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Zur praktischen Kenntnis der Ermüdung, speziell beim Bergsport

Die Ermüdung ist auch eines von jenen wesentlich praktischen Gebieten, über welche die Wissenschaft wenig oder nichts zu melden weiß. Sie sagt uns, es sei ein Aufbrauch der Kräfte, die Zersetzung eines chemischen Stoffes in unsern Muskeln. Der gesunde Menschenverstand, für dessen Hausgebrauch diese Erkenntnis genügt, hat die Sache registriert und ist befriedigt. Warum aber der gänzlich erschöpfte Mensch auf ein energisches Kommando-wort, auf den Rhythmus einer Militärmusik sich plötzlich wieder entmüdet und dann noch stundenlang weiter seine Arbeit tun kann, das vermag die Theorie des zersetzten chemischen Stoffes unmöglich zu erklären.

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In der strengen Arbeitsteilung unserer Werkplätze und modernen Betriebe wurden unsere Energien längst aufgeteilt und jede an ihren besonderen Platz gestellt. Doch verblieb ein Rest, groß, umfassend, ungesondert, ein Ursinn sozusagen, diffus und ungeformt, und dessen breiter sündiger Lust zu frönen, brauchten wir den "Sport"; und wir werden ihn, in stetsfort neuen Formen, immer mehr brauchen. Je mehr der Zahlen und Beweise werden, die das ganze Werden und Geschehen in mathematische Formeln einzuschließen sich vornehmen, desto Unerhörteres und Unerklär-licheres wird der Menschengeist im Sport ersinnen. Der Sport ist die überzeugendste Offenbarung des Vitalismus, der schranken- und gesetzlosen Lebenskraft, die überall Gültigkeit hat, wo die Wirklichkeit eine Arbeit schafft, unbegleitet durch das Odium wissenschaftlicher Marotte. Die Lebenskraft, zwar tausendmal von Bü-cher- und Kongreßweisen begraben, wird immer wieder auferstehen und den Leistungen vorstellen, die der Mensch die größten nennt, denn „ theoretisch ist jede große Tat unmöglich ".

Die Ermüdung ist auch eines von jenen wesentlich praktischen Gebieten, über welche die Wissenschaft wenig oder nichts zu melden weiß. Sie sagt uns, es sei ein Aufbrauch der Kräfte, die Zersetzung eines chemischen Stoffes in unsern Muskeln. Der gesunde Menschenverstand, für dessen Hausgebrauch diese Erkenntnis genügt, hat die Sache registriert und ist befriedigt.

Warum aber der gänzlich erschöpfte Mensch auf ein energisches Kommando-wort, auf den Rhythmus einer Militärmusik sich plötzlich wieder entmüdet und dann noch stundenlang weiter seine Arbeit tun kann, das vermag die Theorie des zersetzten chemischen Stoffes unmöglich zu erklären.

Der verdiente Kenner und Erforscher des Lebens auf den Hochalpen, Mosso, hat darum vor 30 Jahren schon angesichts der Erklärungsschwierigkeiten gesagt: „ Es gibt nur eine Ermüdung, die nervöse!" Damit hat er aber nur die chemischen oder physikalischen Veränderungen vom Muskel in das Nervengewebe verlegt, und wir stoßen wieder auf dieselben Rätsel und Unzulänglichkeiten. Denn wir dürfen heute auch das Nervensystem nicht mehr als das Gebiet der unbegrenzten Möglichkeiten ansprechen.

Immerhin hat Mosso zweifellos das Richtige gemeint, und wir können es hundertfach zwischen den Zeilen seines prächtigen Buches lesen, d.h.: „ Es gibt nur eine Ermüdung des Geistes11, d.h. nur eine ideelle und keine eigentlich materielle Ermüdung. Die materielle Veränderung gehört wohl dazu, ist aber dabei bloß Äußer-lichheit und Nebensache. Mit materiellem Maßstab kommt man dem Wesen der Ermüdung nicht bei, so wenig überhaupt die Formel der Wissenschaft das Wesen irgendeiner Lebenserscheinung ganz aufnimmt.

