Auf einsamen Spuren im Diemtigtal
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Auf einsamen Spuren im Diemtigtal

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Yon Daniel Bodmer ( S.A.C. Bern )

Hat nicht jeder Bergsteiger sein bevorzugtes Plätzchen, wo ihm jeder Fels, jeder Weg und all das geheimnisvolle Weben der Landschaft im Rauschen des Baches, im Flüstern des Waldes vertraut ist; einen Bergbezirk, zu dem es ihn immer wieder hinzieht und den er mit einer heimlichen Liebe umgibt?

Wenn sich allwinterlich ein Skifahrerstrom aus der ganzen Schweiz ins Berner Oberland ergiesst, so drängt seine Hauptmacht nach den Brennpunkten: Grindelwald, Wengen und Mürren; ein Seitenarm speist das Simmental, wo er in Saanenmöser auf einen welschen Ausläufer stösst. Unscheinbar aber ästelt sich bei Oey ein feiner Strahl von Bergfreunden ins Diemtigtal ab, von Skifahrern, die abseits gewalzter Pisten ihre einsamen Spuren in den Schnee zeichnen und in die Natur und in sich hinein lauschen.

1. Twirienhorn Seit im Zeitalter der Benzinnot die Postautos an den Sonntagen verschwunden sind, ist unser Tal wieder verträumter und die Zahl seiner Getreuen spärlicher geworden. Denn dieser Ausfall bedeutet längeres beschauliches Schlendern auf gelinde steigender Strasse, bevor sich dem abfahrtshungrigen Skifahrerherzen die weissen Höhen auftun. Wenn dann aber einmal die Pyramide des Twirienhorns als protzige Talsperre auftaucht, dann beflügeln sich die Schritte. Beim Gasthaus Riedli, das plötzlich aus dem Wald taucht, verlassen wir die Talstrasse, überschreiten den Filderich-Bach und wenden uns einem Steilhang zu, der die schönste Abfahrt verspricht. Querend steigen wir in der Flanke eines Rückens auf, bis wir in die Talwanne einer Alp einmünden, auf welche schon die Sonne ihr erstes Gold ausschüttet. Nach einigen Kehren treten wir in den Schatten des wuchtigen Gipfelkolosses. Ein lawinenschwangerer Schlauch schiesst jäh zur Schulter hinauf. Aber an seinem Rande vermag noch ein dichtes Tannenrudel mitzusteigen, in dessen Schutz wir uns wohlweislich zum Anlegen einer steilen Zickzackspur begeben.

Wie wenn wir einem engen Schacht entstiegen wären, so überfällt uns beim Erreichen der Schulter ein befreiendes Gefühl. Vor uns hebt sich das ebenmässig stark geneigte Gipfeldach, das wir anfänglich in schwacher Diagonale bis unter den höchsten Punkt durchschneiden, um dann in wenigen steilen Schleifen direkt diesem zuzustreben. Meistens bietet er einen schneefreien Fleck, auf dem es sich wohlig an der Sonne räkeln lässt, nachdem die Augen gierig von der Schönheit der in blauem Glaste schwimmenden Gipfel getrunken haben. Dann geben wir uns ganz dem Rausche der Abfahrt hin, welche die Erdenschwere nicht zu kennen und einem die Flügel des Geistes zu verleihen scheint. Zauberhaft saugt uns die Tiefe an sich. Erst auf der Schulter, wo wir plötzlich ins düstre Schattenreich der Steilrinne wechseln, lässt uns ein leichtes Prickeln innehalten. Zögernd stechen wir die schweren Pulverschneepolster an und scheuen uns anfänglich, den Körper herzhaft talwärts in die Vorlage zu werfen. Aber gleich die erste in den schweigsamen Hang gezeichnete Spur bricht den Bann. An unsern Aufstiegsspuren vorbei segeln wir, zuletzt über den herrlichen Steilhang, dem Riedli zu.

2. Rauflihorn Die Aussicht vom Twirienhorn hat uns neue Verlockungen gezeigt. Das Postauto bringt uns an dem kunstvoll verzierten Holzbau der Wirtschaft « zur Tiermatten » verbei ins Herz des Tales, wo das Kurhaus Grimmialp seit Jahren im Dornröschenschlummer liegt, beherrscht vom vielgliedrigen Felsbollwerk der Spillgerten.

