«Wenn ich gross bin, werde ich Schindelmacher» | Schweizer Alpen-Club SAC
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«Wenn ich gross bin, werde ich Schindelmacher» Porträt über Tristan Ropraz

Tristan Ropraz ist Schindelmacher. Der 26-jährige Freiburger hat seine Werkstatt in Sorens, wo er aufgewachsen ist und den Beruf entdeckt hat. Er zeigt, wie man die Holzschindeln herstellt, und erzählt, wie eng das Handwerk mit dem Rhythmus der Jahreszeiten verbunden ist.

Tristan Ropraz entdeckte seine Berufung an einem Tag auf dem Heimweg von der Schule. «Ich traf einen Schindelmacher, der in meinem Dorf Sorens das Dach eines Kruzifixes reparierte.» Holz, Nägel, Hammer – er war fasziniert. «Das muss ich mir noch einmal ansehen», erklärte er seiner Mutter nach dem Essen. Der Achtjährige bot dem Handwerker seine Hilfe an. «Ich sprach Patois, er auch, wir verstanden uns sofort.» Der Junge blieb bis zum Abend. «Wenn ich gross bin, werde ich Schindelmacher», erklärte er dem Handwerker. Dieser, Joseph Doutaz, genannt Zèzè, riet ihm, zuerst einen Holzberuf zu erlernen.

Der junge Mann aus dem Greyerzerland lernte den Beruf des Zimmermanns und besuchte eines Tages eine Holzmesse, wo einige Schindelmacher ihr Handwerk vorführten. Einen von ihnen erkannte er wieder. «Erinnern Sie sich an einen kleinen Jungen, der Ihnen vor zehn Jahren an einem Nachmittag seine Hilfe anbot?», fragte er ihn. Der alte Schindelmacher erinnerte sich. Tristan Ropraz war inzwischen 18-jährig und hatte nichts von seiner Motivation verloren. Aber Zèzè war bereits pensioniert. Doch sein früherer Lehrling Léon Doutaz erklärte sich bereit, Tristan in die Kunst des Schindelmachens einzuführen. Ein Kreis schloss sich.

«Wir sind wie Murmeltiere»

Heute ist Tristan Ropraz 25 Jahre alt, in seiner Werkstatt mit Blick auf den Moléson spaltet er Holz. Mit dem Holzschlägel und dem Spalteisen spaltet er sogenannte Weggen – Schindelklötze – in sechs Millimeter dicke Schindeln. Diese legt er in der Reihenfolge, in der er sie gespalten hat, zusammen und beginnt wieder von vorne. Den ganzen Tag lang. Und die ganze Woche, von Mitte November bis Mitte April. Das ist die Zeit der Herstellung.

«Im Winter erholen sich Körper und Geist, man muss nicht mehr überlegen», sagt der traditionsbewusste Mann. Man spaltet die Weggen, bindet sie zusammen und stapelt sie draussen. Er sieht in dieser Arbeit nichts Langweiliges oder Mühseliges. Die Handgriffe sind zwar immer gleich, aber jede Schindel ist anders. «Man muss Augen an den Fingern haben, wie mein Lehrmeister sagt.» Die Schwierigkeit besteht darin, das Holz in Laufrichtung der Fasern zu spalten, um diese nicht zu beschädigen. So bleibt das Holz und damit das zukünftige Dach dicht. Jeder Schlag mit dem Holzschlägel muss sitzen.

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«Man muss Augen an den Fingern haben, wie mein Lehrmeister sagt.»
Tristan Ropraz
Schindelmacher

Die Schindelmacher leben im Rhythmus der Jahreszeiten. «Wir sind wie Murmeltiere. Wenn es kalt wird, ziehen wir uns zurück, und wenn es warm wird, kommen wir wieder heraus», scherzt der junge Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht. Im Winter werden Schindeln gefertigt, im Frühling und im Herbst geht es auf die Baustellen im Tiefland, im Sommer auf die Baustellen in den Bergen. «In der warmen Jahreszeit nageln wir pausenlos.» Ein Schindelmacher schlägt jedes Jahr zwischen 150 und 200 Kilogramm Nägel ein, rund 1000 Nägel auf drei Quadratmetern Schindeln. «Aber man darf nicht zu viel rechnen, sonst wird man verrückt», sagt Tristan Ropraz.

Eine unter Tausend eignet sich

Das Jahr der Schindelmacher beginnt im Herbst. Dann wählen sie im Wald die Bäume aus, die sie für die Herstellung der Schindeln brauchen. Im Kanton Freiburg handelt es sich dabei ausschliesslich um Fichten. «Das ist der schönste Moment, der Anfang der ganzen Arbeit», schwärmt Tristan Ropraz.