Deshalb ist ihre Erkenntnis eine unbefriedigende und daher auch ihre Hülfe eine mangelhafte und unzuverlässige. Die Wissenschaft lehrt uns wohl, dem Herz, der Atmung, den Muskeln zu helfen, sie hat belebende Einspritzungen, künstliche Atmung, Massage angewandt, und trotzdem ist die Erschöpfung nicht aufgehalten worden und hat ihre Opfer gefordert: Opfer an kostbarer Zeit, an Wohlsein, guter Laune und Selbstvertrauen, aber auch an Leben und Gesundheit.

In unserer alpinen Unfallstatistik nehmen die Ermüdungskatastrophen vor den „technischen" Zufällen aus rein äußerer Ursache schon die erste Stelle ein, und die Hast moderner Zeitausnützung bedingt auch weiter ihre erschreckende und stetige Zunahme.

So findet sich die Praxis schon lange vor dem zwingendem Imperativ dieser Frage, die keine so einfache ist, wie sie vielleicht oft scheinen mag. Sie hat eine philosophische und eine praktische Seite. Für uns, als Bergsteiger, Soldaten und Touristen, kommt selbstredend vorzüglich die letztere in Betracht, die wir jedoch nicht erschöpfen können, ohne auch die philosophische zu tangieren.

Der Anstoß zu jeder Willenshandlung geht vom Gehirn aus. Jede Muskelkontraktion, als welche sieh letzten Endes die Willenshandlung immer manifestiert, wird vom Bewußtsein befohlen und eingeleitet. In diesem aber erscheinen uns die Arbeitsmotive zuerst als eine unendliche Mannigfaltigkeit von Einflüssen, die wir alle als äußere bezeichnen dürfen.

Nach dieser Vielgestaltigkeit der äußeren Faktoren, denen scheinbar der bloße Zufall präsidiert, bezeichnen und klassieren wir denn auch die Arbeit unseres Alltags. Sie findet ihre Motive in den Mitteilungen, die dem Gehirn durch die Sinnesorgane werden: ein Stein, auf den wir unsern Fuß setzen wollen, ein Geländer, das unser Gleichgewicht stützen soll, ein Schweißtropfen, den wir abwischen möchten, oder selbst eine Herzensregung, die nach einer Blume uns bücken läßt. Und obwohl ein tieferer Zweck jeder Arbeit zugrunde liegen mag, obwohl wir wissen, daß jede Anstrengung einer vorliegenden Idee folgt — das immer wechselnde, scheinbar zufällige Kaleidoskop der Momentbilder begleitet doch allein die wirkliche Arbeit und gibt die Motive zu der Muskeltätigkeit, während Zweck und Grundidee kaum etwas in dieser Detailarbeit zu tun bekommen, ja uns meist jämmerlich im Stiche lassen.

Über das Maß von Gewohnheit und Übung hinaus ist es Sache des Bewußtseins, jede Muskelarbeit zu befehlen und zu regulieren. Innerhalb des Bereiches des Angewöhnten oder Eingeübten geht die Arbeit den Abkürzungsweg, ohne im Bewußtsein vorzusprechen. Die meiste Arbeit geht diesen Weg durch das Unterbewußtsein, die sich eben dadurch als leichte und mühelose kennzeichet. Über das Maß von Übung und Angewöhnung hinaus, also praktisch gesprochen namentlich bei längerer Wiederholung derselben Muskelbewegung, werden dem Bewußtsein sofort die überstellenden Arbeitswiderstände gemeldet. Dieses übernimmt sodann die Arbeits-leitung, und dies bildet dann eben das erste merkliche Zeichen der Ermüdung. Bei einem Marsche oder beim Bergsteigen wird zuerst während einer individuell sehr verschieden langen Zeit der Organismus von selbst Bescheid wissen, ohne daß das Bewußtsein mitzuhelfen braucht: der Fuß spreizt in eben richtiger Weise, findet von selber die rechte Stelle zum Aufsetzen, vermeidet geschickt Hindernisse und Schwierigkeiten, der Rumpf findet ohne weiteres sein Gleichgewicht und Ann und Bein den richtigen Takt und Rhythmus — und dies alles ganz unbewußt. Auf einmal ist dann diese schöne Harmonie gestört. Ein Stoß, ein Ruck, oder öfter noch ein Halt, eine allzulange Ruhepause, haben dann die Automatie gestört: man merkt, daß es hier und dort weh tut, daß ein Schuh drückt, daß ein Bein schwer geworden. Das Bewußtsein ist in Aktion getreten. Es wird mit einem Motiv, das es aus der Erfahrung holt, den Fehler korrigieren. Es weiß, daß und wie es ein andermal auch gegangen ist, erinnert sich einer Mitbewegung, eines anderen Auftretens etc. d.h. es nimmt sich zusammen. Die Arbeit wird wieder ins Unterbewußtsein hinab-gedrückt, das sie wieder für einige Zeit in spielender Automatic beschwerdelos erledigt. Dieses Zusammennehmen bedeutet aber ein Aufrufen immer neuer Motive, eine Mobilisation immer frischer Bilder als Unterstützungskräfte. Die ganze Lebenserfahrung, unsere Erlebnisse, Bildung und Erziehung treten in Funktion, um die Arbeit weiter und zu Ende zu leiten. Zu jeder Muskelkontraktion geben sie ihre Meinung und ihren Zuspruch, ihre Ermunterung und ihren Trost. Mechanisch führt so das Bewußtsein mit seinen Motiven der Erfahrung die Arbeit der ersten Ermü-dungsphase weiter.