Wir vertrauen uns für die Nacht der Obhut des behäbigen Wirts und Bäckers Reber in Schwendi an, der sich jovial neben den Fremdling setzt und ihm seine Erlebnisse zum besten gibt. Ungern treten wir aus der behaglichen Unterkunft in die stahlblaue Morgenkälte. Aber rasch entzündet sich unsere Begeisterung am Glast des Winterhimmels, der einen an eine Knospe mit den schönsten Blütenversprechungen gemahnt. Noch hält uns der Frost umklammert und lässt den Schnee unter unsern Skis knirschen. Lange Wanderung einem Rechtshang entlang, zuerst auf offenen Feldern, dann durch kurze Waldzüge. Eine waagrechte Traverse führt uns zur vordersten Hütte der hintern Grimmialp, wo auf einmal eine warme Sonnenflut erlösend in die starre Kälte fliesst. Auf den Balken vor der Hütte geniessen wir den Übergang von einer Welt in die andere, während sich in der Wärme der Bann von Glied und Geist löst. Nach kleiner Abfahrt in eine Mulde klimmen wir die kupierten Hänge zum Rothornsattel hinauf. Der ziemlich steile Rücken zum Gipfel des Rauflihorns ist meist so vom Winde « tätowiert », dass sich seine Bezwingung zu einem qualvollen Abmühen auf haltlosen Ski gestaltet. 150 m unter dem höchsten Punkt überrascht uns ein verlorenes Alphüttchen, wo aus dem Fermeltal ( Matten ) aufgestiegene Kameraden zu uns stossen. So behaglich, wie wir uns heute ums Signal lagern, trifft man es nicht alle Tage. Aber meistens wird man die grosse Stille zum Gefährten haben, die einem allein den Weg zum Geheimnis des Berges deutet, jenen Weg, der nie ans Ziel führt und uns bei jeder Wendung mit neuen Offenbarungen, aber auch mit neuen Geheimnissen überrascht.

Warten wir so lange, bis sich die Sonnenpfeile tief genug in den harten Firn gebohrt haben, so beschert uns der Gipfelhang eine herrliche Sulzabfahrt, sonst setzt es eine « Knochenmühle » ab. Vom Rothornpass an treffen wir in der Regel auf Pulverschnee; hei, ist das ein entzücktes Stieben über Buckel und Mulden! Nur bei der « Frühstückshütte » legt die Sonne ein goldenes Band durch die Schattenzone, das mächtig zum Verweilen lockt. Erst weiter unten leuchtet der Schnee erneut auf. Auf Grimmialp treibt uns dann der trockene Gaumen nochmals ans gute Brünnlein des lustigen « Onkels Reber », bevor wir beschaulich die Strasse talauswärts gleiten.

3. Mäniggrat Wer die Berge nur im Sonnenglanze kennt, der kennt sie nicht! Als wir ein andermal von der Feldmöser durch den sogenannten « Schlauch » aufstiegen, empfing uns auf der Rinderalp eine rauhe Windsbraut. Finster rauschte sie, auf- und abklingend, durch die Tannen und legte einen Schnee-vorhang über unsern Weg. Aber Peters altbewährte Spürnase fand auch hier einen Durchschlupf durch die weissen Mehlhaufen, die sich aus dem dämmrigen Nebelbrei unversehens vor uns auftürmten, in den Mäniggrund. Als wir uns über die letzten, kaum überzuckerten Hänge hinabgetastet hatten, war bei der Säge von Schwand unten auf einmal die grosse Stille um uns. Noch brummte uns der Kopf vom Sturm. Ein Mädchen, das wie ein holder Engel aus den schneeverhangenen Tannen heraus auf der Strasse auftauchte, wies uns den Weg zum Mäniggrat. Auf der Rast fasste uns die Kälte derart an, dass wir froh waren, den Rucksack zu buckeln. Erneut stiessen wir in das graue Gebrodel, zu dem sich Nebel und Schneeflocken mischten. Mühsam schaufelten sich unsere Ski durch die Flockenpolster. Auf der Mänigalp bliesen wir in Anbetracht der hohen Zeit und des erbarmungslosen Wetters zum Rückzug, der auf den Herwegsspuren erfolgte. Allerdings vermieden wir diesmal den grossen Kessel, der uns am Morgen so heimtückisch in die Falle gelockt hatte, und wählten vom « Biadili » aus die oberhalb des Tannen-gürtels längs des Thurnen führende Route.

Wir kannten unsere Berge und zürnten ihnen nicht wegen des erlittenen Ungemachs. Aber siehe da, unversehens riss die Sonne ein Loch in den verhängten Himmel und wohlige Wärme überrieselte unsern durchfrorenen Leib. Bei einer schneeumwallten Hütte der vorderen Rinderalp hielten wir Rast. Eben hob sich der Mäniggrat sichelförmig aus dem Qualm und wurde von einigen Sonnenblicken zärtlich liebkost. Da war es mir, als schwängen sich unsere Herzen auf den Spuren der goldenen Strahlen zum begehrten Gipfel, und ich empfand meiner Berglust schönste Befriedigung.

