Berge nah und fern
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Berge nah und fern

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON ERNST REISS, BASEL

Mit 3 Bildern ( 121-123 ) Es ist in den Bergen immer wieder der Mensch -nicht der Bergsteiger - der entscheidet. Ein Brief.Samuel Pliez Lieber Clubkamerad, Du wirst Dich manchmal fragen, warum Du seit meinem Wohnortwechsel so wenig von mir vernimmst. Leicht könnte bei Dir der Gedanke aufkommen, ich hätte mit dem Überschreiten des eigenen alpinen Zenits den Bergen und Bergkameraden den Rücken zugekehrt. Nein, mein guter Kamerad, dem ist nicht so: seit dem Abstieg von den höchsten Weltbergen und schönsten Anden-Gipfeln war ich wieder unzählige Male in den. Bergregionen und schenke nach wie vor allen berg- steigerischen Fragen viele meiner Gedanken und einen schönen Teil der Freizeit. Wie könnte das anders sein bei einem Menschen, in dessen Dasein der Alpinismus ein Teil seines Lebensrhythmus geworden ist.

Freilich unterstehen wir alle dem Gesetz, älter zu werden, um in der Regel auch in den Stufen und der Reife dieses Alters zu handeln. Familie und Beruf verlangen bei einem angehenden SAC-Vete-ranen doch etwas anderes als zur Zeit unserer jugendlichen Stürmerjahre, wo wir in der Freizeit von einem Lagerfeuer zum andern zogen und unaufhaltsam nach neuen Gipfelzielen suchten. Je weniger man aber in der Lage ist, noch des öftern grosse Bergziele zu erreichen, um so deutlicher ist dies auch der Zeitpunkt, wo es gilt, auch auf einiges zu verzichten. Dabei wächst die Sehnsucht nach den Bergen, und wir erleben manches auf der Tour noch tiefer und schöner. Weit wichtiger als in jungen Jahren ist uns die Wahl eines nahestehenden Seilkameraden, als ein hohes alpines Ziel für den Preis einer reinen Zweckkameradschaft.

Noch hat jeder von uns viele bergsteigerische Wunschträume, selbst wenn wir gelernt haben, dass ein Menschenleben nie genügt, um alle diese Pläne zu erfüllen. So freue ich mich an jeder schneidigen alpinen Tat von bescheidenen jungen Leuten oder runzle die ohnehin schon gefurchte Stirne, wenn Grosshanserei, Tatsachenverdrehungen und übertriebene Publizität die wahrhaften Werte des Bergsteigens schädigen.

Wenn ich an die vergangenen Wintermonate zurückdenke, dann kann ich nur wenig von eigenen alpinen Fahrten berichten. Dennoch verband mich jeder Schritt und Tritt mit dem Bergsteigen: Ende November folgte ich einer Einladung des Österreichischen Alpen-Klubs nach Wien, wo Freund Erich Waschak und seine Gefährten der Karakorum-Expedition 1961 empfangen wurden, und sich zugleich ein halbes Dutzend Clubkameraden, welche alle erstmals einen Achttausender betreten haben, ein nicht alltägliches Stelldichein gaben. Schon beim Hinflug am Spätnachmittag erlebte ich eine unvergessliche Gipfelschau: der gesamte vorwinterliche Bergkranz vom Alpstein zum Bernina bis zum Ortler und Karwendel erstrahlte im abendlichen Sonnengold, unterbrochen vom Schattenblau der vielen tiefen Täler. Im heimeligen Clublokal der alten Wiener Bergsteigergilde angekommen, folgte am Abend dieses Treffen besonderer Art. Trotz dem Zusammensein verschieden geprägter Einzelgänger stand die Verbundenheit der Bergsteigerfamilie im Vordergrund. Nur einer der österreichischen Achttausender-Männer fehlte - Hermann Bühl.

Zwei Tage später fand sich nach Jahren die ehemalige Everest-Lhotse Mannschaft fast vollzählig bei unserm Expeditionsleiter und väterlichen Freund Albert Eggler in Bern ein. Nach dem ausgezeichneten Fondue führten uns die Farbdias der Expeditionskameraden vom arktischen Axel-Heiberg auf den heiligen Fujiama, von Grönland auf die höchsten Berggipfel von Alaska und Südamerika. Noch graute nicht ganz der Morgen, als sich die frohe Gesellschaft auflöste, um einige Stunden später bereits wieder im sonnigen Kalk der Mittagsspitzkante im Simmental aufzusteigen. Tiefbraune, gut gesömmerte Gemsrudel führten an den naheliegenden Steilflanken ihre weit sichtbaren hellen Spiegel spazieren. Trotz unserem kurzen Verweilen, war es ein Sonntag voller Friede.

Wieder vierzehn Tage später, es mochte bald Weihnachten zugehen, verband mich das Seil mit einem alten Freund am Raimeux-Grat im Jura. Wir kletterten mit der sinkenden Sonne um die Wette. Im Mondschein lagen wir im dürren, gelben Gras oben auf dem Gratscheitel und lauschten dem Wind, der sich in den struppigen Ästen der Bergföhren verfing.

Fast hätte ich zuvor einen namhaften Bergsteiger-Besuch vergessen: wie ich an einem Abend etwas abgekämpft aus dem Geschäft heimkam, sollte ich schon im Treppenhaus unsern unerwarteten Gast erraten. Wie konnte ich das wissenAnderl Heckmair, der erste erfolgreiche Kämpfer am Eiger, sass ganz gemütlich in meinem Sessel im Wohnzimmer. Es war ja nur ein Zufall, dass ich Anderl vor einigen Jahren kennenlernte. Meine Frau stellte gleich eine ungeahnte Aufheiterung bei mir fest. Es wurde ein gemütlicher Abend.