Die wieder merkbar werdenden Hindernisse, Widerstände, das Ungewohnte, der Schmerz bilden dabei die sich stets vermehrenden Warnungs- und Haltesignale, und ihr häufigeres Auftreten bedeutet denn auch meistens den'Abbruch der Arbeit und das Aussetzen der Anstrengungen, obgleich dies erst der Auftakt der Mühe ist, und die beste und größte Arbeit erst jenseits dieser Schwelle getan wird.

Wir müssen in der Tat zu den sogenannten unproduktiven Leistungen des Militärs und des Sportes greifen, um diese wirkliche Arbeit zu studieren.

Das Zusammennehmen aus äußeren Gründen, Erfahrung und Erinnerung, wird mit fortschreitender Ermüdung immer schwerer. Gedächtnis- und Reproduktionsfähigkeit haben mit zunehmender Ermüdung rapid abgenommen. Ein Komplex um den andern ist aus der Erinnerung verschwunden. Alles Oberflächliche, lose Haftende, was uns der Tag in den Weg wirft, ist weggeschwemmt. Die Namen, die Zahlen, die zufälligen Tagesgeschehnisse zuerst, bald und schnell aber ist auch vieles mehr ausgelöscht und weggeblasen, was wir zum solidesten Besitzstand unseres Geistes zählten. Ja, sagen wir es offen, unsere ganze Bildung und unser gesamtes Wissen ist nicht mehr habhaft und verfügbar. Die eben noch laut diskutierende Truppen-kolonne ist dann plötzlich schweigsam geworden; von der mutwilligen und geistsprühenden Touristenschar hörst du nichts mehr als das Aufsetzen der Pickeleisen und das Schreien der Schuhnägel auf dem Stein. Keiner kann mehr an die tausend bunten Dinge denken, die eben noch das Gespräch belebt haben, jeder ist mit sich beschäftigt! Ja, der Erinnerungsdefekt kann so groß werden, daß Umgebung, Kameraden, Ziel und Zeit vergessen werden. Die Höhe wirkt hier gleichsinnig wie die Ermüdung. Auf den Bergen sieht man denn auch diese Erscheinung so häufig und in so typischer Weise ablaufen, daß es uns wundernehmen muß, wie wenig Laien und Gelehrte dieses Phänomen mit seinen tausend Parodoxen und Konsequenzen keimen oder würdigen, obgleich sicherlich der Hauptreiz jedes Sportes, und vornehmlich des Bergsportes, auf solchem tiefsten Erleben fußt, da die Außenwelt und ihre lärmende, billige Aufdringlichkeit nicht mehr ist, und der Mensch sich auf sich selbst besinnen kann.

