1828-1912, Übergang von der Klus (Erstfeldertal) nach der Steinalp am Susten
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1828-1912, Übergang von der Klus (Erstfeldertal) nach der Steinalp am Susten

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Übergang von der Klus ( Erstfeldertal )

nach der Steinalp am Susten

Von Gustav Ott-Daeniker

Mit 2 Bildern ( 75, 76 ) 1828—1912 ( Zürich ) Reisebericht aus dem Jahre 1855, von Herrn Alfred Ott, Sektion Les Diablerets, Prilly, uns zur Verfügung gestellt. Der Abdruck erfolgt ohne besondere Korrekturen, da der Landschaftsmaler Gustav Ott uns in anschaulicher Weise festhält, wie vor einem Jahrhundert eine damals noch gewagte Bergfahrt zur Durchführung gelangte.M. Oe.

« Lange Zeit war es mein sehnlicher Wunsch gewesen, wieder einmal die Gletscherwelt zu besuchen, doch immer sah ich mich an der Erfüllung desselben verhindert. Endlich stand mir nichts mehr im Wege, und am schönen Nachmittage des 24. August 1855 entschloss ich mich, den lange gehegten Gedanken eines direkten Überganges von der Klus im Canton Uri1 nach der Steinalp im Canton Bern womöglich sogleich in Ausführung zu bringen. Ich hatte weder einen geologischen, noch einen geographischen Zweck; auch wollte ich mir nicht einen Namen machen durch Besteigung eines hohen Berges; was ich wollte war einzig, mich an den Wundern der Gletscherwelt zu erfrischen und zu erlaben. Diese zogen mich unwiderstehlich an, und ich folgte diesem Drange.

1 Erstfelderlal.

Der rüstige junge Wirth in der Klus, Xaver Z'Graggen, hatte schon früher den von mir ausgesprochenen Wunsch, besagten Weg zu versuchen, aufgefasst und nicht nur die nöthigen Erkundigungen bei den Gemsjägern eingezogen, die den Schlossberggletscher besucht hatten, sondern auch unter diesen einen gefunden, der sich bereit erklärt hatte, mitzukommen, wann es auch sein möge, und zwar ohne irgend eine Bedingung daran zu knüpfen. Dieser war Ambrosi Wipfli, von Erstfelden gebürtig, aber im Erstfelderthale wohnhaft, ein sehr erfahrener Gemsjäger, der den Gletscher kennt, wie der kundige Seemann das Meer. Um vier Uhr Nachmittags war mein Entschluss reif geworden, und glücklicherweise hatte Xaveri fertiggeheuet und war bereit, sogleich aufzubrechen. Wipfli, den ich nur dem Namen nach kannte, hatte sein Wort gegeben, immer bereit zu sein, und wir hatten nicht den geringsten Zweifel, dass er es halten würde. In einer Stunde waren wir marschfertig, nahmen Abschied von dem gastlichen Hause und dessen freundlichen Bewohnern und überschritten voll der besten Hoffnungen den grossen Thalboden, um über die Reuss und zwischen den obern Häusern des unter Nussbäumen versteckten Dorfes Erstfelden nach dem steilen Eingange in das Thal zu gelangen. Lustig schien die Sonne aus dem wolkenlosen Abendhimmel auf Matten und Bäume und Alles athmete heitere Ruhe. Ist ein fröhliches, wohnliches Thal in der Schweiz, so ist es dieses. Es ist breit genug, um dem Auge den nöthigen Raum zu lassen, und seine Fläche ist mit prächtigen Nussbäumen bedeckt, aus denen die Dächer der hölzernen Häuser herausgucken. Die Reuss belebt dieses Bild, und man braucht nur wenig an dem östlichen Abhange empor zu steigen, um als letzten Hintergrund zu demselben den Vierwaldstättersee und dessen duftige Berge zu haben.

