Auf zahmeren Pfaden in Oisans
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Auf zahmeren Pfaden in Oisans

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Hans Gertsch. La Bérarde.

Eine Handvoll verwitterte Steinhütten, unscheinbar, schiefer- und stroh-bedacht, ein weisses Kapellchen, ein kleiner Berggasthof, fast bescheiden seitwärtsstehend, als zöge er sich bewusst zurück, die Urnatur des mit seiner Umgebung harmonierenden Dörfchens nicht zu stören, ringsum schroff himmelanstrebende Berge, Fels- und Trümmerhänge — das ist La Bérarde.

Schmächtige Birken wagen sich noch bis in die Nähe des Dörfchens. Ärmer wird das Grün, steigt zagend höher und verliert sich in Felsen und steilen Schutthalden. Rechts und links ein ungezügeltes Bachbett mit ungeheuren Blöcken, zwischen denen die Wasser friedlich plätschern, aber zu Zeiten mit verheerender Wucht herandonnern.

An schönen Sommertagen kommen in den Mittagstunden eine mehr oder minder grosse Zahl von Autos an. Die Ausflügler gehen ins Chalethotel und zu Rodier zum Essen. Dann machen sie etwa einen Spaziergang im Dörfchen und in dessen Umgebung umher, oder wer ein guter Gänger ist, mag rasch auf die Tête de la Maye hinaufsteigen. Doch so von der dritten Nachmittagstunde an, wenn in der Ferne die letzte Autohupe verhallt, dann ist der Bergsteiger wieder ganz chez soi. Das ist La Bérarde, am Fusse der Meije, der Ecrins, der Bans.

Und erst am Abend! Mit weichem Glanz verglimmt die Sonne hinter zackigen Graten. Stille Hochgebirgsnacht senkt sich über das Dörfchen. In Rodiers niederer enger Gaststube wirft die Petrollampe ein dämmriges Licht. Um den Tisch sitzt ein kleiner Kreis bei einem Glas Wein, rauchend und plaudernd, Menschen, die sich nie vorher gesehen, aber als kennten sie sich schon Jahre lang. In der russigen Küche nebenan haben sich Führer eingefunden. Sie erzählen von ihren Bergen und Fahrten, und manch gutes Wort klingt durch die schiefhängende Türe herein. Stunde um Stunde verrinnt, es geht auf Mitternacht. In hehrem Schweigen verharren die Berge. Kühl weht ein Lüftchen wie von Gletschern herunter: gut Wetter morgenWie einer fernen, trauten Erinnerung gedenke ich stiller Abende in La Bérarde im Herbst 1925.

Mit einem Bernerfreund bin ich wieder unterwegs nach La Bérarde. Wir haben die Höhe von St. Christophe erklommen und fahren hoch ob dem rauschenden Vénéon talein. Gletscher gleissen, Bäche und Bächlein springen die Talflanken herunter. Auf hohen Terrassen sonnen sich grüne Alpen, und in wunderbarer Reinheit zeichnen sich Firnen und Grate vom Himmelsblau ab. Das linke Talufer öffnet eine Kulisse um die andere, wilde Seitentäler mit weissschäumenden Sturzbächen und blinkenden Gletschern im Hintergrund. « Ist das schön! » ruft mein Gefährte, der zum erstenmal im Dauphiné weilt.

