen 10,000 Mann stark, frohen Mutes vom Ofenpaß herunter gegen Zernez zogen, um sich des Oberengadins zu bemächtigen, brach plötzlich am Piz Nuna eine Lawine los, warf sich unter fürchterlichem Krachen auf die kaiserliche Schar, deckte 400 Mann zu und schleuderte sie über einen weiten Abhang hinunter in die Tiefe. Als aber der Schneestaub sich verzogen hatte und alles stille geworden war, wurde es auf einmal im Schnee lebendig, und unter allgemeiner Heiterkeit kroch hier einer und dort einer der Fortgerissenen aus der Schneemasse hervor, der eine des Helms, der andere der Schuhe, die meisten ihrer sämtlichen Waffen beraubt, alle aber noch bei Leben. Trotz diesem vergnüglichen Ausgang machte das Ereignis aber doch einen so tiefen Eindruck auf Führer und Soldaten, daß sie es geraten fanden, vor solchen Verbündeten der Talbewohner rechtzeitig das Feld zu räumen, und ohne Schwertstreich ins Tirol zurückkehrten.

Gedenken wir endlich noch des abenteuerreichen Zuges Suworows über den Panixerpaß in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober 1799. Da waren es im Bunde mit allen andern Unbilden der Natur, Dunkelheit, Sturm, Nebel, Kälte, Steinschlag und Pfadlosigkeit, nicht zum wenigsten auch die Lawinen, freilich die meist selbst erzeugten, denen Hunderte der halb verhungerten Russen samt ihren Pferden zum Opfer fielen. Unter ihren Füßen gerieten die Massen frischgefallenen Schnees in Bewegung und rissen alles, Offiziere, Mannschaften, Maultiere, mit sich in die schauerlichen Abgründe des Jätzbaches hinunter, während die ahnungslos Nachrückenden von neuen Schneemassen verschlungen wurden.

Das sind einzelne Beispiele nur von dem, was die Felsen und Täler des Hochgebirges über diese unheimlichen Gesellen zu erzählen wissen; aber sie sollten genügen, um den Gebirgswanderern die gebührende Achtung vor ihrer Gewalt einzuflößen.

Was man in der Lawine erlebt.

Schon aus den obigen geschichtlichen Notizen läßt sich manches über die Natur des zu besprechenden Phänomens entnehmen. Noch deutlicher aber werden die Vorstellungen werden, wenn wir solche, die selbst von Lawinen fortgerissen wurden, aber mit dem Leben davonkamen, uns erzählen lassen, was sie bei dem schreckhaften Ereignis erlebten.

Da ist uns denn zunächst aus der Feder des trefflichen Naturforschers Scheuchzer das Zeugnis eines Appenzellers erhalten, der im Januar des wiederholt genannten Schreckensjahres 1720 von einer am Kamor niedergegangenen Lawine, die mehrere Menschen das Leben kostete, ergriffen und nicht nur „ drei Klafter hoch " wie ein mitbetei-ligter Knabe, sondern „ bei zwei Türmen hoch " in die Luft geschleudert und über einen Buchenwald hinweggetragen worden war. Dieser Mann sagte aus, es sei ihm in den Lüften gewesen, wie wenn ihm der Bauch mit Stricken zugeschnürt und zerschnitten würde.Vor etwa 10 Jahren wurden in Ridi im Kanton Glarus 7 Holzarbeiter von einer am Saasberg losgebrochenen Lawine erfaßt und durch die Runs, durch welche sich der Weg zur Alp Hälsli emporzieht, hinuntergetragen. Sie standen ganz oben in der bewaldeten Runs auf einer Höhe von zirka 1400 bis 1500 m. in gerader Linie zwischen dem Dorf Rüti und den Sennhütten des Hälsli, als die vom Grat zwischen Hälsli und Ormeli ( Punkt 1735 des topographischen Atlas ) heruntersausende Lawine sie aufhob und, genau dem Bächlein der Runs folgend, mit sich in die Tiefe riß. Oberhalb der Liegenschaft Hintergut wurden sie abgesetzt; sechs blieben tot, einer aber kam, freilich übel zugerichtet, mit dem Leben davon. Der erzählte, er sei vom Windstoß ergriffen und von allen Seiten von Schnee eingehüllt worden, so daß er nichts mehr sehen konnte, im übrigen aber sanft und schmerzlos mit ungeheurer Schnelligkeit durch die Luft geflogen, den Kopf bald oben, bald unten, wehrlos wie ein vom Sturm verwehtes Blatt der Wut der Elemente preisgegeben. Das Einzige, was er habe tun können, war, daß er beständig mit den Händen vor Mund und Nase den Schnee wegschlug, weil ihm sonst der Atem ausgegangen wäre. Allmählich aber schwand ihm das Bewußtsein, und als er wieder erwachte, lag er unten am Rand des Lawinenschuttkegels mit zerschlagenem Bein und gebrochenen Rippen, den Folgen des Aufpralls, von dem er übrigens nichts gespürt hatte. Es dünkte ihn, das ganze Ereignis habe nur einen Augenblick gedauert. In Wirklichkeit hatte er einen Flug durch die Luft von zirka 700 m. Höhe und ebensoviel Horizontaldistanz, also jedenfalls von 1 Kilometer in der Diagonale zurückgelegt.