Die Suche nach geeigneten Bäumen beginnt auf 1000 Metern Höhe. «In diesen Höhenlagen wachsen die Bäume langsamer, das ergibt trockenere und langlebigere Schindeln.» Die Schindelmacher bevorzugen Bäume von den Talböden und von windgeschützten Schattenlagen mit geradem Wuchs. Nur eine Fichte von Tausend eigne sich für das Spalten, sagt Tristan Ropraz. Im nächsten Jahr wird er 25 bis 30 Bäume benötigen. «Ich habe grosse Achtung vor diesen Pflanzen. Sie waren lange vor uns da und werden auch noch lange nach uns auf den Dächern liegen», sagt er. «Mit Holz zu arbeiten, das 150 Jahre alt ist, ist eine Ehre und macht demütig.» Die Bäume werden Mitte November gefällt, im letzten Viertel des abnehmenden Mondes, wenn die Säfte sich zurückgezogen haben und das Holz sich im Ruhezustand befindet.

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«Ich habe grosse Achtung vor diesen Pflanzen. Sie waren lange vor uns da und werden auch noch lange nach uns auf den Dächern liegen.»
Tristan Ropraz
Schindelmacher

Vom Baum auf das Dach

Während er an diesem Vormittag seine Weggen spaltet, zeigt Tristan Ropraz auf einen Wald an den Hängen des Moléson. «Dieses Holz kommt von dort drüben», sagt er. «Für eine neue Skipiste wurde eine Schneise in den Wald geschlagen, darin befand sich gutes Schindelholz. Ich und mein Schindelmachermeister sind hingefahren und konnten sechs Stämme retten.» Da das Holz zur falschen Zeit geschlagen wurde, ist es voller Saft. «Wir werden es so rasch wie möglich auslegen, damit es trocknen kann.»

«Es ist immer ein bewegender Moment, wenn ich meine Schindeln verlege», erklärt der junge Mann. Emotional sei es auch, wenn er die letzte Schindel auf dem First eines Chalets aufgenagelt habe. «Ich setze mich hin, schaue zum Horizont und denke an diese Schindeln, von denen ich jede einzelne gefertigt und aufgenagelt habe.»

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«Ich setze mich hin, schaue zum Horizont und denke an diese Schindeln, von denen ich jede einzelne gefertigt und aufgenagelt habe.»
Tristan Ropraz
Schindelmacher

Man muss den Beruf aber nicht idealisieren. «Viele sehen nur die Chalets, die Ruhe und die Natur, sie denken nicht an die Arbeit, die dahintersteckt. Die Schindelbündel steigen nicht von selbst auf das Dach, das ist anstrengende Arbeit», sagt der ehemalige Westschweizer Schwingermeister. Und es ist auch nicht einfach, vom Schindelmachen zu leben. Der Preis für den Quadratmeter liegt bei rund 175 Franken und beinhaltet das Holz, die Anfertigung, den Transport und das Verlegen. Im Kanton Freiburg sind gewisse Restaurierungen subventioniert. Der junge Schindelmacher, über den sich seine Freunde wegen seines «alten Berufs» lustig machten, ist aber davon überzeugt, einen zukunftsträchtigen Beruf auszuüben. «Heute ist Nachhaltigkeit wichtig. Holz ist ein ökologischer Baustoff, und unsere Bäume stammen aus den Wäldern des Greyerzerlandes. Besser kann man es fast nicht machen.»

Ein Schindeldach hält 35 bis 40 Jahre. Das entspricht etwa der beruflichen Laufbahn eines Schindelmachers. Es kommt deshalb selten vor, dass ein Handwerker noch arbeitet, wenn eines seiner Werke erneuert werden muss. Und so wurde Tristan beauftragt, an einem Tag im Juni 2021 das Dach des Kruzifixes in Sorens zu erneuern, das Zèzè Jahre zuvor restauriert hatte. An diesem Tag schloss sich ein weiterer Kreis.

Autor / Autorin

Martine Brocard

Ein traditionelles Handwerk mit einer traditionellen Fachsprache

Die Schindelmacher pflegen eine eigene Fachsprache, die in der Westschweiz stark vom lokalen Dialekt, dem Patois, beeinflusst ist und sich manchmal von Handwerker zu Handwerker unterscheidet. Im deutschen Sprachraum werden ebenfalls oft ortstypische Bezeichnungen verwendet, beispielsweise im Berner Oberland. Dort werden mit «Schindle» 5 bis 8 Millimeter dicke und 60 bis 80 Zentimeter lange Schindeln für Dächer und mit «Schipfene» 3 bis 4 Millimeter dicke und 30 bis 40 Zentimeter lange Schindeln für Fassaden bezeichnet. Im Appenzell kommen fast nur Rundschindeln vor. Es gibt davon jedoch mehr als zehn Varianten, und jede hat ihren eigenen Namen.

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