Eine unvergessliche Tour | Schweizer Alpen-Club SAC
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Eine unvergessliche Tour Aus dem Inneren der Petite Trotte à Léon

Eine erweiterte Umrundung des Mont Blanc in einer Woche, 300 Kilometer und 25'000 Höhenmeter: Das ist die Petite Trotte à Léon (PTL), ein Rennen im Rahmen des Ultra Trail du Mont Blanc. Unser Mitarbeiter Valentin Abbet hat mit seinem Vater Jean-Maurice an diesem aussergewöhnlichen Rennen teilgenommen und erzählt uns in sieben Etappen davon.

Neben den Zahlen sind es vor allem die technischen Passagen und die Abschnitte abseits der Wege, die die Essenz der PTL ausmachen. Die Streckenführung ändert sich jedes Jahr, es gibt keine Markierungen, nur wenige Verpflegungsposten und keine Ranglisten. Die Tour löst Bewunderung oder Unverständnis aus, sie lässt keinen kalt. «Aber was zum Teufel haben sie in dieser Hölle zu suchen?» hätte Molière gepoltert. Warum setzt man sich dem Schlafmangel, den Anstrengungen und den unvermeidlichen Schmerzen aus? Blicken wir in sieben Ausschnitten auf dieses Abenteuer zurück, um eine Antwort auf diese Frage zu finden!

1

Montag, 28. August, 7.55 Uhr, am Start in Chamonix

Die Startlinie in Chamonix. Der lang ersehnte Augenblick ist gekommen. Bereits 2015 hatten wir diese einwöchige «Bergwanderung» versucht, 2017 war sie uns gelungen. 2023 bot sich uns dann ein besonderer Anlass, um dieses Abenteuer zu wiederholen: Gönnen wir uns ein letztes Mal diese Tour zu zweit, Vater und Sohn, zum 60. Geburtstag von Herrn Abbet senior. Freude mischt sich mit Anspannung. Wir freuen uns darauf, dass es endlich losgeht. Das Herz schlägt, der Regen prasselt. Bedingungen wie aus Dantes Göttlicher Komödie. Es geht los!

2

Dienstag, 29. August, 02.30 Uhr, unweit der Aiguille Croche, oberhalb von Contamines-Montjoie

Es ist kalt. Es regnet nicht mehr, aber jetzt fallen Schneeflocken! Horizontal fliegen sie durch die Luft, eine Brise jagt sie vor sich her. Die sollte unser Gore-Tex eigentlich abhalten, aber es scheint davon nicht viel zu wissen. Links und rechts geht es steil bergab. Wir sind auf dem Grat des Mont-Joly und freuen uns darauf, nicht mehr hier zu sein. Angeblich ist es schön hier, aber das wäre nur ohne den Nebel und die Dunkelheit so. Im Moment ist es vor allem matschig und belüftet.

Am ersten Verpflegungsposten bei Kilometer 42 haben wir Kräfte für die Nacht getankt. Je weniger wir anhalten, desto weniger frieren wir, also werden wir in acht Stunden nur eine Rast von einigen Minuten einlegen, um einen Schluck Tee zu trinken. In Erwartung der ersten Hütte, wo wir uns vielleicht hinlegen können, dort, ganz am Ende der Nacht.

3

Mittwoch, 30. August, 11 Uhr, auf dem Abstieg vom Col de la Forclaz zum Kleinen Sankt Bernhard

Seit der letzten Zwischenzeit haben wir etwa 80 Kilometer und 5000 Höhenmeter zurückgelegt und zwei Stunden zu schlafen versucht. Beim einen streikt der Magen, den anderen plagen Blasen an den Füssen. Das Wetter hat sich nicht verbessert. Als wir im Hospiz des Kleinen Sankt Bernhard ankommen, sind wir durchgenudelt. Unsere Moral ist angeschlagen, es ist noch so weit und unser Vorsprung auf die Zeitvorgaben ist nicht sehr gross. Aber wie so oft in diesem Rennen muss man eine Etappe nach der anderen nehmen, einen Pass nach dem anderen, einen Schritt nach dem anderen tun.

Vier Stunden, eine kurze Dusche, ein Nickerchen und einen warmen Imbiss später haben wir wieder Mut geschöpft und schlüpfen in ein frisches Paar Laufschuhe, um trockenen Fusses zu starten. Wenn man die eigenen Grenzen überschreitet, gewinnen die einfachen Dinge an Bedeutung. Die Sonne hadert unentschlossen hinter den Wolken. Sonnencreme wird nicht nötig sein, aber endlich können wir auf Regenhosen und Mütze verzichten. Der Wind hat gedreht, das verleiht uns Flügel!