In seinem bereits erwähnten Buche, „ Die Lauinen der Schweizeralpen ' ', gibt Dr. Coaz, S. 86—90, die Schilderung- eines in der Schö'l-lenen aus der Lawine Geretteten wieder, der wir folgendes entnehmen: Am 19. November 1839, mittags 12 Uhr, wurde der Fuhrknecht Anton Megli von Andermatt unterhalb der Teufelsbrücke von einer Staublawine von der Straße bis an die Reuß hinuntergeschleudert. Unterwegs war er nur einmal aufgefallen. Nun lag er der Länge nach ausgestreckt im Schnee, von dem er ringsum so umschlossen war, daß er nicht die geringste Bewegung machen und nur von Zeit zu Zeit einen Atemzug tun konnte. Des Nachmittags, als Leute kamen, ihn herauszugraben, stieß ein Mann den Stiel seiner Schaufel hart am Munde des Begrabenen vorbei durch den Schnee, was bewirkte, daß der Mann nun durch das Loch Luft bekam und frei atmen konnte. Er hatte nie die Besinnung verloren, hörte deutlich den ganzen Nachmittag die Leute sprechen, auch einen sagen, mit ihm sei es aus, vermochte jedoch keinen Laut von sich zu geben. Die darauffolgende Nacht wurde ihm entsetzlich lang, seine Körperwärme brachte aber allmählich den Schnee um seinen Oberleib zum Schmelzen und verschaffte ihm vermehrte Bewegungsfreiheit, so daß er das Auge zu dem Loche drehen, den Himmel sehen und erkennen konnte, daß er etwa einen Meter tief unter dem Schnee lag. Am Morgen, als er wieder schaufeln hörte, steckte er, um den Suchenden ein Zeichen zu geben, das Rohr seiner Tabakpfeife durch die Öffnung empor und band sein rotes Taschentuch unten dran. Das Rohr wurde bemerkt und als das seine erkannt. Bald darauf sah er eine Hand durch die Öffnung herunterlangen und ergriff sie krampfhaft. Der junge Mann aber, dem sie angehörte und der Regli längst tot geglaubt hatte, erschrak darob dermaßen, daß er Reglis Hand fahren ließ und in eine lange Ohnmacht fiel. Endlich rückte die Arbeit der Schaufler näher. Da aber beim Graben der Schnee auf Regli herunterfiel, wäre er noch einmal beinahe erstickt; um 10 Uhr vormittags jedoch wurde er endlich seinem Schneegrab enthoben, konnte sich wieder bewegen, allmählich auch gehen und stehen und nach Hause geführt werden, wo in seinem Wohnzimmer bereits ein mit schwarzen Tüchern behangener Altar und brennende Kerzen zum Empfang seiner Leiche bereit standen.

Sehr ausführlich erzählt Ingenieur Gösset ( Coaz, S. 76—82 und 93 ), was er am 28. Februar 1864 am Haut de Cry südlich von den Diablerets in einer Lawine erlebt hat, die ihn samt einem Freund und 4 Führern in die Tiefe riß und dem Freund und einem Führer das Leben kostete. Sie standen angeseilt etwa 100 m. unter dem Gipfel an steilem Hange im Schnee, der an einigen Stellen hart, an andern weicher war. Plötzlich hörte er einen schneidenden Ton über sich, sah, wie das Schneefeld zu seinen Häupten einen Riß bekam, und nun fing der Boden unter seinen Füßen an, sich zu bewegen. Er sank bald bis über die Schultern ein und fuhr rücklings abwärts. Bald war er mit Schnee bedeckt und alles um ihn dunkel, und er meinte, ersticken zu müssen. Mit einem Mal kam er durch einen Stoß wieder an die Oberfläche, sah sich oben auf der Welle der Lawine und diese selbst vor sich her in die Tiefe fahren. Der Spitze ging eine dichte Staubwolke voran. Rings um ihn zischte der Schnee, und vor sich hörte er den Donner des untern Teils der Lawine. Um nicht wieder unterzusinken, brauchte er seine Arme wie bei aufrechtstehendem Schwimmen. Dann verlangsamte sich die Bewegung; er sah, wie der Schnee nahe vor ihm innehielt, fühlte, daß auch er stille stand, und hielt seine Arme in die Höhe, um den Kopf zu schützen, spürte aber zugleich, wie der Schnee von hinten auf ihn eindrang. Der Druck gegen seinen Körper war so stark, daß er erdrückt zu werden glaubte, dauerte aber nur kurze Zeit, und nun wurde er von dem nachstürzenden Schnee zugedeckt. Er vermochte seinen Kopf nicht frei zu machen, da die Lawine sofort gefror und er nun eingefroren war. Nur die Hände waren bis zu den Gelenken frei. Es gelang ihm, damit den Schnee vor dem Gesicht wegzukratzen und Luft zu bekommen, sah bald auch einen Lichtschimmer und vermochte durch seinen Hauch eine kleine Öffnung durch die feste Kruste, die sich über ihm gebildet, zuwege zu bringen, außer den Händen aber kein Glied zu regen. Nach einigen Minuten schrecklicher Stille hörte er einen der Führer rufen und antwortete. Bald hatte dieser ihm Kopf und Arme freigemacht; da er aber auch den andern Verschütteten die erste Hülfe zu bringen hatte, dauerte es 20 Minuten, bis die drei geretteten Führer daran gehen konnten, Gösset herauszuhelfen, wobei der Schnee, mit dem er zusammengefroren war, mit der Axt bis zu seinen Füßen herausgehauen werden mußte. Gösset schätzt die Dauer der Bewegung der Lawine auf ungefähr eine Minute, die von ihm zurückgelegte Strecke auf 570—588 m.