Im Gegensatze zu dieser freundlichen Thallandschaft ist der Eingang ins Thal ein steiler, wilder Alpenweg, und mit dem Betreten desselben waren wir auch der Sonne aus dem Gesichte, denn sogar in den längsten Tagen wirft schon am frühen Nachmittage der steile Schlossberg seine langen Schatten in dasselbe. Ein kühler Luftzug kam uns entgegen, der uns nicht nur vor Erhitzung sicherte, sondern auch ein sicheres Zeichen des guten Wetters war. Das Erstfelderthal unterscheidet sich in malerischer Beziehung vortheilhaft von vielen andern Bergthälern der Schweiz.B.ei den meisten derselben wechselt zwar der Hintergrund, wogegen der Vordergrund durch die unvermeidliche Thalfläche oft sehr langweilig wird. Nur wo das Thal sich einengt und der Fluss gewaltsam sich den Weg brechen musste, um zur nächsten Thalstufe niederzusteigen, enthüllt sich uns die Bergnatur in ihrer Grösse und Wildheit. Diese Thalflächen hätten aber in dem nur drei bis vier Stunden langen Erstfelderthale nicht Raum, und die malerischen Übergänge sind so zusammengedrängt, dass der Weg durch dasselbe eine fortwährende Abwechslung der mannigfaltigsten Alpenscenen bietet. Seine Mündung in das Reussthal ist eine wilde Schlucht, und auf steilem Wege muss man lange emporsteigen, bis man sie umgangen und von oben den Blick in ihre Tiefe errungen hat. An einem Orte windet sich der Weg zwischen thurmhohen Felsblöcken hindurch, und kehrt man sich hier um, so hat man den letzten Blick in die Fläche des Thales, über der sich die prächtige Windgelle erhebt.

ÜBERGANG VON DER KLUS NACH DER STEINALP AM SUSTEN Diese trägt ihren Namen mit wenigstens eben so viel Recht, als das Finster-aar- und Wetterhorn. Wilde Zacken, durch Abgründe von der Hauptmasse getrennt, streckt dieser Berg in die Luft, und pfeift der Föhn im Sturm durch dieselben, so mag es wohl einer der schauerlichsten und wildesten Berge der Alpen sein. Doch jetzt lag er ruhig und gross im rothen Abendschimmer, uns gutes Wetter für den folgenden Tag verheissend. Weiter mildert sich der Weg, und an die Stelle des steinigen Zickzackpfades treten abhangende grüne Matten mit Nuss- und Ahornbäumen, Häusern und Gaden, das freundliche Bild der ersten Voralpen. Zwischen knotigen Berghägen zieht sich nun der Weg sanft empor, bald am Ufer des rauschenden Bergbaches, bald auf der Höhe, bis plötzlich ein Bergvorsprung das Thal zu schliessen scheint und das Wasser auf seine engsten Grenzen eindämmt; aber unvermerkt leitet der Weg in diese Schlucht und sicher an deren Wänden zu den höher liegenden Wiesen empor. Wild braust der eingeschlossene Bach in der Tiefe, und freundlich wird man überrascht am Ende der Schlucht, sich wieder auf einer höhern Alpentrift mit Wohnhäusern zu finden. Hier herrscht schon unbeschränkt die Tanne, der eigentliche Baum der Alpenwelt, nicht die geradzweigige, regelmässige Tanne der Ebene, sondern die mächtige Wettertanne mit herabhängenden Zweigen und weissen Flechten. Hier trafen wir Wipfli's Frau an, was uns sehr erwünscht war; denn wir konnten nun ihr den Auftrag an ihren Mann geben, der weit vom Wege ab seine Sommerwohnung hat. „ Mein Mann muss bei Tagesanbruch bei Euch oben auf der Alp sein, Ihr könnt Euch darauf verlassen ", sagte sie, und verliess uns, indem sie glückliche Reise wünschte. Nun hiess es wacker vorwärts schreiten, denn wir waren spät aufgebrochen, hatten uns anfangs nicht sonderlich beeilt und der Weg vor uns war für die Nacht gar nicht geeignet. Der letzte Sonnenstrahl war an den Bergen längst erloschen und der Reflex der hellen Luft erleuchtete einzig noch schwach das Thal. Bald war auch unser Gespräch verstummt, und immer eiliger wurden unsere Schritte, denn wir hatten noch einen schmalen, treppenähnlichen Weg am Rande des Abgrundes vor uns und eine Brücke, die so schmal ist, dass man sich darauf wie ein Seiltänzer vorkommt. Doch dieser Steg ist mir nur vom vorigen Jahre her bekannt; diesesmal bekamen wir ihn nicht zu sehen, denn der schneereiche Winter hatte eine natürliche Schneebrücke zurückgelassen, die viel bequemer war, und eine halbe Stunde, nachdem wir diese überschritten hatten, standen wir unter der Thüre der Sennhütte, die unser Nachtquartier sein sollte.