Aber auch die abenteuerlich-romantischen Begebenheiten, die um Biwakfeuer und in Clubhütten gehört werden, sie weisen eindeutig auf diese gesetzmäßig geistige Beeinflussung durch Ermüdung und Höhe, und wir haben in diesen „ Münch-hausiaden " oft die wertvollsten Aufschlüsse über die innersten, grundlegenden geistigen Funktionen geholt. Am bezeichnendsten ist mir hier die oft gesehene Tatsache aufgefallen, daß mehrere Individuen zu gleicher Zeit die gleiche mentale Veränderung, den gleichförmigen, ja identischen Erinnerungsdefekt zeigten. Wir haben ganze Kolonnen derart unter eine Zwangsidee treten sehen; jeder Mann unabhängig vom andern sich auf intensivste Weise mit dem gleichen Gegenstand beschäftigend, von den gleichen Dingen redend, das gleiche Lied in der gleichen Tonart summend, die gleiche Absicht tragend. Wir haben Hunderte von Beobachtungen zuverlässigster Zeugen, die diese bizarren Dinge bestätigen, deren gesetzmäßiges Eintreten nicht dem Zufall angehören kann.

"Mit einem ganzen Zug Soldaten haben wir uns vor zwei Jahren unter der hartnäckigen, unwiderstehlichen Zwangsidee befunden, wir marschierten gegen Freiburg, während wir weit entfernt im Aargau uns befanden. Bei Freiburg aber hatte vor mehreren Jahren unser Bataillon einen ermüdenden Nachtmarsch getan."

"In den Felsen des Rottales an der Jungfrau haben beim mühsamen Aufstieg zwei Freunde plötzlich beide mit unwiderstehlicher Gewalt von einem vor etlichen Jahren verunglückten Kameraden sprechen müssen, und zwar so, als ob er noch am Leben und gesund wäre. Und alle Korrektur half nichts, die falsche Idee schnappte immer wieder ein, alles seit sechs Jahren Erlebte war ausgelöscht, und die beiden Freunde befanden sich, während sie in Wirklichkeit schwere Kletterarbeit in vereisten Felsen bewältigten, im Geiste ganz in jener fernen Zeit, vor ihrem Examen."

Von einem ganz charakteristischen Erinnerungsausfall berichtete uns vor einem Jahre Herr Prof. Schottelius. Er war beim Abstieg vom Matterhorn auf einmal ganz erstaunt, seinen Bruder, mit dem er die Besteigung gemacht und mit welchem er seit drei Wochen auf Hochtouren war, hinter sich am gleichen Seile zu sehen. Am Abend und noch am nächsten Tage, da er in der Schönbühlhütte doch das Matterhorn, von dem er eben zurückkam, vor sich hatte, konnte er unmöglich auf dessen Namen sich besinnen. „Es war im Gehirn einfach kein Haken vorhanden, um diesen Namen daran zu befestigen. Vorgesprochen, war er im Augenblicke wieder ausgewischt." Dabei beschränkte sich, wie mir der über allen Zweifel erhabene Zeuge berichtete, der Ausfall enge auf die Begriffe „des Bruders und des Berges".

Wir haben als fernere eklatante Belege müde Soldaten lange Briefe an ihre verstorbenen Familienangehörigen schreiben sehen, haben ruhige und vernünftige Leute, ermüdet, in heftigste Aufregung kommen sehen ob eines Vergehens, das vielleicht niemals geschehen war, dessen auch nur eventuelle Folgen aber seit Jahren und Jahrzehnten getilgt sein mußten, und ähnliche Fälle noch viele.

Diese Märchengeschichten sollen aber nicht um des Zauberspukes willen erzählt sein, sondern sollen beweisen, daß der Erinnerimgsausfall durch die Höhe oder die Ermüdung im geistigen Vermögen eine bestimmte und eigentümliche Auslese trifft.