Schließlich sei es gestattet, hier auch noch ein ähnliches eigenes Erlebnis mitzuteilen. Am 14. Juni 1875, als noch der gesamte Winterschnee auf den Bergen lag und darüber eine ansehnliche Schicht Neuschnee gekommen war, bestieg ich mit Führer und Gemsjäger Christian Jaggi von Lenk, dem spätem Wildhüter, das Wüdhorn, um ein bei früheren Besteigungen begonnenes Panorama von diesem herrlichen Gipfel fertig zu zeichnen. Wir hatten in der Gegend, wo jetzt die Clubhütte steht, im Freien übernachtet, bei schneidender Kälte viele Stunden auf dem Gipfel zugebracht, auf dem Abstieg den steilen, stark zerschrundeten Absturz des Wildhorngletschers beim Kirchli ( 2791 m ) glücklich überwunden und standen nun, zirka 2670 m. hoch, zu oberst auf der gegen Norden ins Iffigental abfallenden Gletscherzunge, die damals noch bedeutend mächtiger war als heute. Ich hatte sie so oft begangen, daß ich sie nach allen Seiten genau zu kennen glaubte, versprach mir von der Niederfahrt eine herrliche Rutschpartie und schlug deshalb vor, uns loszuseilen und stehend am Bergstock die Rutschpartie zu unternehmen. Jaggi war einverstanden. Es war etwa 3 Uhr, der Schnee vortrefflich, nur eine Hand tief weich, darunter fest und anscheinend sicher. Ich ging voran, der Führer etwa 10 Schritte hinter mir. Fröhlich und unter Jauchzen setzten wir uns in Bewegung, und es ging flott bergab. Plötzlich aber begann der Schnee mir unter den Füßen zu weichen, und ehe ich mich 's versehen, war ich bis an die Knie, dann bis zu den Hüften und zuletzt bis unter die Arme eingesunken; die ganze Masse um mich her war in Bewegung geraten und riß mich unaufhaltsam fort. Hinter mir rief Jaggi mit herzdurchdringendem Angstschrei: Wir sind verloren! und in sausendem Tempo ging 's nun unter dem Zischen, Rauschen und Krachen der entstandenen Lawine der Tiefe zu. Überraschend schnell war die Sache gekommen; aber ich war mir des Ernstes der Situation sofort bewußt, und mein erster Gedanke war: jetzt gilt 's, kaltes Blut zu bewahren und den Kopf oben zu behalten. Tief unter mir sah ich den lieblichen Iffigensee wie ein blaues, gen Himmel gerichtetes Auge daliegen; das Niesenberghorn und das Iffigenhorn zur Linken, das Schneidehorn und der Seltenschon zur Rechten leuchteten in prächtigem Sonnenglanz, und ich fragte mich, ob sie mir wohl zum Tode leuchten. Indessen nahm ich meine ganze Kraft zusammen, um die Geistesgegenwart nicht zu verlieren. Aufrecht, aber ohne je festen Boden zu spüren, fuhr ich in der brodelnden Masse dahin; der Schnee jagte stäubend vor mir her und drängte von hinten und von den Seiten auf mich ein. Die Bewegung in der Masse war sehr ungleich. Oft war sie oben schneller; dann lief ich Gefahr, Kopf voran in die Masse hineinzustürzen, oft unten; dann riskierte ich, rücklings darein zu liegen zu kommen. Im einen wie im andern Falle wäre ich unrettbar verloren gewesen. Das war mir klar. Darum arbeitete ich mit aller Macht, mich aufrecht zu halten, hielt den Bergstock in Mundhöhe, wie eine Balancierstange horizontal mit beiden Händen je nach Bedürfnis vor mir und bewegte ihn bald rechts, bald links, bald nach unten oder oben; ebenso stampfte und balancierte ich mit den Füßen wie bei aufrechtem Schwimmen und suchte beständig die Augen offen zu behalten, obwohl mir der Schnee von allen Seiten ins Angesicht flog und den Atem benehmen wollte. Plötzlich schien die Sache eine schlimme Wendung nehmen zu wollen: ich spürte, wie von hinten eine schwere Masse sich mir auf die Schultern und den Tornister legte und mich rückwärts hinunterzog, so daß ich kaum mehr imstande war, das Gleichgewicht zu bewahren. Da glaubte ich mein Ende gekommen; und wie man in solchen Augenblicken in einer Viertelsminute mehr denkt als sonst in einer Viertelstunde, hielt ich rasch Rückschau auf mein bisheriges Leben. Ich war 32 Jahre alt und zählte mich zu den glücklichsten unter den Menschen. Ich dachte an mein liebes Weib, meine zwei kleinen Kinder, meine Eltern, Geschwister und Freunde, an den Jammer, der über die Meinen kommen werde, wenn ich nicht mehr heimkehre, und wie man mich und Jaggi suchen werde, ohne uns je wieder zu finden. Ich dachte an mein Amt, meine Zukunftspläne, meine Studien, auch an das Wildhornpano-rama in meinem Tornister, an dem ich auf einer Höhe von 3264 m. in bitterster Kälte so tapfer gearbeitet hatte und das jetzt nach seiner Vollendung verloren sein sollte. Ich betete, dankte Gott für mein schönes Leben, befahl ihm meine Seele und nahm dann gestärkt und mit ruhiger Entschlossenheit den Kampf mit den Elementen weiter auf. Mit ausgebreiteten Armen warf ich mich nach vorn, und siehe da: ich lag wie schwimmend obenauf und erwog, was ich zu meiner Rettung tun könnte. Da gewahrte ich tief unten mitten im Gletscher, immerhin mehr auf seiner nördlichen Seite, einen großen Felsblock, der in der Richtung der Lawine lag. Noch einmal raffte ich alle Kräfte zusammen und ruderte nun mit dem ganzen Körper und dem Bergstock zielbewußt auf diesen Felsen zu. Es gelang mir, mich mehr als bisher in die linke ( nördliche ) Hälfte der Lawine durchzuarbeiten, und fing an, wieder zu hoffen. Noch aber war eine weite Strecke bis zum Felsen zurückzulegen. Die Talfahrt ging aber mit immer reißenderer Schnelligkeit vonstatten. Unterwegs drohte mir noch einmal Gefahr; ein Schneestrom, der von der linken Seite auf mich drückte, drohte mich umzudrehen und auf die Seite zu legen. Aber nochmals kam es mir zustatten, daß ich Turner gewesen war. Ich vermochte mich aufrecht zu halten, und nun ging 's direkt auf den Felsen los. Ich konnte mich dran halten, rasch die obere Kante ergreifen, den Bergstock hinaufwerfen und mich wenigstens ein bißchen emporheben.