4. Tschiparellenhorn Auch die Westseite der Niesenkette bietet dankbare und wenig begangene Skigefilde. Einmal mehr stehen wir bei Horboden, wo sich das Diemtigtal erstmals gabelt. Den Hauptarm kennen wir; heute folgen wir dem Zweigtal gegen Rotbad. Nach einigen Strassenkehren leiten uns Skispuren, noch bevor wir dieses erreicht haben, links den Hang hinauf, der sich, von tiefen Gräben durchfurcht, in steilen Wällen herabzieht. Wären nicht diese Spuren vor uns gewesen, so hätten wir in dem unübersichtlichen Gelände Mühe gehabt, den rechten Rücken zu finden. Nachdem wir in einigem Auf und Ab zu diesem gelangt sind, leitet eine schöne offene Halde in mehreren Aufschwüngen, wobei nur die Häge störend wirken, zum Springenboden ( Skiheim des S. C. Strättligen ). Schon haben wir die Tschiparellenalp über eine lange Flucht von Leitungsmasten erspäht. Sie sitzt eingebettet zwischen zwei Gipfeln, deren beider Gestalt durch den Namen des einen — Hengst — am besten charakterisiert wird: breitschultrige Bergbuckel. Ein weiterer Steilaufschwung läuft in ein ziemlich scharfes Grätchen aus, das dem Vorbau des Tschiparellenhorns entspringt. Von ihm quert der Sommerweg nach rechts durch eine steile Waldpartie auf die Alpterrasse, wo uns ein tiefes Neu-schneebett aufnimmt. Während hinter uns das letzte Hüttlein versinkt, öffnet sich vor uns ein Bergkessel, aus dem uns die Einsamkeit düster anglotzt. Allseitig bäumen sich schwer befrachtete Flanken auf, die uns weniger die Wahl zwischen Meggiserhorn rechts und Tschiparellenhorn links bieten, als die Wahl zwischen Gefahr und Verzicht. Aber welcher junge Bergsteiger würde hier lange schwanken? Herzhaft greifen wir den Steilhang im Talgrund an, um die Achse der Niesenkette zu erreichen. Doch diesmal soll es nicht sein. Donnernd reisst über uns ein Schneebrett an, kurz darauf ein zweites. Noch bleibt es bei dieser Warnung, die wir ebenso gut verstehen wie den lockenden Ruf des Gipfels, dem wir verfallen sind. Rasch in den Schutz des nächsten Felssporns und die Felle weg! Bang folgt mein Blick der Abfahrtsspur meines Kameraden durch die Flanke des gereizten Berges; blutrot züngelt die Lawinenschnur als ahnungsvoller Mahner an tödliches Verhängnis hinter ihm her. Gottlob, diesmal hält der Berg seinen Grimm zurück. Aufatmend gleite ich nach, bis wir, befreiten Herzens, wieder unsre Bogen nach Lust und Laune auf den unversehrten Schnee zeichnen können. Nur das Wegstück durch den Waldzipfel unterhalb der Alp hält unsere rauschende Fahrt nochmals auf vor dem Springenboden. Dort rüsten wir uns zum Übergang auf die Standalp, die uns erlaubt, die errungene Höhe in der schönsten Abfahrt auszukosten. In anderthalbstündiger Gegensteigung schneiden wir in kurzweiligem Auf und Ab zwei Seitentäler. Die Standhütte liegt auf ihrer Kanzel im letzten Glanz der Sonne. Wir verweilen bis zu seinem Verlöschen und tauchen dann in den Schatten schneefrischer Hänge, an denen sich die eigenwilligen Spuren allmählich zu einer Piste bündeln. Über Küh-weid geht es in der Diagonale direkt aufs Dorf Oey zu, wo wir für heute vom Diemtigtal Abschied nehmen.

Wer das Diemtigtal lieb gewinnt, dem wird sich noch mancher andere verborgene Skipfad auftun, z.B. durch den Mäniggrund nach Obergestelen-Seeberg-Alp-Seehorn oder Niederhorn; sodann über Ennetkirel zum Otternpass.

Der Reiz, der im Wechselspiel von Trennung und Wiedersehen liegt, gehört zum reinen Genuss der Bergfreuden wie das Salz zur Speise; sonst kommen Abstumpfung und Überdruss auf. Mit stets neu durch die Sehnsucht gesteigerter Empfindsamkeit geniessen wir die Schönheiten der Natur. Kann jemals der Einheimische, dem die Berge tägliches Brot sind, den Gipfel in jener sonntäglichen Andacht erleben wie der in der Tiefe schmachtende Städter? So ist mir bei jeder Rückkehr das Diemtigtal zugleich vertraut und doch wieder neu. Nicht nur Wetter und Jahreszeit verleihen ihm wechselnde Kleider, auch der Mensch wandelt sich, und die Bergstimmung widerspiegelt ihm seiner eigenen Seele veränderlich Bild: bald sonnigen Jubel, bald brütende Schwermut, bald zorniges Toben, bald lächelnde Zartheit, bald nagende Zweifel, bald siegreichen Glauben. Immer aber schenken die Bergeshöhen Stunden unsagbaren Glücks.

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