Bei Rodier sind Ernst und ich heute die einzigen Gäste. Der Raum ist noch derselbe. An der Wand hängt noch derselbe Schmuck, die Verordnungen des Wirtschaftsgesetzes, ein Verzeichnis der Führer und Träger und die vergilbte Dauphinekarte. Aus dem eingebauten Wandschrank holt nach wie vor der Wirt das Geschirr und durch die Lücke im Küchenboden aus finsterer Unterwelt herauf funkelnden Rotwein. Aber es ist ein unbekannter Mann, in der Küche hantiert eine fremde Frau. Ehemals hervorragender Bergführer, betrieb Rodier später nur noch sein « Café-Restaurant » mit ein paar Kammern und wackligen Betten, die uns schon aus Whymper bekannte Auberge Rodier. Ein Montagnard, mit seiner rauhen Heimat eng verwachsen, war er auch der rechte Wirt dazu, und man hatte es bald heraus, wenn man von den Bergen sprach, das Feuer war nicht erloschen, es glomm und glühte unter der Asche. Mit den Alpinisten hielt er es ganz besonders, und er hatte ein gutes Auge. « Voilà de l' eau du Vénéon! » sagte er heimatstolz, als er uns in später pechfinsterer Regennacht eigens eiskaltes Wasser vom Vénéon heraufholte, um unsere halberfrorenen Finger zu behandeln. War es, dass er seiner Schwäche, dem Trinken, zu sehr unterlag, war es, dass er nicht zu rechnen wusste? Als betagter Mann stand er arm vor seinem Heim, seinem Wetter- und Winterstürmen trotzenden Häuschen. Über der Eingangstüre heisst es jetzt modern mit grossen Lettern auf grellrotem Grund « Hôtel Rodier».La Bérarde kam wir heute so fremd, so ganz anders vor!

Col du Sélé und Mont Pelvoux.

Durch die glühende Hitze der ersten Nachmittagstunden wandern wir talein. Im Carreletboden ist der Steg halb weggerissen und der hochgeschwollene Gletscherbach braust reissend überhin. Mit einiger Akrobatik und den Schuhen voll Wasser gelangen wir schliesslich hinüber und nach kurzem Anstieg auf den Forstweg vom Glacier du Chardon zum Glacier de 1a Pilatte. Am Ufer des letztern erst beginnt das Steigen, und die durchreiste Nacht hängt sich schwer in die Glieder. Mit dem bekannten Seufzer der Erleichterung stellen wir gegen Abend in der Pilattehütte die Rucksäcke ab und verbringen in köstlichem Dolcefarniente einen herrlichen Bergabend.

Um 4 Uhr morgens schreiten wir im Schein der Laterne den Pilatte-gletscher hinan. Der anbrechende Tag findet uns bereits in den obersten Firnhängen, und um 6 Uhr stehen wir auf dem Col du Sélé 3302 m. Strahlend ist die Sonne aufgegangen. Schon sind die Bans von blendender Lichtfülle Übergossen und enthüllen in greifbarer Nähe alle Einzelheiten, und ihre himmelhohen Grate erglänzen in zauberhafter Klarheit. So sind die Berge! Zuweilen erbraust auch ein anderes Lied. Fürs Leben gedenke ich einer bösen Sturmnacht auf diesem wilden Felskastell.

Die Luft ist frisch, und wir trollen uns jenseits den Glacier du Sélé hinunter. Ein Eisbruch drängt uns in weitem Bogen nach rechts. Die Pfeiler der Pointe du Sélé und der Crête des Bœufs Rouges treten zurück und erschliessen einen umfassenden Blick auf das prachtvolle Dreigestirn Ailefroide 3959 m, Pic Sans Nom 3915 m und Pelvoux 3964 m. Die Ailefroide ist in ihrer Südflanke stark vergletschert, überhaupt zeigen sich alle drei Berge hier von ihrer lichtem Seite. Man muss sie erst von Norden, z.B. von der Barre des Ecrins, gesehen haben, ein Bild von grauenhafter Wildheit. Das untere Plateau des Sélégletschers querend, gelangen wir ans linke Ufer. Unter überhängender Felswand steht die vor wenigen Jahren erbaute Séléhtitte. Wir lassen sie links und lagern uns an sprudelndem Bach zum zweiten Frühstück. Die Sonne glüht schon mit einer Kraft, dass wir uns sagen, viel schlimmer kann 's nicht werden, und da wir nur noch den Übergang nach der Lemercierhütte vor uns haben, strecken wir uns einstweilen in den Schatten eines grossen Felsblocks und lassen den Herrgott einen guten Mann sein.