Es war hohe Zeit; denn die Kräfte wollten mich verlassen, und die nachdrängende Masse drückte meine Beine so fest an und unter den Felsen, daß sie mich wie mit Klammern anbefestigt dünkten und ich sie nicht mehr rühren konnte. Die Gefahr einzufrieren erkennend, raffte ich mich zu einer letzten Kraftanstrengung auf und war imstande, mich auf den Felsen hinaufzuziehen, und damit war ich für einmal gerettet. Ich war auf den Tod erschöpft; die Oberarme und Oberschenkel dünkten mich schwer wie von Blei, wie mit Hämmern zerschlagen und gelähmt. Ich hatte Mühe, Atem zu finden; zuletzt gelang es aber doch, und nachdem ich den Schnee aus Gesicht und Augen gewischt und gehörig Atem geschöpft, sah ich mich nach meinem braven Führer um, und siehe: da kam er ganz oben in der tobenden, brausenden Lawine, auf dem Rücken liegend, herangetrieben. Ich sah zunächst nur sein spitziges Kinnbärtchen und seine ebenso spitzige Nase senkrecht aus der Masse in die Höhe starren; dann wurden auch seine Augen sichtbar; sie waren halb geschlossen und schienen gebrochen. Er regte sich nicht, und ich hielt ihn für tot. Nun trieb es ihn, der offenbar beständig in der durch mich entstandenen Furche dahingeglitten war, die Füße voran, ganz in die Nähe des Felsens. Rasch entschlossen, legte ich mich auf den Bauch, konnte mit der Spitze des Bergstocks eben zu Jaggi gelangen, stupfte ihn an und rief ihm, so laut ich in meiner Erschöpfung es vermochte, zu: Jaggi, haltet euch! Da öffneten sich seine Augen; er erwachte wie aus einem tiefen Traum und konnte den Stock erfassen. Ich half ihm mit Stock und Händen, und so kam auch er, wiewohl mühsam, zuletzt glücklich herauf, und nun lagen wir beide da auf dieser kleinen Insel, kaum mehr einer Bewegung fähig, todesmatt und schweigend, indessen unter uns, neben uns und' hinter uns die Lawine, die wir beim Rutschen unter unsern Füßen selber erzeugt hatten, weitertobte, einmal über das andere aufs neue losbrach und einen tiefen, breiten Graben in den Gletscher fraß, in dessen Tiefe reichliches Wasser floß. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie ganz zur Ruhe gekommen war. Jetzt erst sahen wir, daß sie sich bis an die sogenannten Krummen Wasser hinunter ergossen und eine Bahn von fast einem Kilometer zurückgelegt hatte, wovon wir die größere Hälfte mitgemacht hatten. Nach einer Stunde fühlten wir uns ausgeruht genug, um den Weitermarsch anzutreten. Keiner von uns hatte seinen Tornister, Jaggi aber seinen Eispickel verloren. Mein Panorama und Skizzenbuch war durchnäßt, im übrigen aber unversehrt geblieben. Der eine Tornister barg noch eine Flasche Wein, die uns jetzt die gesunkenen Lebensgeister erfrischte. Das tat uns not, weil wir allmählich jämmerlich froren, da der nasse Schnee uns überall in die Kleider gedrungen war. Während der Lawinenfahrt, die etwa l1^ bis 2 Minuten gedauert haben mag, hatten wir von der Kälte nichts verspürt. Wir machten uns also marschbereit. Noch hatten wir von unserm Felsen aus etliche hundert Schritte weit über die nördliche, so unruhig gewordene Hälfte der Gletscherzunge zu gehen, um auf festen Boden zu gelangen, und mußten auf neue Gefahren gefaßt sein. Wir beschlossen, für diese Strecke unser Schicksal aneinander zu ketten, und banden uns ans Seil; ich bot Jaggi die Hand mit den Worten: in Gottes Namen vorwärts, es sei zum Leben oder zum Sterben! und schritt voran. Alles blieb ruhigbald waren wir drüben, und nun ging es still dem Tale zu. Wir hatten ausgemacht, unser Erlebnis zu verschweigen, damit uns unsere Angehörigen für weitere Touren keine Schwierigkeiten bereiten, waren wir doch selber gewitzigt genug. Als ich aber zu Hause ankam und meine Frau mich sah, fiel sie alsbald in Ohnmacht, so sehr hatte mein bleiches, erschöpftes Aussehen sie erschreckt; obwohl inzwischen fünf bis sechs Stunden verflossen waren, hatte sie uns angesehen, daß wir mit dem Tode gerungen hatten.

