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Auf der Rückseite Dreitageswanderung im Aostatal

Im italienischen Aostatal setzt die Tourismuspolitik auf die grossen Wintersportdestinationen. Dabei gibt es auf halber Höhe eine stille Kulturlandschaft zu entdecken – und einen atemberaubenden Blick auf das majestätische Matterhorn.

Die meisten glauben, dass man nach Zermatt muss, wenn man das Matterhorn in seiner vollen Schönheit sehen will. In Wirklichkeit ist es aus dem touristischen Niemandsland des Aostatals betrachtet fast noch eindrucksvoller.

Kehre für Kehre geht es durch lichten Lärchenwald aufwärts. Es ist anstrengend, und jetzt wird es auch noch bedrohlich: Der Weg führt schnurstracks auf eine senkrechte Felswand zu, um erst im letzten Moment abzubiegen. Das Spiel wiederholt sich mehrere Male, endet schliesslich aber mit einer angenehmen Überraschung: Statt eine Kletterpassage erwartet uns ein harmloser Einstieg über jahrhundertealte Steintreppen. Es folgt ein Flachstück mit einer kleinen Andachtsstätte. Dass die Madonna die Passanten schützen möge, steht hier in italienischer Sprache an der weiss getünchten Steilwand – schützen vor dem Abgrund, der sich jenseits des Geländers auftut. Unten, einen Steinwurf entfernt, aber 300 Meter tiefer, dehnt sich ein Campingplatz über fast die ganze Talsohle aus – mit Menschen, die von hier oben betrachtet nicht einmal Ameisengrösse haben. Dahinter ruht das das Betongeschwür der Kabinenbahn, deren Seile sich über unseren Köpfen in den Himmel strecken.

Auf der schönsten mittelalterlichen Mulattiera

Als wir vor einer knappen Stunde von dort unten heraufschauten, hatten wir nicht die kleinste Spur eines Aufstiegsweges erkennen können und sogar an seiner Existenz gezweifelt. Inzwischen sind wir aber völlig beruhigt: Der einzige Verbindungsweg ins Tal, den das Dorf Chamois seit Jahrhunderten hat, ist weder ein Klettersteig noch ein schmaler Pfad, auf dem man sich durchs Geröll quält. Vielmehr sind wir auf der schönsten mittelalterlichen Mulattiera unterwegs, die man sich vorstellen kann – der Saumpfad ist perfekt angelegt und so breit, dass zwei Maultiere aneinander vorbeikommen. Dazu die originalen Wasserabschläge aus Stein, die kürzlich erst von Erdreich, Laub und Lärchennadeln gesäubert wurden. Nicht weit entfernt stehen Gämsen, die dem versteckten Ort seinen Namen gegeben haben.

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Über die touristische Zukunft der stillen Kulturlandschaft auf halber Höhe scheint man sich keine Gedanken zu machen.
Gerhard Fitzthum

Chamois wäre aber auch ohne die vielen Gämsen eine kleine Sensation. Der Ort liegt hoch über der Talsohle des Valtournenche und ist der einzige Ort Italiens, der nicht mit dem Auto erreichbar ist. Man könnte erwarten, dass sich das rumgesprochen hat und in der Enklave der Langsamkeit einiger Andrang herrscht. Carlo Torino winkt jedoch ab. Der in die Jahre gekommene Aussteiger betreibt die einzige Unterkunft des Ortes, die ganzjährig geöffnet ist – ein so bizarres wie gemütliches Gesamtkunstwerk, das er sich mit viel Heimwerkeridealismus zusammengebastelt hat. Was er erzählt, ist kaum zu glauben: Bis auf eine Wandergruppe, die jeweils im April für einen Tag bei ihm übernachte, habe das Etablissement in den 30 Jahren seines Besitzes keinen einzigen deutschsprachigen Gast gesehen.

Tatsächlich ist uns in den bisherigen Wandertagen kein einziger Wanderer aus dem Norden begegnet. Und das, obwohl das Wetter brillant ist und das Gipfelpanorama mit Gran Combin, Mt. Emilius und Grivola dem von Südtirol in nichts nachsteht. Die Tourismuspolitik des Aostatals orientiert sich aber ausschliesslich an den grossen Wintersportdestinationen Courmayeur, La Thuile und Breuil-Cervinia. Über die touristische Zukunft der stillen Kulturlandschaft auf halber Höhe scheint man sich keine Gedanken zu machen. Im Gegenteil: Bürokratische Hürden haben hier viele Übernachtungsbetriebe schliessen lassen, obwohl Wegenetz und Markierungen nichts zu wünschen übriglassen.