Schon lag die finstere Nacht auf der Alp, und verwundert öffnete der Senn den späten Wanderern seine Thüre. Doch bald hatte er Xaver erkannt, und schnell war seine Verwunderung in herzliche Freundlichkeit umgewandelt. Nur selten besucht ein Freund der Alpenwelt dieses Thal ohne Ausgang, und darum ist ein solcher Besuch schon bei Tage eine Ausnahme, bei Nacht aber etwas Unerhörtes. Zwei ärmliche Sennhütten sind auf dieser Alpe, und die Bedürfnisse der Menschen sind in denselben auf ihr Minimum reducirt. Der Raum war so klein, dass er uns kaum fassen konnte, und das für drei oder vier Mann berechnete Bett nahm ungefähr einen Viertel der ganzen Hütte ein; den übrigen Platz füllten der Herrd und die zur Sennerei nöthigen Geräth- schatten aus. Am Feuer wurde nun die Milch, das sich täglich wiederholende Nachtessen, gekocht, welche dann in einen grossen, flachen, hölzernen Kübel gegossen und aus demselben von Senn und Knechten mit hölzernen Löffeln zu einem Stück Brod geschöpft wurde. Der Raum war so eng, dass wir nicht nur nicht an diesem Nachtessen Theil nehmen konnten, sondern uns sogar auf das Bett zurückziehen mussten, von wo ich mit wahrer Freude die malerische, vom Feuer beleuchtete Gruppe betrachtete. Kaum hatte der Älteste derselben sich satt gegessen, als er aufstand, vor die Hütte hinaustrat und mit lauter, heller Stimme ein Abendgebet in die ruhige Nacht hinaussang, dessen Hauptinhalt war, die heilige Jungfrau möge die Alpe diese Nacht und fernerhin beschützen. Wunderbar feierlich tönte das Lied, und diese Sitte war mir ganz neu, denn ich hatte noch nirgends auch nur davon sprechen gehört. Nun kam die Reihe an unser Nachtessen, und auch wir setzten uns auf die Melkstühle um die Milch und traten nach aufgehobener Tafel ebenfalls ins Freie, um nochmals das Wetter zu prüfen. Der Föhn, der die vorige Nacht gedroht hatte, war nicht wieder gekommen; wolkenlos wölbte sich über uns der Sternenhimmel und schwarz ragten die mächtigen Felsen in denselben hinein. Kein Lüftchen regte sich, und nur das ferne Rauschen des Faulenbach-falles unterbrach die grosse Stille ringsumher. Ruhig lag die Alpe da mit ihren Tannen und Felsblöcken, eine Ruhe, die sich über den ganzen Erdball auszubreiten schien. Wie gross ist doch diese Alpenwelt in der Stille der Nacht und wie unaussprechlich der Frieden, den man mit dieser Luft einathmet! Lange sassen wir noch da und wären noch länger geblieben, hätten wir nicht an den nächsten Tag gedacht, für den wir unsere Kräfte sammeln mussten. Aus Erfahrung wusste ich zwar, dass das Nachtlager auf der Alpe seine prosaische Seite hat, und so hatte ich nur eine schwache Hoffnung, die erwünschte Ruhe zu finden. Nicht einmal diese wurde jedoch erfüllt, denn aus kurzem unruhigen Schlafe erwachte ich in einer Art von Fieberhitze, in welcher ich die gehabten trostlosen Träume noch für Wirklichkeit hielt. Beim Schlafengehen hatte ich durch eine kleine Öffnung im Dache die Sterne gesehen; nun sah ich sie nicht mehr, glaubte vielmehr einen feinen Regen auf das Dach plätschern zu hören, und damit war natürlich alle Hoffnung verloren. Ich versuchte, wieder zu schlafen, aber ohne Erfolg, und endlos lange dauerte es, bis endlich die Sennenknechte kamen, uns zu wecken. Es war noch nicht drei Uhr, aber noch nie bin ich so schnell aufgestanden und habe in so kurzer Zeit meinen Anzug besorgt. Mein erster Gedanke war, nun zu sehen, wie sich die Wirklichkeit zu meinen Träumen verhielt: eine kalte Luft wehte mich an, als ich die Thüre öffnete, aber oh Freude! die Sterne funkelten und von Regen und Wolken war keine Spur. Der erste schwache Morgenschimmer zeigte sich auf einer Seite, und schneller, als der kommende Tag, war die frohe Hoffnung, unsere Reise gelingen zu sehen, wieder in mir erwacht. Die dunkeln Bilder der Nacht waren schnell durch die erquickende Frische der herrlichen Bergluft verwischt, und nach kurzem Frühstücke, aus warmer Milch und Brod bestehend, machten wir uns langsam auf den Weg, in der Hütte den Auftrag an den noch nicht eingetroffenen Wipfli hinterlassend, uns einzuholen.