Verschiedene Arten von Lawinen.

Aus obigen Schilderungen geht genugsam hervor, daß die Lawinen von ganz verschiedener Art sind. Nach meinen Beobachtungen lassen sich 4 oder 5 verschiedene Arten unterscheiden: nämlich Staub-, Schnee-, Grund- und Gletscherlawinen und Einstürze von „ Gwächten ".

Jleissenwald, zirka 1280'Die Staublawinen haben ihren Namen davon, daß bei ihnen der Schnee, in Staub aufgelöst, durch die Lüfte fährt und das Material, das sie zu Tal befördern, nicht der schwere, wochen- und monatelang gelegene, kompakte Winterschnee ist, sondern leichter, körniger, meist frisch gefallener, obenauf liegender Schnee, der noch nicht Zeit gehabt hat, sich zu setzen, und deshalb auch unschwer vom Sturm aufgewirbelt werden kann. Es ist auch in der Regel eben der Wind, der sie in Bewegung setzt, und sie erzeugen selbst wieder einen Wind, der brausend vor ihnen herfährt, weshalb sie im Österreichischen Windlawinen genannt werden. Sie entstehen zu jeder winterlichen Jahreszeit, im November und Dezember so gut wie nachher im Januar oder März, und zwar meist dann, wenn Schneestürme das Gebirge durchtobt und Massen von frischem Schnee an die Abhänge und steilen Halden hingeworfen haben, so daß die Berge wie frisch mit „ Nidel " beworfen oder mit Zucker bestreut aussehen; sie »iî'lf'iVti^^ ': '!

Meissenboden führen Schnee, der, nur leicht hingesetzt, sich nicht lange halten kann und bei jedem von außen kommenden Anstoß alsbald in Bewegung gerät. Oft kommt es vor, daß der Wind mit solchem leichten, trockenen Schnee ein artiges Spiel treibt. Derselbe wirbelt anfänglich wie ein Räuchlein auf, senkt sich dann aber infolge der Schwere und gleitet nun als weiße, wirbelnde Wolke langsam, sachte und geräuschlos über die Felswände oder Schutthalden hinunter, bis er in der Tiefe angelangt ist, wenn er sich nicht vorher schon auflöst und im Wind zerstiebt. Wer davon überrascht wird, hat das Gefühl, sich in einem dichten, heftigen Schneegestöber zu befinden. Bei trübem Wetter fragt man sich oft, ob es sich um eine vom Wind getriebene Nebelschwade oder um eine Staublawine handle, so ähnlich sehen sich die beiden in Form und Bewegung an. Das ist die harmlose Staublawine.

Oft aber nimmt die Staublawine eine viel ernstere Gestalt an, nämlich dann, wenn nicht bloß der leichte, flugsandartige, pulvrige Oberflächenschnee in Bewegung kommt, sondern dieser zugleich die darunter liegenden größeren Schneemassen ergreift und, was an steilen Hängen nicht schwer ist, mit sich reißt. Da wird sie zur Schneelaioine. Es entsteht das sprichwörtliche lawinenartige Anwachsen. Der Schnee, der von einem höhergelegenen Felsenband auf den tieferliegenden herabfällt, bringt vermöge seiner Schwere alles, was er erreicht, in Gang. Die Massen, die da weichen, werden immer größer, die dadurch entstehende Erschütterung löst auch die benachbarten Schneemassen, die wachsende Schwere bewirkt eine immer beschleunigtere Bewegung, und so stürzen denn ganze Schneefelder donnernd und brausend über die Hänge und Felswände hinunter als ein weißer, gewaltiger Strom, der beim Aufschlagen auf Felsenbändern erst einen Moment aufgehalten wird, dann aber sofort mit erneuter Wucht über die darunter liegende Wand hinausschießt und den Sprung in die Tiefe nimmt. Hochauf stäubt der frische, leichtere, vorwegfliegende Schnee; vor dem massigen, schweren Strome her jagt ein gewaltiger Wind, der, lange bevor der Schnee den Talgrund erreicht hat, die Bäume niederbeugt oder entwurzelt, die Dächer aufhebt und abwirft, Ställe und Häuser vor sich her von ihrem Platze schiebt oder umstürzt und all den Schaden anrichtet, von dem oben die Rede war. In Netstal, wo zu beiden Seiten der keinen Kilometer breiten Talsohle die Berge steil emporsteigen, kann man sehr oft beobachten, wie, wenn auf der Ostseite vom Wiggis Staublawinen herunterkommen, z.B. die auf der Illustration zu Seite 272 sichtbare „ Altigerlaui ", die Bäume unten in der Ebene sich vom Winddruck zuerst gegen Osten und dann eine Weile nachher von der zurückflutenden Luftwelle gegen Westen neigen, bevor noch die Lawine selbst unten angelangt ist. Diese Art von starken, verheerenden Lawinen, die nicht Über die Lawinen.