Der Ausfall an Gedächtnisbildern, an ganzen Kategorien von Begriffen und Motiven zeitigt nun statt der zu erwartenden Unsicherheit und Verwirrtheit das gerade Gegenteil, eine vermehrte Geschicklichkeit, ein verschärftes Sichauskennen, eine hochgradig treffende Sicherheit. Die weise Zweckmäßigkeit dabei ist einleuchtend und nicht weniger ihre Deutung. Die Tätigkeit eines ungeteilten Merk- und Spürsinns, der alle Sinnesfakultäten in sich vereinigt, ist in Kraft getreten und hat das armselige Spezialistentum der „ fünf " Sinne entlassen. Der Mensch besitzt, wie eingangs schon ausgeführt worden ist, diesen namenlosen Sinn so gut wie das Tierreich. Man braucht ihn nur nicht mit dem ominösen Begriffe „ Instinkt " zu degradieren, und man wird ihn in manchem sichern Entschluß, in allen großen Taten vor der Tätigkeit unserer schärfsten Sinne erkennen, denen wir manche Leistung zuschreiben, die ihnen gar nicht gehört.

Die Ermüdung aber, sie macht diesen umfassenden Merksinn zugänglich, indem sie alle jene Motive aus dem Willen ausschaltet, die als zufällige und äußere Bilder die kleine, aber vielgestaltige Mühe eines oberflächlichen Alltagswerkes besorgen. So kommt mit der fortschreitenden Ermüdung der Moment, wo die fünf Sinne, nach deren Sonderung wir unsere Außenwelt qualifizieren, über unser Gleichgewicht, über den richtigen Rhythmus, über Halt und Stütze nicht mehr Bescheid wissen und die Erfahrungsmotive sich als unzulänglich erweisen.

Hier kommt es nun darauf an, ob die tätige Kraft durch die tausend Einsprüche, Meinungen, Kommentare unserer Sinnenkenntnis resp.Unkenntnis hindurch und ihnen zum Trotz den Anschluß an das tiefere Motiv, an die Erfahrung unseres Unterbewußtseins findet, welche ohne Mithülfe des Intellekts, nach unbekanntem Gesetz, die Arbeit zum richtigen Ende fuhrt. Dieses unbekannte Gesetz ist aber eben jener Spür-und Merksinn, aus dessen unendlicher Erfahrung noch der letzten, größten und besten Arbeit Anstoß und Trost werden muß.

So seilen wir den Jäger, der erst müde sein muß, um sein Wild zu spüren und zu treffen, so sucht der Schütze seinen unbewußten Moment, um sicher ins Schwarze zu treffen, so gelingt manch kühner Wurf aus unbewachtem Urwillen, der später nicht nachzumachen ist. So trifft der Bergführer aus Hunderten das richtige Couloir zu einem Aufstieg ohne hinzuschauen, findet ohne Kompaß und Karte und unter deutlichster Nichtachtung aller sinnenfälligen Anhaltspunkte den Weg durch wüsteste Gletscherwildnis, über Grate und Kämme, von denen einer sich in nichts von den hundert anderen unterscheidet. Er muß oft durch den dicksten Nebel und durch das Dunkel der Nacht sehen — aber frage ihn nur nicht, „ wie " er es tut. Aus Vernunft und Überlegung wäre diese Kenntnis unmöglich, und der Zufall gäbe ihm nicht das blinde sichere Vertrauen mit, das er vor allem eignet.

Jede fortgesetzte größere Körperarbeit braucht in ihren Anstrengungen die Verfügbarkeit dieser unbewußten Leitung durch tiefere und tiefste Motive. Wenn uns auf einem kurzen Spaziergang die angenehmsten Bilder begleiten, wir denken können, was wir wollen und soviel wir wollen, wir gestützt werden von mannigfacher tröstlicher Erfahrung von gestern und heute, ermuntert von vielgestaltiger Hoffnung für morgen und ferner, so haben wir nach einer Stunde angestrengten Steigens eine sehr veränderte Geistesverfassung, ob wir vielleicht auch körperlich absolut keine Ver- änderung nachweisen können. Wir haben bei mehreren Hunderten von Soldaten und Touristen Herz und Atmungsorgane, Puls und Re-spirationszahlen unter strengster und langwierigster Arbeit registriert. Nach einem verschieden hohen Anfangsanstieg kehrten nun während der Arbeit bei den meisten diese Zahlen zu fast normal zu nennenden Mittelwerten zurück. Diese Puls- und Respirationskur-ven sind, von Mosso und Zuntz übrigens vielfach bestätigt, nichts als die treffende Illustration unserer Behauptungen. Dem intakten Körper steht aber eine wesentlich alterierte Psyche gegenüber.