4

Donnerstagvormittag, 31. August, 13.30 Uhr, am Ufer der Laghi di Bella Comba, hinter dem Col du Tachuy

Bald haben wir 160 Kilometer und etwa 70 Stunden hinter uns, davon vier Stunden Schlaf. In dieser dritten schlaflosen Nacht flattern die (noch offenen) Augenlider und die Füsse suchen ihren Weg zwischen den Felsbrocken, die sich hartnäckig weigern, Platz zu machen. Es ist an der Zeit, eine Rast einzulegen. Am Wegrand erscheint eine ebene Stelle, zumindest ist sie etwas weniger steil und steinig. Keine Fünfstern-Residenz, aber wählerisch zu sein ist das Privileg derer, die weniger müde sind als wir. Wir rollen wir unsere Rettungsdecken aus, schlüpfen in die Daunenjacken, legen uns wie Sardinen eng aneinander und schlafen eine Stunde lang mit klappernden Zähnen. Es fehlt etwas an Komfort, aber ein Gedanke tröstet uns: Wir haben die Hälfte der Strecke geschafft.

5

Donnerstag, 31. August, 21 Uhr, auf dem Grat des Mont de Flassin, oberhalb von Saint-Rhémy

Die vierte Nacht im Schein unserer Stirnlampen. Das war zwar der erste sonnige Tag seit unserem Aufbruch am Montag, aber für mich war er schwierig. Dabei hat er gut angefangen: Ein zauberhafter Sonnenstrahl in einer Lärchenlichtung, ein wunderbarer Teller Lasagne am Stützpunkt von Morgex und ein Himmel, der es allem Anschein nach aufgegeben hatte, uns zu bewässern. Aber meine Beine sträubten sich, ich musste mich durchbeissen. Mit oder ohne schmerzende Füsse haben wir die 1900 Höhenmeter dieser langen Querung durch das Geröll bewältigt, dann diesen steilen Aufstieg. Und die Aussichten sind gut: Wir nähern uns zwei Dritteln der Strecke, sind immer noch im Rennen (fast die Hälfte der Teams hat aufgegeben) und unten im Tal, 1400 Meter unter uns, wartet unsere Familie. Wir können rasten und uns zwei Stunden Schlaf gönnen. In diesem Moment taucht an einem mit Sternen übersäten Nachthimmel ein gewaltiger Mond auf. So gross und tieforange, dass man ihn für eine untergehende Sonne am afrikanischen Himmel halten könnte. Ich wundere mich, ob ich halluziniere, denn mein Gehirn spielt mir bereits Streiche: Ich sah schon Struppi auf einem Felsen sitzen. Was für ein Mondaufgang! Ein unwirklicher Moment, wie man ihn nur bei solchen Abenteuern erlebt. Wenn man zum Umfallen müde ist, liegt der Wachtraum zum Greifen nah.

6

Samstag, 2. September, Orsières

Wir starten vom Stützpunkt in Orsières in die Zielgerade im Zickzack nach Chamonix. Seit gestern Vormittag laufen wir auf Schweizer Boden, auf Wegen, auf denen wir schon oft gelaufen sind. Die Aussicht, das Ziel zu erreichen, zeichnet sich ab, aber wir weigern uns noch, daran zu glauben. Langsam können wir uns jedoch mit dem Gedanken anfreunden. «Ihr habt es fast geschafft», sagt man uns. Sicher, aber das ist relativ: Dieses «fast» ist noch ein ziemliches Stück Weg, rund fünfzig Kilometer, fast 4000 Höhenmeter und 24 Stunden Marschzeit.

Inzwischen nehmen wir uns nach einer kleinen Pause den Steilhang auf La Breya vor. Der Vorteil am sechsten Tag des Rennens ist, dass man ohne Schwierigkeiten einschläft, auch wenn ein Trompeter über dem Ruheraum seine Tonleitern übt. Fanfarentöne wecken uns und wir stieben weiter in Richtung Val d’Arpette.

7

Sonntag, 3. September, 10.30 Uhr, Chamonix

Nachdem wir so lange unterwegs waren, laufen wir schliesslich in den Zielhafen ein. Von diesem Augenblick haben wir geträumt, und jetzt, als er da ist, wollen wir ihn festhalten. Also gehen wir ohne Eile, glücklich und fast schon wehmütig, bewusst, dass sich unsere Reise ihrem Ende nähert. Denn wir sind Reisende gewesen, wir kommen aus einer anderen Dimension zurück, von einem Ort, der so nah und doch so fern ist, wo die Zeit anders verläuft und wo man dem Raum nichts vormachen kann. Wo vier Stunden laufen eine Kleinigkeit sind, aber zwanzig Minuten Schlaf viel bedeuten. Von einer Reise, die uns benommen und glücklich zurücklässt und auf der wir uns an den einfachsten Dingen erfreut haben. Denn Wasser schmeckt nie so gut, wie wenn man durstig ist.

Warum haben wir uns also auf dieses Abenteuer eingelassen? Wir sind in die Berge gegangen, weil wir es lieben. Weil es noch intensiver ist, wenn man mit dem eigenen Vater unterwegs ist. Und weil Mühsal und Anstrengung Katalysatoren für starke Erlebnisse sind, die uns prägen und noch lange begleiten werden. Aber im Moment sind wir nicht unglücklich, dass wir am Ziel sind, nicht traurig, dass wir heute Abend wieder in einem richtigen Bett schlafen werden, und ziemlich stolz, diese Herausforderung zusammen gemeistert zu haben. Am Ende der Petite Trotte fühlen wir uns wie Könige, ohne Übertreibung.

Für Bernard, der zu früh aufgebrochen ist, um unter anderen Sternen zu laufen.

Feedback