nur leichten, pulvrigen, sondern auch Massen von schwerem Schnee mit sich führen, sind die richtigen Schneelawinen. Sie sind die häufigsten und treten in allen Größen nicht nur in den gewohnten, den Bewohnern wohlbekannten Lawinenzügen, sondern überall auf, wo nur irgend ein bißchen Schnee sich an steilen Hängen ansammeln konnte. Weil nach der Ablösung der ersten Masse immer noch kleinere nachstürzen, so dauern diese Lawinen oft einige Minuten lang. Voran fliegt, mächtige Wirbel bildend, in kreisendem Drehen eine bewegliche, beständig sich verändernde, nach außen zu allmählich dünner werdende, zuletzt zerfließende weiße Wolke. Hinter ihr folgt, von ihr oft teilweise verdeckt, unter einem Krachen, das alles erzittern macht, der erste mächtige Schuß der in Bewegung geratenen Massen und dann, gleichmäßiger und ruhiger werdend, wie ein milchweißer Bach oder Wasserfall, eine ganze Weile dauernd, aber mehr und mehr abnehmend, immerhin zuweilen auch zu neuem Anlauf sich aufraffend, die nachstürzende Menge und rauscht und braust und donnert so lange, als eben noch etwas herunterkommt. Zuletzt liegt alles ruhig unten und bildet einen harten, kompakten Schneewall oder Schneekegel, der allmählich zu unterst vereist und nicht selten bis in den Sommer standhält. Das Schauspiel, das diese Lawinen dem Auge darbieten, ist, namentlich wenn die Sonne hineinscheint und ihre blitzenden Strahlen auf den tausend Schnee-stäubchen der wirbelnden Wolke tanzen läßt, ein ganz entzückendes, oft imposantes und großartiges, so daß man sich daran nicht satt sehen kann, weit mannigfaltiger als jeder Wasserfall, da dieser sich in seinen Bewegungen der Hauptsache nach immer gleich bleibt.

lawinen, die oft auch Staublawinen genannt werden, sind die sogenannten Grundlawinen. Sie sind Töchter und Boten des Frühlings und entstehen bei beginnender Wärme als Begleiterscheinung der Schneeschmelze. Das vom zu oberst liegenden Schnee sich bildende Schmelzwasser sickert durch die tiefern Schichten hinab bis auf den Grund, und gleichzeitig wirkt von unten herauf die immer stärker sich geltend machende Erdwärme. Dadurch wird der Schnee bis auf seine Unterlage hinunter gelöst und aufgeweicht, und es muß, wo die Unterlage geneigt ist, der Schnee ins Rutschen geraten. Ganze Strecken kommen in Bewegung; die tiefern Schneefelder hängen sich an, rechts und links liegende gesellen sich, durch die Erschütterung mobil gemacht, zu gemeinsamer Talfahrt hinzu, und so bildet sich ein immer mächtigerer Strom, der schwer und wuchtig, wenig Staub aufwirbelnd, unter gewaltigem Krachen zur Tiefe stürzt, von den Bewohnern freudig begrüßt; denn er kündigt den Sieg des Frühlings an. Der Schnee wird bis auf den Grund hinab mitgenommen, so daß er apere Erd- oder Felsenflächen zurückläßt. Oft führen diese Lawinen auch aufgeraffte Erde mit und sehen dann schmutziggelb oder braun aus. Sie stürzen örtlich und zeitlich mit einer gewissen Regelmäßigkeit, bilden im Lauf der Jahre tiefe Schurfrinnen, ziehen nur durch diese, die sogenannten Lawinenzüge, in denen niemand sich ansiedelt, und gehen zu ganz bestimmten Tageszeiten, je nachdem die Sonne gewirkt hat, nieder, die an den Nordabhängen ( wie z.B. die „ Schüssellaui " in Grindelwald ) nicht selten selbst in der Nacht. Erfahrene Gebirgsbewohner vermögen oft fast bis auf den Tag und die Stunde ihr Kommen vorauszusagen, während die Schnee- und Staublawinen unregelmäßig und unbestimmbar sind.

Eine besondere Art bilden die Gletscherlawinen, Abbruche von Eismassen, die infolge des langsamen Vorrückens des Gletscherstromes, dem Gesetz der Schwere folgend, in die Tiefe stürzen, wenn sie über Felswände hinausgeschoben werden, und dann im Sturze zertrümmern, bei vielfältigem Aufschlagen auch wohl in tausend kleine Teile auseinander-fahren und zuletzt wie eine Staublawine im Tale anlangen. Solche Gletscherlawinen waren z.B. an der Lenk sehr häufig zu sehen, als die nördliche Zunge des Räzligletschers noch weit über die riesigen Flühe, die sich bei der Simmenquelle auftürmen, heraus- und herunterhing. Sie bilden die Gefahr jeder Tödibesteigung, indem man an der Gelben Wand nördlich vom Bifertengletscher immer darauf gefaßt sein muß, bei der sogenannten Schneeruns einem Bombardement von Eisstücken ausgesetzt zu sein, mit dem die zürnenden Berggeister die ihre Ruhe störenden Touristen zu empfangen belieben. Sie haben, weil unberechenbar und nicht vorauszusehen, schon manchen einsamen Wanderer das Leben gekostet, zumal Eisstücke viel schwerer treffen als Schnee.