Gegen Mittag befinden wir uns immerhin im Aufstieg zum Glacier du Coup de Sabre. Auf dem Gletscher ist die grösste Hitze gebrochen. Mit dem Einstieg ins Salvator-Guillemin-Couloir treten wir in Schatten und bleiben darin, länger als uns lieb ist. Das Gestein ist brüchig, die Gegend wenigstens derart, dass Ernst einen Begriff bekommt vom Klettern in den Dauphine-bergen. Und als stimmungsvolle Musik zu der unheimlichen Kluft widerhalt in den Wänden der scharfe Knall aufschlagender Steine. Wie aus einem Schacht treten wir hoch oben im Südgrat des Pic Sans Nom wieder ans Licht. Angesichts des prachtvollen Zirkus des Sélébeckens verbringen wir weitere zwei Stunden, queren dann den Sans Nom-Gletscher hinüber zum Pelvoux und erreichen auf dessen üblicher Route absteigend 6 Uhr abends die Lemercierhütte.

Hervorgegangen aus einer notdürftigen Unterkunft unter einem Felsblock drunten im Chelse Nicre-Vallon, steht die jetzige Hütte auf einem aussichtreichen Podium 2724 m. Von derselben einfachen Bauart wie fast alle Hütten in den französischen Alpen, ist auch ihre Ausstattung dieselbe: eine Anzahl Decken, spärliches Kücheninventar, keine Holzversorgung. Jedoch sauber, und wir finden hier noch einige der historischen Schaffelle, von welchen man sich gerne allerhand Schauergeschichten erzählt. Bald nach uns erscheinen drei Engländer, Vater und Söhne, mit zwei Vallouiseführern. Im Verlauf des Abends hantiert Ernst noch in der Küche, derweil ich lässig auf dem grünen Rasen herumlungere. Nachdem sie mich erst missbilligend beobachtet hatten, fragen die beiden, übrigens ganz prächtigen, angehenden Alpine Club-Members meinen Freund in gebrochenem Französisch vorwurfsvoll: « Est-ce que vous avez bien instruit votre guide ?» Am Morgen stapfen wir zwei den Moränerücken ob der Hütte hinan. Im ersten Tagesschimmer erreichen wir den Clot de l' Homme- Gletscher, welcher wie ein ungeheurer Wasserfall Stufe um Stufe hoch aus der Pelvouxflanke herniederstürzt bis in die Clot de l' Homme-Schlucht. Die Tritte, die wir gestern abend geschlagen haben, sind ausgeschmolzen und Trümmer eingestürzter Seraks darüber gefahren. Nun Geröll-, Fels- und Schutthänge hinauf zum Sans Nom-Gletscher. Hier lassen wir unsere gestrigen Spuren links und wenden uns den Gletscher hinan dem grossen Coolidgecouloir zu. In hartem Firn greifen die Achtzackigen prächtig. Zuletzt halten wir uns an ausgeaperte Felsrippen und stehen wenig später am Rand des Pelvoux-plateaus. Der Sans Nom-Gletscher liegt tief unter uns, die Engländerpartie, welche eben dort angestiegen kommt, ist nur als schwarze Punkte wahrnehm- bar. Über Eis- und Firnhalden gelangen wir in 20 Minuten auf die Pointe Puiseux, den höchsten der vier Pelvouxgipfel. Der Mont Pelvoux galt bis zu der Ersteigung durch Whymper im Jahr 1861 als der höchste Berg des Massivs.

Es ist ein Morgen von eigenartiger Schönheit. In der Luft liegt Witterungsumschlag. Die Fernen deckt der Nebel, bereits ist das Heer der Dauphiné-gipfel von einem Wolkenkranz umschlossen, aber noch blaut ungetrübt der Himmelsdom. Zu Füssen, in farbloser Tiefe, liegt der Glacier Noir. Finster und in grauenhafter Flucht von 1300 Meter steigt jenseits die Barre des Ecrins auf. Hinter der Barre aber und der Grande Sagne hervor wallt der Glacier Blanc, der grösste Dauphinégletscher, und bricht und fällt schimmernd und glitzernd weit in den Talhang hinab. Lieblich ist sein linkes Ufer von zartem Grün durchwirkt, auf blühender Terrasse blitzt ein Wasserspiegel, und hoch darüber erstrahlt im Glorienschein der Morgensonne — eine Jungfrau von Norden, nur in dunklerem Gewand — die Montagne des Agneaux in einer Girlande lichtweisser Haufenwolken.