In einer halben Stunde erreicht man von hier zuerst über Abhänge, die mit dichten Alpenrosenbüschen bewachsen sind, dann über wilden Steinboden den hintersten Theil des Thales: die vom Gletscher vorgeschobenen Sandwälle und Felstrümmer. Wir brauchten eine Stunde bis dahin, denn wir gingen langsam, oft anhaltend, um zu hören, ob Wipfli nicht käme; aber lange dauerte es, bis unser Rufen endlich durch ein fernes Jauchzen beantwortet wurde, das Xaver alsbald als dessen Stimme erkannte. Am Gletscher erreichte er uns zu gleicher Zeit wie die anbrechende Tageshelle, und seine Erscheinung war mir eine sehr erfreuliche, denn die ehrliche Biederkeit seines Gesichtes, verbunden mit dem durchdringenden Blicke des geübten Jägers waren so scharf ausgeprägt, dass sie mir keinen Zweifel über seine Persönlichkeit lassen konnten. Er war ganz und gar der Mann, unsere Expedition zu leiten, und der erste Eindruck, den er mir machte, hat sich nachher immer mehr als ein richtiger erwiesen. Nach kurzer und herzlicher Bewillkommnung blieben wir nun einige Minuten stehen, um uns in wenig Worten über unsern Plan zu verständigen, und der freundliche Leser wird mir erlauben, darüber einige Worte vorauszuschicken. Der wilde Schlossberggletscher, auf dessen Moraine wir nun standen, füllt den hintersten Theil des Thales aus, und dessen zerrissene Spalten und Abstürze scheinen jedes weitere Vordringen unmöglich zu machen. Hier gleicht er einer mächtigen Lavamasse, die das Thal von einer Seite zur andern überwölbt. Diese ist der letzte Ausläufer der Eiswelt, die sich um die beiden Spannörter, den Krönlet und Grassen herum ununterbrochen nach dem Titlis und den Urathshörnern zieht und im Wendengletscher ihr westliches Ende erreicht. Es ist dieselbe, die, von dem Surenenpass und von Engelberg aus gesehen, einen so grossartigen Anblick gewährt. Hinter diesem unteren Theile erhebt sich nun der Gletscher in zwei grossen Hauptmassen; die südlichere, weniger steile füllt den Raum zwischen dem schwarzen Stöckli und dem Schlossberge und zieht sich zu dem grossen Spannorte empor und südlich um dasselbe herum nach dem Engelbergerthal hinunter, eine schmale Einsattlung bildend, über die Xaveri mit einem Kameraden dieses Jahr nach Engelberg gegangen war, was seit zwanzig Jahren nicht mehr geschehen sein soll. Die nördlichere, viel höhere und steilere, ist eine Reihe von wilden ins blaue und grüne glänzenden Eisabbrüchen; sie hängt vor und hinter dem schwarzen Stöckli mit der südlichen zusammen und führt gerade zu dem erwähnten grossen Plateau empor, das unser nächstes Ziel war. Hier hinaufzusteigen ist unmöglich und wird auch von Niemand versucht, weil man auf einem Umweg ohne Mühe auf den obern von hier nicht mehr sichtbaren Theil gelangt. Unser Hauptzweck war, auf dem nächsten Wege in den Canton Bern zu gelangen, ohne vorher in das Meyenthal oder in das Engelbergerthal hinunterzusteigen, und zu diesem Ende mussten wir erst den obern Gletscher erreichen, um von hier den weitern Weg finden zu können; die einzige Art aber, dahin zu gelangen, war, zuerst nach der höher oben am Abhange, der das Thal südlich einschliesst, gelegenen Faulenseealpe und von da nach der noch höhern Oberseealpe zu steigen. Die erstere ist eine fruchtbare Weide, von drei Seiten durch Felsen eingeschlossen, mit einem spiegelglatten, dunkeln See, aus welchem der Faulenbach als schöner Wasser- fall in das Thal stürzt und an dessen Ufern eine kleine Herde grasete. Im Hintergrund fällt ein anderer Wasserfall in verschiedenen Absätzen über die Felsen, und an diesem stiegen wir nun zur letzteren empor. Diese war das freundliche Bild einer hohen Alpe; auch hier ist ein See, und der wenige Schnee berührt auf einer Seite dessen klares Wasser und spiegelt sich darin, währenddem auf der andern die grüne Fläche einer zahlreichen Herde Nahrung gibt. Rechts dehnte sich ein neuer Ausläufer des Gletschers aus, und vor uns stand in seiner ganzen Grösse der Mäntliser, dessen Wände senkrecht auf die Alpe fallen. Gegen Osten erhoben sich eine Menge Berge, schon alle im herrlichen Sonnenschein, währenddem wir selbst noch im Schatten standen. Diese beiden Alpen sind zwei Bergstufen und bilden die untere Basis des Mäntliser und Krönlet. Beide sind schon über der Tannenregion und haben keine Sennhütten, so dass die Milch täglich nach derjenigen hinuntergetragen werden muss, wo wir übernachtet hatten. Ohne die Alpe zu überschreiten, wendeten wir uns nun rechts und erreichten bald, über die letzten magern Grasabhänge aufsteigend, die ersten Schneerütsche. Bis hieher hatte uns noch ein schmaler Geissweg geführt; nun aber hatten wir uns selbst einen Pfad zu suchen. Statt nun gerade nach dem Gletscher zu steigen, führte uns Wipfli quer über eine schiefe Ebene abwechselnd über Schnee und Geröllrütsche zu einem mehr rechts liegenden Grate hinauf, wo wir plötzlich und unerwartet senkrecht unter uns in schauerlicher Tiefe den ganzen untern Theil des zerrissenen Schlossberggletschers erblickten. Wir standen auf den hohen Wänden, die ihn unmittelbar südlich einschliessen, und dieser Anblick war von einer unbeschreiblichen Wildheit. Die zerrissenen Eisabstürze, die wir von unten nur verkürzt gesehen hatten, breiteten sich nun vollständig unter unsern Augen aus, nicht zu einem regelmässigen Eisflusse, wie so viele andere Gletscher, sondern zu einem Chaos von Eismauern und Eisblöcken, wie ich es vorher nie gesehen hatte. Wir standen hier auf den Gränzen des ewigen Schnees, und das Betreten dieser so nahen und doch so weiten und unbewohnten Region hat immer für mich einen ganz eigenthümlichen Reiz. Man fühlt sich so frei, so leicht in dieser Höhe, wo alles menschliche Leben weit unten zurückgeblieben ist. Wipfli hatte diesen Umweg freilich nicht gemacht, um uns den Blick in die Tiefe zu verschaffen, sondern weil unter uns, auf für Menschen unzugänglichen, mit Gras bewachsenen Felsvorsprüngen, die ersten Stationen der Gemsen waren und er diese durch hinuntergeworfene Steine aufjagen wollte. Da die Jagd erst im September aufgeht, so hatten meine Gefährten keine Büchsen bei sich, aber dennoch hätte sich Wipfli nicht die Freude nehmen lassen, wenigstens diese Thiere aufzuscheuchen, ja, der Hauptreiz unsrer Tour bestand für ihn darin, das Terrain vorläufig zu rekognosciren. Die Grasplätze am Felsen und andere, die wie Inseln aus dem Gletscher ragen, sind nie von Menschen betreten worden, und die Gemsen sind daselbst ganz sicher. Lassen sie sich aber durch den Lärm der fallenden Steine verscheuchen, so haben sie nur einen Ausweg über den obern, flachen Theil des Gletschers, und ist dort ein Jäger aufgestellt, so werden sie fast sicher von dessen Kugel erreicht. Trotz dem Fernrohr konnten wir aber jetzt noch keine entdecken.