Am deutlichsten sind die Widersprüche im Valtournenche: Während in Breuil-Cervinia am oberen Talende der Massentourismus wuchert, dämmern sehenswerte Dörfchen wie Chamois und Promiod unbeachtet vor sich hin. Wir haben uns diese Welt von Verrayes her erschlossen. Der neue Talweg Cammino Balteo führt von hier zum Höhenzug von Saint-Evence hinauf, wo es mit dem Rifugio Lavasé eine wunderbare Unterkunft gibt. Von dort braucht man nicht einmal eine halbe Stunde, um einen Aussichtspunkt zu erreichen, an dem es einem die Sprache verschlägt: Das Matterhorn steht hier völlig konkurrenzlos im V-Ausschnitt des Tals. Wahrhaft majestätisch, einzigartig und unerreichbar. Und kein Mensch weit und breit.

Praktische Infos

1 Verrayes (1017 m) – Chamois (1820 m)

Eckdaten

T2, 5 h 30, ↗ 1500 Hm (mit Seilbahnbenutzung  ↗ 750 Hm)

Route

Der Cammino Baltea (CB) ist mit einem auf der Spitze stehenden Dreieck («3») markiert. Schöner ist es, erstmal auf der gelben «1» aufzusteigen und dann höhenliniengleich nach Semon zu gehen. Am letzten Haus oben rechts 200 m durch die Wiese trifft man wieder auf die Markierung des CB und «2». Aufstieg bis in die Lichtung zum Rifugio Lavasé. Über Puy-de-Saint-Evence weiter nach Torgnon und Abstieg CB nach Antey. Entweder auf dem CB nach La Magdeleine, oder orographisch links unverfehlbar am Waldrand nach Buisson, wo der faszinierende Aufstieg nach Chamois beginnt.

2 Chamois – Sommarèse (1536 m)

Eckdaten

T3, 7 h bis 8 h, ↗ 1600 Hm, ↘ 1800 Hm

Route

Von Chamois höhenliniengleich auf der «107» nach La Magdeleine. 50 Meter Aufstieg auf der Drei, dann die Vier bis zum Übergang auf ca. 2050 m. Man kann Richtung Champ (1989 m)  queren und dann unmarkiert südwestlich zu den Almen von Franquin, wo man auf die «12» trifft, weiter bis Noursaz. Der Weg «12» und «107» beginnt hinter der unteren Almruine und führt mit Zwischenabstieg zum aussichtsreichen Col de Joux, dort weiter ohne nennenswerte Höhenunterschiede nach Sommarèse («107»).

Variante

Via Col Portola den Monte Zerbion (2720 m) besteigen. Abstieg nach W zum P. 1995 wo man wieder auf den Weg trifft.

3 Sommarèse – Verrès (370 m)

Eckdaten

T2, 4 h 30, ↘ 1200 Hm

Route

Abstieg durch die Wiesen (gelb und weiss markiert) nach Eresaz, wo man wieder auf den CB trifft. Am Beginn des großen Blockfeldes besser nach links auf der «3» bleiben (ist schöner, der CB bleibt rechts). Dann nicht zum Col d’Arlaz, sondern eine Strassenserpentine nach Abaz und von dort auf der «4» Richtung Challand-Saint-Victoire, Abstieg von dort nach Isollaz und von dort über Rolechon und Ravarey auf den historischen Saumweg zum Castello Verres und weiter hinunter nach Verrès.

Anreise

Mit dem Zug via Milano und Chivasso nach Aosta. Weiter mit dem Bus nach Verrayes.

Übernachtung

Jour et Nuit, Torgnon, Tel. 0166-540333; Ostello Bellevue, Chamois, Tel. 0166-47133; Lo Saros, Sommarese, Tel. 0166-519104; Hotel Miravidi, La Magdeleine Tel. 0166-548696

Weitere Informationen

Camino Balteo

Ufficiale del turismo in Valle d'Aosta

 

Autor / Autorin

Gerhard Fitzthum

ist promovierter Philosoph, Reisejournalist und Wanderleiter. Seine zweite Heimat sind die italienischen Alpen.

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