10 Uhr ist vorüber, und rasch aus der Tiefe steigender Nebel mahnt zum Abstieg. Inzwischen langen auch die Engländer an. Sie sind zu spät gekommen, die Wolken brodeln über alle Berge herein und schlagen überm Pelvoux zusammen. In wenigen Sprüngen sind wir zurück ob dem Coolidge-couloir. Wie der Aufstieg, so geht auch der Abstieg mit Hilfe der Steigeisen rasch und sicher vonstatten, und Schneehänge abfahrend, Geröllhalden hinunterstiebend, erreichen wir in fünf Viertelstunden die Lemercierhütte.

Nachmittags nach Ailefroide hinab auf fragwürdiger Wegspur, oftmals auf gut Glück Felsköpfe und Absätze hinunter, stotziger beinah als am Pelvoux selbst. Der Himmel verfinstert sich zusehends. Als wir die letzten Hänge zum Chelse Niere-Bach hinunterpoltern, fallen die ersten Regentropfen. Indessen verzieht sich das Gewitter noch einmal, und wir eilen durch Busch-und Nadelholzwald talaus. Schon sind die Hütten von Ailefroide in Sicht, da bricht es los — Schlag auf Schlag widerhallt der Donner in den Flühen, und der Himmel öffnet alle Schleusen. Pudelnass klopfen wir an die Pforten des Chalet-Hotels.

Rund ums Dauphiné.

In nachtschlafender Zeit noch stolpern wir greulich finstern Wald hinunter. Spukig huscht der Laternenschein über Baumwurzeln und Steine und irrlichtert in Regenpfützen. Irgendwo in tiefer Klamm tost der Gletscherbach. Der Maultierweg geht in ein im Bau befindliches Strässchen über, die Fortsetzung der Strasse von Les Claux, dem obersten Vallouisedörfchen, nach Ailefroide. Les Claux liegt noch in tiefem Schlaf, desgleichen St. Antoine. Im Tagesgrauen durchschreiten wir den Hauptort Ville-Vallouise.

Weit offen, reich an Laub- und Nadelholzwald, ist das Vallouise eines der freundlichsten Täler des Dauphiné. Südliche Sonne und rauhe Gletscherluft reichen sich die Hand. Wie ein düsterer Schatten schwebt für alle Zeiten über ihm die Überlieferung der Waldensermorde.

Im Talausgang ragt noch einmal hinter waldigen Kulissen machtvoll der Pelvoux in den Sommermorgen, dann senkt sich die Strasse mit starkem Gefälle hinab ins Durancetal. Gewaltige Rohre, die Zuleitung des Argentière-werkes, welches die Wasser der Gyronde und der Durance ausnützt, überspannen frei in kühnem Bogen, schwindelnd hoch über der Eisenbahnlinie, die Schlucht der Durance. Argentière, ein ansehnlicher Industrieort mit Aluminiumwerk und Eisenschmelzereien, hat schon südländischen Anstrich. Offenen Mundes schaut uns der Wirt zu, wie wir nach dem vierstündigen Marsch seine « cafés au lait » eins ums andere hinunterstürzen.

Eine halbstündige Bahnfahrt bringt uns nach Briançon. Militärrampen und Lagerhäuser kennzeichnen zum vornherein die Garnisonstadt. In und vor dem Bahnhof lebhaftes Treiben: schwarzäugige Südländer, Yankees, English Ladies, Offiziere, farbige Kolonialsoldaten, alles wimmelt bunt durcheinander. Im Bureau des Autocars P. L. M. sichern wir uns die Plätze für den Col du Lautaret.

Der Franzose nennt Briançon « la Ville des Forts ». Indessen ist es nicht allein ein grosser Festungsort und strategisch wichtiger Platz, sondern ein Verkehrszentrum ersten Ranges, eine der Hauptetappen der berühmten Route des Alpes, der Durchquerung der Alpen im Auto von Chamonix nach Nizza, von der Eiswelt des Mont Blanc zum blauen Mittelmeer. Einer der ältesten und bekanntesten Alpenübergänge, der Col du Mont Genèvre, führt nach Oulx und Turin. Der Bahnhof hat eine Meereshöhe von 1206 m, die Stadt selbst eine solche von 1346 m und liegt auf hoher Terrasse, umgeben von mittelalterlichen Mauern.