Die bunten Bilder sind nun verschwunden; mühsam vermögen wir vielleicht uns noch kurze Zeit an diese und jene Erinnerung'zu klammern; bald aber sind wir ganz auf uns selbst angewiesen. Kaum daß noch der Ehrgeiz oder die Nachahmung eine Regung erpressen kann. Schließlich sprechen nur noch Lust und Schmerz zum Bewußtsein, das „ Ich und sein klebrig-gemeines Begehr".

Derart von der gewohnten Außenanregung verlassen, ohne Verbindung mit den tausend Gedanken und Aufschlüssen, an Hand deren wir sonst unser kleines Tagewerk getan haben, aufgehalten und erschreckt durch des Körpers Warnungs- und Haltesignale: hier ein wunder Fuß, ein schmerzendes Knie, dort ein strauchelndes Gleichgewicht — ermüdet sich das Gehirn, aus Erfahrung und Wissen die Bilder herbeizuschaffen, vermöge deren die kleinere Arbeit gelang! Da aber diese Bilder nicht genügen, erfolgt der Bankerott des Kräftehaushaltes bei demjenigen, der mit be-wußtem Willen die Arbeit weiterfuhren will. Die huntert Widerstände werden immer fühlbarer, immer größer — um so größer, je vielfältiger und öfter du die gewohnte Übung und Erfahrung darin vermissest, die dir sonst durch die Arbeit hindurchgeholfen hat. Der kultivierte Geist wird so zuerst umsinken, weil ihm tausend Dinge weggewischt sind, auf die er täglich Hand zu legen pflegte, und die Einfalt bleibt am längsten aufrecht, weil bei ihr niemals etwas Einspruch erhob, kontrollieren und nachschauen wollte.

Bas Merken, daß es von selbst geht, daß Überlegung und Vernunft nicht nachhelfen können, nicht nachhelfen dürfen, stellt sich dann ein. Beim einen früher, beim andern später, und je nachdem wird sich die Ermüdung gestalten. Ein langer Marsch wird dem einen so eine herrliche Bestätigung eines alten, angestammten Besitzes sein. Mit dem Fortschreiten fallen die oberflächlichen, die trivialen Dinge weg-, und aus dem Marschrhythmus steigen ungeahnte Möglichkeiten, verborgene Talente, neue Lösungen innerer Probleme in die Seele aufund der Muskelmechanismus arbeitet mit frischen Motiven rüstig weiter. Das zauberhafte Frohgefühl der Höhenwanderungen ohne Anstrengung und Ermüdung ist solch ein Durchbruch der tieferen eigenen Motive.

Dem andern aber ist der lange Marsch nur das Merkbarwerden von sich häufenden Unzulänglichkeiten und Widerständen, ein Bangen und Zagen, weil alles weh tut, weil alles kam, wie man fürchtete, weil man sich auf jene Handhaben allein verließ, die gar nicht mehr vorhanden sind.

Oft wechseln in einem Individuum die beiden Typen von einer Sekunde zur andern. Die felsenfeste Sicherheit, mit der es eben noch von selber ging, erhält durch ein Stolpern, ein Ausglitschen plötzlich einen Riß, und das Intellekt sucht aufgeregt und ängstlich zu korrigieren, zu stützen. Dadurch aber wird die Sache nur schlimmer, denn das Intellekt besitzt die Kenntnis nicht von Rhythmus, von Gleichgewicht und vom Schwungrade unserer Kraft, und da es nicht versteht, ist es hülflos und verzweifelt. Dies ist der Schwindel, der dich auf dem Grate packt, zwei Schritt vielleicht vom Gipfel, dies ist der böse Zorn, der Meutergeist, der die Maroden schafft auf der Landstraße, oft epidemieartig zu Dutzenden, während in jedem noch genug überschüssige Kraft nur darauf wartet, vorgespannt zu werden.