Über die Lawinen.

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Meissenbodenlawine bei Elm.

Der kleinste resp. hinterste Tunnel von Süden.

Eine verwandte und eigentlich nur in der Art der Entstehung verschiedene Erscheinung sind die Einbrüche von „ Gicäch-tenu, d.h. der überhängenden Schneemassen, die sich an den Felsenzinnen bilden, wenn der Wind den Schnee über diese hinwegtreibt, ein Teil davon aber hängen bleibt und alsdann weiterer neuer, klebriger Schnee sich daran festsetzt, der in seinen untern Partien in der Regel vereist. Bei diesen Gwächten bedarf es nur einer geringen Lufterschütterung, eines Schusses, des Sprunges einer Gemse oder des Auftritts eines menschlichen Fußes, so löst sich die überhängend^ Masse und fährt als Lawine in die Tiefe. Im Tirol werden sie Schneeschilde, anderwärts auch Windschirme oder Windbretter genannt.

Ich bemerke nur noch, daß, obwohl die obige Unterscheidung der Lawinen ihre volle Berechtigung hat, die verschiedenen Arten doch im einzelnen Falle oft ineinander übergehen. So kann eine Staublawine das eine Mal reine Staublawine bleiben, das andere Mal, wenn sie schweren Schnee mit sich reißt, sich zur eigentlichen Schneelawine entwickeln und die gewöhnliche Schneelawine, indem sie bis auf den Boden hinabgreift, zugleich zur Grundlawine werden. Ebenso gestaltet sich, wie dies z.B. am Rautispitz, dessen Gipfelkante jedes Jahr, oft wochenlang, mit Gwächten behangen ist, sehr oft beobachtet werden kann, der Zusammensturz der Gwächte zu einer regelrechten Schnee- oder Grundlawine, wenn die fallenden Schnee- und Eismassen weiter unten an den mächtigen Abhängen des Berges den dort gelagerten Schnee in Fluß bringen.

Zn den Illustrationen.

Die Meißenbodenlaivinc im Sernftal zwischen Matt und Elm kommt vom Schafgrindspitz, einem Ausläufer der Bleitstöcke, und geht alle Jahrzehnte etwa einmal in solcher Mächtigkeit nieder, daß sie bis ganz ins Tal hinabdringt. Die von mir skizzierte Lawine löste sich am 23. März 1896 und folgte wie immer dem Rinnsal eines Bächleins, das aus dem Meißenwald herunterfließt. Viel zu mächtig, um sich mit diesem Rinnsal zu begnügen, entleerte sie sich auf der Südseite desselben über die Wiesen und Äcker, setzte über die Straße und den Sernf, brandete am jenseitigen Ufer empor und ließ auf eine Breite von 300 bis 400 m. einen 8 —15 m. hohen Kegel von kompaktem, hartem Schnee zurück, der erst um Pfingsten ganz geschmolzen war. Sechs Wochen lang fuhr die Post durch die drei Tunnel, die man durch ihren kalten Leib hatte bohren müssen ( von denen der südlichste 12, der mittlere 42, der größte 65 Schritte maß ), um die abgeschnittene Gemeinde Elm wieder mit der Welt in Verkehr zu bringen. Die Abbruchstelle liegt zirka 1280 m ., der Sernf 937 m. hoch; die Höhe ihres Falles betrug also 343 m. Am 19./2O. Januar 1910 kam sie fast in gleicher Mächtigkeit, und es brauchte die elftägige Arbeit von 100 Mann, um Straße und Eisenbahn wieder frei zu machen. 1896 drückte sie ein Stück Wald zu Boden und einen Stall zusammen, in welchem ein Knecht schlief, der dabei ums Leben kam. Siehe die Schlußvignette.

Die Skizze vom Schilt, von Glarus aus gezeichnet, zeigt in der Mitte die Sturmigerilawine, eine Frühlingslawine, die Ende April oder Anfang Mai niedergeht, am Fuß des „ Räßeggspitz ", eines der Schilt-gipfel, ihren Anfang nimmt, in mäßigen Absätzen, den Biegungen des Terrains folgend, in den Wald hinunterfällt, dann mit Wendung nach links ( auf dem Bilde rechts ) zum Teil unsichtbar durch eine tiefe Felsen-furche zieht, plötzlich aber donnernd über eine Felswand hinausspringt und endlich, in ihrer Wucht gebrochen, langsam und nur noch knurrend durch die künstlich verbaute „ Sturmigenruns " hinunterschleicht. Sie braucht 5 bis 10 Minuten, um von ihrer Ursprungsstelle bis zu den Nußbäumen oberhalb Ennenda zu gelangen, und legt dabei eine Strecke von zirka 1500 m. zurück. Wenn sie losbricht, rennt die Jugend von Ennenda ihr entgegen, um sich auf ihrer letzten Bahn von ihr tragen zu lassen.