Fahrplanmässig, punkt 10 Uhr, schwenkt der grosse Alpin car zum Bahnhof hinaus, erst ansteigend, und wendet sich dann links ins Tal der Guisanne. In flottem Tempo schnurrt der Motor Halden und Hängen entlang, nimmt Steigungen sachte und bedächtig, mit elegantem Schwung Kurve um Kurve. In mollige Polster gelehnt und schlafbedürftig, sinken wir fast ins Träumen. Weltverloren steht ab und zu ein Weiler oder eine vereinzelte Siedelung an der Strasse.

Die wechselnde Szenerie scheucht uns den Schlaf aus den Augen. Felshörner schauen herab, Gletscher blinken. Ein habliches Dorf kommt in Sicht, Monetier-les-Bains — bedeutender Ort mit Thermalquellen, 1482 m, am Eingang eines kleinen Seitentales. Lage des Dorfes und Bauart der Häuser gemahnen ans Unterengadin. Hinter waldigen Kreten in der weit auseinandergeschobenen Talsenke ragt die eisgekrönte Dôme de Monêtier-Gruppe auf.

Das Defilee wird immer grossartiger. Der Blick auf den Glacier du Casset und die Montagne des Agneaux wird prachtvoll. Der Guisanne entlang gegen den Lautaret zu streichen weite, grüne Weiden. Unharmonisch hallt das Surren des Motors in diesen stillen Alpenfrieden. Die Strasse beginnt stärker zu steigen. Betongalerien schützen vor Lawinen, Tunnelle vor Wildbächen und Ruf enen. Weitausholend durch tief eingeschnittene Gräben geht es zuletzt auf die Passhöhe zu — II40 Uhr stoppt unser Wagen auf dem Parkplatz des P. L. M. Restaurants. Die Passagiere verziehen sich zum obligaten « dé- jeuner », Ernst und ich schlenkern die Rucksäcke über die Schulter, und auf einer nahen Anhöhe, inmitten niedlicher Bergmargeriten, halten wir Mittagsrast. Nachher besuchen wir den Alpengarten, ein 10,000 m2 umfassendes eingezäuntes Areal, mit Alpenblumen und Pflanzen aus aller Herren Länder. Ein hübscher Chaletbau enthält die Wohnung für den eigens geschulten Gärtner, sowie ein Pflanzen- und Mineralienmuseum und historische Sammlungen aus Oisans Siedelungen. Ein Gedenkstein erinnert an den tapfern Scott, welcher im Winter 1907/08 hier längere Zeit zu Versuchen und Training für seine Südpolexpedition geweilt hat.

Von all dem aber zieht es unsere Blicke immer wieder zu den Gletschern und Gipfeln der Meije. Firnhänge prangen in fleckenlosem Weiss, zwischen finstern Felsriffen schimmern steile Gletscher und Eisbrüche stürzen hernieder. Bäche rieseln über Felsen und durch sanftes Grün zu Tal. Hoch im Himmelsraum über der Grande Difficile schweben lichte Flöcklein. Hinter dem Pic Gaspard steigt eine silberne Wolkenwand auf und zeichnet seine wilden Grate in ungewöhnlich scharfen Umrissen ab. Allüberall ein strahlendes Leuchten, ein Bild von märchenhafter Schönheit.

Um 230 Uhr rufen die Hupen zur Sammlung. In starkem Gefälle und scharfen Kurven geht es nun ins Romanchetal hinab nach La Grave, dem bescheidenen Fremdenort am Nordfuss der Meije, und immer tiefer in die Schlucht der Romanche. Noch hängt ein Lappen des Mont des Lans-Gletschers herein. Brausend tost der Fluss in seinem steinigen Bett. Scharf um eine Felsecke biegend, landen wir auf einmal wieder bei der St. Guillerme-Brücke, wo wir vor einigen Tagen ins Vénéontal abgeschwenkt sind. Ungestüm zieht der Motor an, die Ebene von Bourg-d'Oisans hinaus und auf unserem Herweg talab.