Da wir nun bald den Gletscher betreten sollten, so stärkten wir uns hier noch mit Wein und Brod, schritten dann gegen Süden, von der Seite des sich fortpflanzenden Grates hin kletternd, der in grossem Bogen sich abwärts wölbenden Einsfläche zu und erreichten sie um halb acht Uhr. So zerklüftet die untern Ausläufer dieses Gletschers sind, so glatt und wegsam ist dieses obere Plateau. In weitgestrecktem Bogen zieht es sich aufwärts, von wenigen, aber breiten und langen Spalten durchzogen. Vor uns rechts sahen wir die zwei Spitzen des grossen Spannortes schwarz in die Luft ragen; geradeaus berührten sich Gletscher und Himmel, und etwas nach links kam der mächtige Krönlet zum Vorschein, zu dessen Spitze sich der Firn als dicke Decke hinaufzieht. Nun schritten wir schweigend hintereinander her, und ein eigenes Gefühl bemächtigt sich des Wanderers, der sich nun so allein auf dieser ungeheuren Schneefläche sieht. Es ist nicht die winterliche Stille der Heimat, wo, trotz der Kälte, doch ein Schlittengeschell, eine Glocke, das Gebell eines Hundes und unzählige ferne Töne, zu einem unbestimmten Ganzen vereinigt, in uns fast unbewusst das behagliche Gefühl menschlichen Lebens in uns erwecken;, es ist eine Todenstille, wo kein Geräusch mehr unser Ohr erreicht, eine Stille, wie man sie wohl nur auf dem unbewegten Meere und vielleicht in der Sandwüste trifft; denn Alles, was wir im gewöhnlichen Leben Stille nennen, ist nur eine solche im Vergleich zum Lärm, der uns fast immer umgibt und unzählige Arten ferner Töne, von allen möglichen menschlichen Thätigkeiten und von den Lebensäusserungen zahlloser Thiere und Thierchen herrührend, die uns umgeben, berühren vereinigt unser Ohr, und dieses ist so daran gewöhnt, dass es sie nicht beachtet und für Stille hält, was nur vergleichsweise eine solche ist. Auf der weissen Gletscherfläche aber herrscht absolute Stille. Das Auge dagegen trifft ein Sonnenglanz ohne Gleichen. Alles schwimmt im Licht, und das Bergpanorama, das schon anfängt, sich zu entrollen, erglänzt in der heitersten Morgensonne. Die gigantischen Formen der nächsten Umgebung, die ununterbrochene Stille und der blendende Sonnenglanz geben dieser Gletscherwelt eine unbeschreibliche Majestät.