Solcher Art ist jede Ermüdung! Den einzelnen Muskelkontraktionen, die, unwichtig und unbeachtet, doch jede, auch die größte Arbeit zusammensetzen, fehlt der Impuls, das Motiv. Im Suchen nach demselben, im vergeblichen Greifen nach den alten Stützen, die unwertig geworden, fallen die Widerstände, Schmerz, Unsicherheit, kurz eine Menge Unlust in das Bewußtsein, und es kommt hier, hier allein, zu einer Unterbilanz der Kräfte, indem einer übergroßen „ Sollseite " nur ein minderwertiges „ Haben " gegenübersteht. Diese Bilanz aber ist eine gefälschte! Die Widerstände sind darin zu übertriebenem Kurse gebucht, während im Haben bloß die Kassenbarschaft gerechnet wurde und die große Reserve im Gewölbe vergessen ward.

Die Kenntnis der Ermüdung ist weit mehr eine praktische als eine wissenschaftliche Frage, doch hat sich die Praxis auch hier wie überall von der Wissenschaft bevormunden lassen. Sie hat dann von ihr einige anatomische und physiologische Begriffe geborgt, die ihr von den Muskelermüdungsstoffen und dem Eiweißabbau sagen. Und ob auch tausendmal als nichtsnutzig blamiert, hat diese materielle Anschauung der Ermüdung dennoch bisher auch die Behandlung der Ermüdungszustände geleitet oder vielmehr irregeleitet.

Was in den Laboratorien und Theoriesälen als Ermüdung aufgeschrieben und gemessen wird, das sind Spielereien, welche nichts mit den Anstrengungen zu tun haben, welche in Sport und Ernst die Höchstleistungen körperlicher Arbeit darstellen. Indessen aber die Wissenschaft noch den Ausdruck für die Ermüdung sucht und lange zögert, dem materiellen Geschehen einen ideellen Maßstab zu geben, hat der Praktiker längst Besitz von dieser Wahrheit genommen. Der Bergführer, der Offizier, der Sportsmannaber auch jeder, der unter Mühe und Anstrengung und nicht nur vom grünen Sessel aus die Welt zu verstehen trachtet, sie müssen diese Erfahrung nutzen.

Ein Zuruf, ein Spottwort, eine Mahnung, ein Insult vielleicht oder besser ein Marschlied — Trommel und Fanfare — sie öffnen sicherer als eine ganze Apotheke die Türen zu den Reservekräften des Organismus; sie rufen die mächtigsten Motive: Ambition und Egoismus auf, oder greifen tiefer noch in die Saiten der reichen Märchenwelt unseres innersten Seelengrundes. Unter diesen namenlosen Rhythmen wird aber die schwerste, die gewaltigste Arbeit getan, und dort finden wir eigentlich auch allein unsern Lohn und unsere Befriedigung dafür.

Wem das frohe Gelingen einmal durch die Glieder gerieselt ist, wem der Erfolg einmal das Herz geweitet hat, der weiß es auch, wer ein böses Kletterstück überwunden, wer den Fuchsschwanz sich geholt, wer ins Schwarze zu treffen weider ist es inne geworden: Nicht Preis und Palme locken zumeist. Inmitten der Arbeit haben sie, ermüdet, umsinkend, den Zugang zu sich selbst entdeckt, zu einem größern, geschickteren, besseren, reicheren „ Ich ".

Warum ist das Erleben des Soldaten so tief und so reich, da er doch nur Landstraßen und öde Kantonnemente sieht? Warum zieht es den Menschen mit unwiderstehlicher Gewalt nach den unwirtlichen Gletscherfirnen unserer Berge, nach den Verlassenheiten und Einöden des Poleises?

Weil er nach einem Glücke, nach einer inneren Erfahrung dürstet, von der er weiß oder ahnt, daß sie ihm nur aus körperlicher Anstrengung fließt und im Verhältnis zu ihr wächst, weil aus einem mühevollen Aushalten, aus einem kecken Sprung ihm einmal eine selige Erfahrung geworden ist, die ihn stark und frei gemacht hat.

Auch unsere Berge, sie weisen uns Wunder in Tieren, Pflanzen und Gestein. Aber das größte Wunder werden sie uns immer in uns selber zeigen, wenn wir in mühsamem Steigen ihre Freunde werden.

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