Mit dieser Rundfahrt sind leider für meinen Freund die Ferien zu Ende. Meiner harrt noch ein Abstecher in die entlegenen Schlupfwinkel des Valjouffrey. So trennen wir uns in Viziile, Ernst reist weiter nach Grenoble und mit dem Nachtzug der Schweiz zu, ich fahre im sinkenden Abend hinauf zu den Laffreyseen und nach dem alten Städtchen La Mure, der Pforte in die Täler der Bonne.

Zu den Reizen des Dauphiné, wenn schon zu seinen Voralpen, gehört das Plateau von Laffrey. Von Viziile steigt die Strasse in einem Zuge, die Berglehne in der Diagonale schneidend, von 280 auf 900 m. Ehe man es recht gewahr wird, führt sie auf ein weit offenes Hochplateau über, und zur Seite blitzt, von Busch und Strauch umrankt, ein klarblauer See. Dem ersten folgt ein zweiter und dritter. Hier stiessen 1815 der von Elba zurückgekehrte und mit einem Häuflein Getreuer auf Grenoble zu marschierende Napoleon und die ihm zu seiner Entwaffnung entgegengesandten Truppen aufeinander. Die Erregung war gross unter den Soldaten und unter der von La Mure und Umgebung herbeigeströmten Bevölkerung. Schon war « Feuer! » kommandiert. Da rief Napoleon, ein paar Schritte vortretend: « Soldats du 5e, je suis votre empereur, ne me reconnaissez-vous pas? » und, seinen Rock öffnend: « S' il en est un parmi vous, qui veuille tuer son général, me voilà! » Ein frenetisches « Vive l' Empereur! » hallte von End zu End, und unter dem Jubel der Bevölkerung ging die Truppe zu Napoleon über 1 ). Ein Stück von Frankreichs Geschichte, die Schlacht von Waterloo und ihre Folgen, hatte sich auf dem Laffreyplateau erfüllt.

Zum letztenmal den Bergen zu.

Im Lokalfahrplan von La Mure heisst es: « Courrier pour Périer, dép. 8 h. » Doch kann es auch 9 und selbst 10 Uhr werden, bis die verschiedenen Besorgungen « en ville » abgetan sind, was indessen dem Reiz der Reise und der Gegend keinen Eintrag tut.

Bei Entraigues zweigt das Valjouffrey ab, und nun wandere ich zu Fuss talauf. In Busch und Feld klingt hochsommerliches Zirpen und Singen. Eidechslein huschen vor den Füssen davon. An stillen Tannenwäldern vorbei schäumt die Bonne mit melodischem Rauschen. Anderthalb Stunden tüchtigen Ausschreitens, da guckt aus linden Wipfeln und Kronen der Kirchturm von La Chapelle-en-Valjouffrey.

Nicht überall ist die Dauphinelandschaft herb und ernst. Man schaue nur die sonnige Verträumtheit dieses stillen Winkels, dieses paradiesischen Wiesengrundes zwischen den waldigen und grünenden Bergen.

Den Weg nach dem Fond de Turbat lege ich abermals unter brennender Sonne zurück. Es wird 230 Uhr nachmittags, bis ich am Pissebach anlange. Der verspätete Abgang des Courrier in La Mure wurmt mich jetzt doch. Das Wetter hält sich wunderbar, und für den im stillen gehegten Wunsch, heute noch den von der Pointe Swan südwärts streichenden Felszug zu überklettern und über den Col d' Aillot ins oberste Valsenestre zu gelangen, ist es endgültig zu spät geworden. Morgen ist mein letzter Tag und auf Jahre hinaus mein letzter Besuch im Dauphiné. Wie schön wäre es gewesen, auf der Roche de 1a Muzelle Abschied zu nehmen, dem stolzen Eckpfeiler im linken Flügel des Vénéontales, von ihrer lichtverklärten Höhe einen letzten Gruss dem herrlichen Bergkranz von Oisan zuzuwinken. Aber Wünsche und Hoffnungen zerfliessen hier und dort.