Zu unserer Rechten bog sich der Gletscher tief ab, und wir konnten an dessen Kante deutlich die ersten Risse sehen, die den Anfang der weiter unten folgenden wilden Abstürze bilden. Hinter dieser Kante stiegen die senkrechten Wände des Schlossberges empor; links hinter uns über den Abschwung und die Oberseealp hinweg zeigte sich schon eine weite Reihe von Bergen, deren hervorragendste die Windgelle und die Berge des Schächenthales waren.

Immer aufsteigend hatten wir nach etwa anderhalb Stunden die Wölbung des Gletschers überwunden und waren nun mitten auf einem Ungeheuern Eisfelde, das sich nur ganz schwach absenkte, keinerlei Unebenheiten zeigte und dessen letzte Ausläufer nach keiner Seite hin mehr zu sehen waren. Wir standen nicht mehr auf dem Gletscher im engeren Sinne des Wortes, sondern auf der Eismasse, die die Tiefen zwischen den höchsten Spitzen ausfüllt und selbst Gletscher nach allen Seiten in die Thäler sendet. So grossartig der Anblick der Umgebung war, so ermüdend war er für unsre Augen, und wer dieses empfunden, wird sich nicht wundern, dass ich auf der weiten Fläche, wo ein Fehltritt unmöglich war, oft meine Augen schloss, um sie vor der starken Blendung zu schützen und bei Gelegenheit einen desto besseren Gebrauch davon zu machen. Etwa um zehn Uhr waren wir an dem Punkte angelangt, wo wir uns entscheiden mussten, welche Richtung wir nun weiter einschlagen wollten. Unser erster Zweck, das eigentliche Gletscherplateau, war erreicht, und nun konnten wir drei verschiedene Richtungen einschlagen, nämlich diejenige nach der Einsattlung zwischen dem grossen und dem kleinen Spannorte, welch letzteres nun auch emporgetaucht war, die nach dem höheren Sattel zwischen den Felsen des kleinen Spannortes selbst und die nach dem südlich vor uns sich erhebenden Schneegrate; da es aber von hier aus unmöglich war, zu sehen und zu bestimmen, welches von diesen drei Wegen oder wenigstens von den zwei ersteren derjenige sei, der uns zu unserem Ziele führen würde, so beschlossen wir, die so nahe liegende und scheinbar leicht zugängliche Spitze des Krönlet mit so wenig Zeitverlust als möglich zu ersteigen in der Hoffnung, uns von hier aus orientiren zu können. Um dieses zu bewerkstelligen, gingen wir nun in gleicher Richtung hinauf, dem besagten südlich gelegenen Grate zu, von wo aus der Weg nach der Spitze keine Schwierigkeiten zu bieten schien.