Über die Lawinen.

Rechts auf dem Bilde zu pag. 256 zeigt sich die Ätzgenlawine, gleichfalls eine Grundlawine.

Daß auch der Vorderglärnisch mit seinen steilen, gewaltigen Felswänden mächtige Lawinen ins Tal entsendet, muß jedem, der diesen Berg gesehen, als selbstverständlich erscheinen. Besonders häufig ziehen sie durch die „ Jägern " und die „ Wustruns ". Die Jägernlawine bietet das typische Bild einer kleinen, schönen Staublawine. Eine von mir gefertigte Zeichnung derselben findet sich in dem eben erscheinenden Werke von Oberforstinspektor Dr. Coaz: Statistik der Lawinen in den Schweizeralpen, während ebendaselbst eine andere Zeichnung das wahrhaft großartige Schauspiel einer am 6. März 1898 durch die Wustruns niedergegangenen riesigen Staublawine, die den halben Berg ausfüllte und eine Flugbahn von nicht weniger als 7 km. durchlief, der größten, welcher die hiesige Bevölkerung sich erinnert, festzuhalten versucht hat.

Die in dem Lichtdruck zu pag. 264 wiedergegebene Haldenlaivine, die, von Glarus aus gesehen, mitten am Vorderglärnisch in östlicher Richtung direkt gegen den südlichen Teil der Stadt in den Haldenwald hinunterstürzt, bietet gleichfalls einen wunderhübschen Anblick dar und lockt die Bevölkerung nicht selten auf die Straße hinaus. Sie bricht oft etwas weiter rechts, oft etwas mehr links, als wie sie hier erscheint, oft aber auch in weit größerer Mächtigkeit los, wirft sich in drei oder vier Absätzen über die Felswände hinunter und ergießt sich zuletzt immer durch den Trichter der Haldenruns in den Wald hinab, wo sie zwar liegen bleibt, aber je nach ihrer Größe den auffliegenden Schneestaub noch weithin durch den Wald hinunter entsendet. Dieser sieht jeweilen nachher wie frisch beschneit aus.

Ein herrliches Schauspiel gewähren auch die ungemein häufig niedergehenden zwei Lawinen am Wiggis, die festzuhalten mir nach vielfachen Versuchen gelungen ist ( siehe den gegenüberstehenden Lichtdruck ): die Butzilawine und die Ältigerlawine, die sich direkt gegen das Dorf Netstal hinunter ergießen. Netstal liegt 20 Minuten von den auf der Zeichnung sichtbaren, zu Glarus gehörigen Häusern entfernt in der Tiefe. Die Butzilawine sprioht für sich selbst. Wäre sie ein ständiger Wasserfall, man würde aus der ganzen Welt herreisen, ihn zu sehen, und sagen, er habe nicht seinesgleichen. Schaden richtet sie selten an, weil ihre Wucht sich unten im Walde bricht. Die Ältigerlawine dagegen hat schon oft Häuser abgedeckt, Menschen fortgeschleudert und Bäume geknickt oder entwurzelt und weitergetragen, noch letztes Jahr in einem einzigen Wutanfall etwa 50 alte, hochstämmige Fruchtbäume hinterhalb des Dorfes vernichtet. Ihretwegen sind bei manchen Häusern und Ställen Schutzmauern, sogenannte „ Spalteggen " oder „ Überhöhen ", errichtet. Sie bricht oft schon ganz oben an der Gipfelkante des Rauti-sp itz beim sogenannten Hohen Tor, der Einsattlung zwischen der „ Hohen Nase " des Wiggis und dem Rautispitz ( auf der Zeichnung hinter jener verborgen ), los, zieht sich dann, von Glarus aus nur an ein wenig Staub, den sie auftreibt, erkennbar, bis zu den breiten Schneefeldern der sogenannten Kalberweide hinunter und springt nun, oft in einem, oft in zwei oder drei prächtigen Strahlen über die gewaltigen Felswände ins Tal hinunter, wobei sie eine Flugbahn von nicht weniger als 1800 m. Höhe, wenn erst bei der Kalberweide beginnend, doch immer noch von zirka 700 m. zurücklegt. Wenn sie in voller Breite, also so breit wie die beiden Arme der Zeichnung zusammen, unter entsprechender Staubentwicklung und machtvollem Donner zu Tale stürzt, so fühlt man sich von der Wucht und Pracht dieses königlichen Phänomens mächtig gepackt und ergriffen.

Das sind ein paar Beispiele nur von Lawinen, wie sie alljährlich zu Hunderten und Tausenden über unsere Berge herniedersausen, oft Über die Lawinen.

von Regen und Nebel oder vom Dunkel der Nacht verdeckt, jedoch deutlich genug wahrnehmbar am bald schwachem, bald lautern Donnern, für nahe Wohnende auch am Zittern der Fenster und Beben des Hauses, oft aber auch herrlich erglänzend im blendenden Strahl der goldenen Frühlingssonne und dann ein Genuß für Auge und Herz, um den die Gebirgsbewohner wahrlich zu beneiden sind. Schade, daß an solchen Frühlingslawinentagen die Täler wie das in dieser Hinsicht besonders bevorzugte Glarnerland nicht mehr von Touristen besucht sind!

Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 45. Jalirg.

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