Ich habe nun nichts mehr zn eilen und steige rastend und Umschau haltend die rechte Talseite hinan. Ein erfrischender Hauch streicht durch die Bergeinsamkeit. Den Pissebach überschreitend, halte ich auf das zerklüftete Felsbollwerk zu, das sich hochaufgetürmt von der Pointe Swan aus vorschiebt. Bis in die Krümmung des obersten Valjouffreyrippens emporkletternd und steinschlagdurchfurchte Rinnen querend, gelange ich immer höher. In steilen Bändern leuchten wunderbar grosse Edelweisssterne. Eine luftige Plattform unter überhängenden Felsen bietet einen reizenden Aussichtsplatz. Das eine wenigstens, das mich hierher geführt hat, wird mir in reichem Masse zuteil: ein grossartiger Blick auf den Pic d' Olan und das Turbatvallon. Tief drunten, mitten durch das kümmerlich grüne, trümmerreiche Tal, rieselt ein Bächlein, ein schimmerndes hin und her glitzerndes Band, dem Hintergrund zu immer zarter werdend, bis es sich in einer Steinwüste verliert. Und dort, unmittelbar vor Augen, beherrscht der Olan das Reich, unnahbar und ohne seinesgleichen nah und fern.

Inzwischen ist die Sonne ordentlich gesunken, und es ist Zeit zur Umkehr. Eigentlich ist meine Mission erfüllt, doch das Wetter ist zu schön für einen Rückzug ins Tal. Die Felsen hinter mir und zum Pissebach hin-unterschlendernd, überlege ich, morgen noch über die Berches und durch das Vallon de Lanchâtra wieder ins Vénéontal hinüberzugehen.

In der Nähe des milchweiss über Granitplatten stiebenden Baches habe ich ein Schäferhüttchen bemerkt. Einstweilen finde ich niemand zu Hause, doch lagere ich mich abwartend auf dem Rasen und schaue, wie die Schatten die Flanken des Turbatvallons emporstreichen, wie am Olan ein flammendes Rot höher steigt und schliesslich erlischt. Plötzlich kommt zwischen Felsblöcken hervor ein zottiger Hund auf mich zugesprungen, und bald hernach folgt der Schäfer, ein junger Bursche, dem man auf den ersten Blick den Südländer ansieht. Bereitwilligst gewährt er mir Unterkunft. Er hat ein Murmeltier erbeutet, und da er es schmackhaft zuzubereiten versteht und ich noch etwas Wein habe, so leben wir beinahe « wie der Herrgott in Frankreich ». Während wir in dem winzigen, rauchschwarzen Raum am Feuer sitzen, erzählt er: er sei aus dem Midi, von Avignon — dass er und sein Kamerad drüben im Valsenestre mit etwa 1500 Schafen aus dem Süden hierher gekommen seien — dass sie den Weg zu Fuss machen, 14 Tage her und ebensoviel zurück, mit Übernachten im Freien. In schlichter Art beichtet er, wie er oft wochenlang niemand zu Gesicht bekomme, wie er wohl schöne Tage habe hier oben, aber auch andere, wo er im Sturm und Gewitter seine Herde betreuen müsse. Spät erst beziehen wir das dürftige Lager.

Früh um 3 Uhr stellt mir mein Wirt eine Kanne voll dampfende Ziegenmilch auf und will für alles zusammen keine Entschädigung annehmen. Nur schreiben solle ich ihm einmal und das nächste Jahr wiederkommen! Mit Mühe kann ich ihm wenigstens einen anständigen Entgelt für das Gebotene aufdrängen. Im Schein der Laterne folge ich ein Stück weit dem Wasser. Dann sperrt eine mächtige Wand das Tälchen in seiner ganzen Breite. Links ausbiegend, umgehe ich diese in steilem Anstieg. Als der Tag anbricht, erblicke ich das Hüttlein schon in grosser Tiefe. Ausgedehnte Schafweiden und Geröllhänge führen an den Fuss eines finstern Bergwalles. In teilweise ganz netter Kletterei gelange ich über eine erste Stufe in einem wilden Felswinkel auf ein steiles Gletscherchen und über dieses neuerdings in Fels. Vier Stunden nach dem Aufbruch stehe ich auf einem langgezogenen Grat voller Türme und Zacken, Les Berches 3050 m, in der Wasserscheide zwischen der Bonne und dem Vénéon.