Schon bald nachdem wir den Gletscher zum erstenmale betreten, hatten wir zu unsrer grossen Freude auf nicht viel mehr als Schussweite einen prächtigen Gemsbock erblickt, welcher höchst wahrscheinlich aus jenen isolirten Grasplätzen heraufgekommen war, die wir in der Tiefe gesehen hatten; er floh in gerader Richtung von uns weg nach dem Krönlet und verlor sich dann in eine Schlucht der von demselben in den Firn abfallenden Felsen, um zu unserm grossen Erstaunen kurze Zeit später auf dem Grate desselben selbst als Silhouette auf dem blauen Himmel wieder zu erscheinen; auf diesem verfolgten ihn unsre Augen bis nach der höchsten Spitze, wo er stehen blieb, bis diese uns durch den Berg selbst verdeckt wurde.

Auf dem Grate eröffnete sich uns eine neue prächtige Aussicht, bei der wir uns jedoch nicht aufhielten, nicht zweifelnd, dass wir sie viel vollkommener von der Spitze aus gemessen würden. Hier legten wir unser Gepäck in den Schnee, da wir auf demselben Weg zurückkommen mussten, und stiegen nun theils auf dem Firn gehend, theils auf den vorspringenden Felsen des Grates zur Spitze hinauf. Im Vorbeigehen warfen meine Gefährten von demselben wieder Steine in den südlichen Abgrund, die auch einige Gemsen aufjagten, welche in grossen Sätzen von Vorsprung zu Vorsprung nach dem Gletscher in der Tiefe eilten und diesen in unglaublich kurzer Zeit erreichten. Der südliche, steile Abhang des Krönlet, über welchen diese Gemsen den Weg genommen hatten, ist ganz von Schnee entblösst, während auf der Nordseite der Firn bis zur Spitze reicht. Auf dieser langten wir an, eine kleine Stunde nachdem wir unsre Sachen abgelegt hatten, und lagerten uns auf den losen und jeder Vegetation entbehrenden Schiefern, um die wundervolle Rundsicht zu geniessen und unsern Weg nach dem Susten zu erspähen.

Diese Aussicht war auch in der That unvergleichlich schön und grossartig. Wie eine Welt dehnte sich das Labyrinth der Berge und Thäler nach allen Seiten aus. Gegen SO laufen drei Alpenthäler strahlenförmig vom Krönlet aus, um in das Reussthal auszumünden: das Laitschach-, das Gornern- und das Graggerthal. Das untere Meyenthal ist durch die Bergkette verdeckt, die es vom vorhergenannten trennt; hingegen erhebt sich über dieser der mächtige Gebirgsstock, der am Knotenpunkt der Cantone Uri, Bern und Wallis liegt und dessen höchster Berg, das Sustenhorn, einen wahrhaft prachtvollen Anblick bietet. Der Sustenpass mit seinem Zickzackwege war deutlich erkennbar, aber noch so weit entfernt, dass ich einsah, derselbe würde nicht so schnell erreicht sein, und was den Weg dahin anbelangt, so war er völlig verdeckt durch den genannten felsigen Ausläufer, der das untere Meyenthal nördlich begrenzt. Das einzige in dieser Beziehung gewonnene war, dass wir den Weg nach der Einsattlung zwischen den Spannörtern als völlig bequem erkannten; und diese Richtung hielt Wipfli für die einzig mögliche. Meine natürlich sehr untergeordnete Meinung wäre gewesen, mehr nach links, wenigstens in der Richtung des Titlis zu gehen; aber wenige Gründe genügten, mich ganz in W's Meinung zu fügen, der auf diesem Felde eine Erfahrung und Übung hatte, hinter welcher jede Theorie weit zurückbleiben muss. Den Titlis sahen wir gerade links vom kleinen Spannorte, und dieses letztere, obgleich das Kleine geheissen, weil es weniger hoch ist, nimmt einen grössern Flächenraum ein, als das grosse und ragt aus der weissen Fläche wie ein unzugängliches Gibraltar aus dem Meere.Von diesem zu uns lag das Firnmeer ruhig im hellen Sonnenglanze.Fortsetzung folgt )

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