Der Abstieg zum Vallon de Lanchâtra-Gletscher ist nicht eben schwierig, aber Firnbrüche mit zweifelhaften Brücken und gähnende Bergschründe sind für einen Alleingänger nicht immer ganz kommod. Dann aber hat der Fuss sichern Grund, apern Gletscher, Moränen und die üblichen Trümmerhalden. Durch Plattenschüsse ob mächtiger Kluft steige ich in die düstere Schlucht des Baches hinunter. Ein Lawinenschneekegel ermöglicht den Übergang ins rechte Ufer. Das Vallon de Lanchâtra ist wohl eines der ein- samsten und wenigst besuchten Seitentäler des Vénéon. Nirgends die Spur eines Menschen oder eines Lebewesens überhaupt. Tiefer unten stosse ich auf Schafe und später an einem Wassertümpel in magerer Weide auf etwas Grossvieh. Erst im Talausgang wird die Vegetation belebter, doch plötzlich folgt ein jäher Abbruch 400 Meter über dem Vénéon. Die Häuschen des Weilers Lanchâtra kleben nur so an der Bergkante, vor den Fenstern der Abgrund. Diese Tiefe und das Bild der Talseite gegenüber ergreifen Auge und Herz, ebenso der Blick auf die Berge von St. Christophe, vor allem auf die ihre kühne Form nach allen Seiten bewahrende Aiguille du Plat.

Um die Wohnstätten ist es sonntäglich still, die Leute liegen dem Heuen ob. Einer halb offenen Türe entschwebt ein lärchenholzduftendes Räuchlein. Da klopfe ich um Milch an, und nicht vergebens. Küche-, Schlaf- und Wohnraum sind in einem vereinigt, von peinlicher Sauberkeit, mit buntgeblümten Bettvorhängen, mit verzierten Möbeln und bemaltem Geschirr, das manchem Museum Ehre machen würde. Bald aber eile ich den Zickzackweg die stotzige Flanke hinunter zum Plan du Lac und dem Vénéonstrasschen. Der weiss-bärtige Wegknecht und Hirte, der hier gelegentlich den Turisten Blumen zum Kaufe anbietet, tritt mit Edelweiss und « chardons bleus » an mich heran. Heute kaufe ich ein Sträusschen, und als ich dem Alten zum Abschied die Hand drücke, schauen seine Augen schier verwundert aus dem runzeligen Gesicht unter dem schwarzen Schlapphut...

Wie ich durch die Versicherung, « die Kirchturmuhr von Entraigues ist die beste in der Runde », beim Pont St. Guillerme meinen Alpincar verpasste und ein teures Privatauto mich in letzter Stunde nach Grenoble brachte, wie man unsern Zug auf einen Güterzug warten liess und wenig fehlte, zu guter Letzt noch in Chambéry den Anschluss auf den Express zu verfehlen, wie ich in Bellegarde meine letzten Sous für ein Schinkenbrot und ein Glas Wein eintauschte und am folgenden Morgen in Bern den mich erwartenden Freund gleich anpumpte für ein Frühstück im Buffet, das alles ist eine Geschichte für sich.

Herrliches Dauphiné, du hast im Laufe der Jahre meine Wünsche erfüllt: die Meije, von der die berufensten Kenner sagen, sie sei die längste andauernd schwierige Bergfahrt in den Alpen — die Barre des Ecrins mit wundersamer Mondnacht auf dem Gipfel, hoch über wogendem Nebelmeer — des Pic d' Olans einsame himmelstürmende Zinnen — dann Les Bans, dort ging es hart ums Leben — und das Licht- und Wolkenspiel auf dem Pelvoux! Ich träumte auf sonnigen Höhen in die wilde und doch so ergreifende Landschaft; ich wanderte durch rauhe, tiefernste Täler; sass am Herde lieber Menschen, da Nebel in den Bergen schlich und Regenschauer die Fenster peitschten.Und wenn es auch nur kleine kurze Episoden waren, zäh erkämpft und schier mit List erschlichen, so waren es doch unvergesslich schöne Tage!

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