Die Tage von Weihnachten zu Neujahr fanden uns wie alle Jahre bei den Eltern im heimatlichen Davos. Wir zogen unsere Aufstiegsspuren und Telemarkschlangen über die Hänge einiger verlassener Skiberge, wo die Seilbahnen erst projektiert, aber noch nicht gebaut sind. Sogar mein alter Freund, Ruedi Schatz, der Leiter der Anden-Expedition, hatte die Reise nicht gescheut, um auch mit von der Partie am Rhinerhorn zu sein.

Der freiwillige Gebirgskurs im Gebiet der Lenk und am Wildhorn brachte mir in die zuweilig grauen Februartage eine angenehme Abwechslung. Dass ich am gleichen Ort meinem alten Stammclub, dem UOV von Brienz, während seinem kantonalen Skiwettkampf noch aushelfen konnte, bereitete mir besonderen Spass. Nach Jahren wieder einmal auf einem Paar gewachster Langlaufski zu stehen und eine kleine Mannschaft mitzureissen, mit der man einige Meisterschaften erkämpft hat, erweckte manche alte Erinnerung. Den darauffolgenden leichten Muskelkater konnte ich am späten Abend bei einem Tänzlein aus den Beinen strampeln. Ob ich an die flotte Kameradschaft dieses Wintergebirgskurses oder an den kleinen Skiwettkampf zurückdenke, ich höre hintendrein noch immer die träfen Worte von Oberstbrigadier Otto Weber vor dem Lenker Schulhaus: « Freiwilligkeit in Freiheit! » Wie die Arbeitstage wieder den gewohnten Rhythmus anzunehmen schienen, erhielt ich eines Tages einen kleinen, charmanten Brief von dem mir angenehm befreundeten Sir John Hunt. Dass mich der erfolgreiche englische Expeditions-Leader nicht vergessen hatte, konnte ich kaum glauben. Ein Zufall war es aber jedenfalls, wie mir am Mittag darauf vom abfahrenden Autobus weg ein Mann mit grosser Reisetasche nachstellte und mich anrief. Ein junger Zivilist, jener Mann, welcher zwei der vierzehn Achttausender betreten hat, stand wie aus dem Boden gewachsen vor mir: Kurt Diemberger. Vor ein paar Wochen hatte ich ihn in Wien kennengelernt. Was gab es da lange zu fragen. Wir steuerten gemeinsam dem Suppentopf meiner Frau entgegen. Die ausgedehnte Mittagspause war viel zu kurz. Ich fand gar keine Zeit, um mich aufzuregen, dass der jüngere meiner beiden Goldsöhne am selben Morgen gleich zwei Schaufenster demoliert hatte. Wir sassen beim schwarzen Kaffee und befanden uns dennoch beim Bergsteigen. Wir plauderten vom Dhaulagiri, vom Lhotse und vom Broad Peak, vom Sherpa Angnullu wie von vielen andern Kameraden. Wir waren uns einig, dass die Bergsteigertaten von gestern wie von heute, trotz einem erheblichen Wandel und manchen Auswüchsen, in ihrem wesentlichen Bestandteil die gleichen geblieben sind. Es wird stets Bergsteiger geben im steilen Fels und Eis, am Lagerfeuer oder mit einem Bergbuch in der Hand!

Ja, mein alter Bergfreund, Du darfst wissen, dass mich eine gute Brücke zu den Erinnerungen der nachfolgenden Erlebnisberichte führt.

Mit herzlichen Grüssen Dein E. R.

Bei Neuschnee im Dauphiné Eine schöne Reise, neues Bergland, welchen Bergsteiger sollte das nicht locken! Für mich war es eine besondere Freude, dies während der Ostertage 1960 mit meinen besten Seilgefährten zu erleben. Seit Jahren waren an Ostern und Pfingsten unsere kombinierten Skihochtouren zur Tradition geworden.

Nach einer kurzen Nacht traten wir vor Erichs Haus, hoch über dem Thunersee. Hinter der schwarzgähnenden Wasserfläche breitete sich das nächtliche Lichtermeer um den Schlosshügel der kleinen Stadt. Es kam uns nahezu hart an, diese wohnliche Niederung zu verlassen und doch sehnten wir uns nach erlebnisreichen, gemeinsamen Bergstunden. Trotz der vielen lustigen Erzählungen von unserm Dölf musste ich hinten auf dem breiten Sitz des « Caravan » bald eingeschlafen sein. Ich erwachte erst im Morgengrauen als die Bremsen kreischten und meine Freunde etwas von einer Kurve und grosser Geschwindigkeit diskutierten. Bis ich mich aber vom Sitz erhoben hatte, befanden wir uns bereits unten bei Nyon am Genfersee. Durch die Calvinstadt und hinaus über das savoyische Hochland trug uns der Wagen nach Aix-les-Bains, an den Gestaden des Lac du Bourget. Draussen auf dem Land, in der bürgerlichen Atmosphäre eines kleinen französischen Bistros, kosteten wir die frischen Croissants.

Hinter Grenoble fangen die Berge wieder an zu wachsen, und wir verschwanden einige Male im Schatten der hohen Schluchtwände. Eigentlich wollten wir direkt nach La Grave, aber Erich hatte den guten Einfall, den Karfreitagmorgen zu einem Besuch des kleinen klassischen Bergsteiger-Dorfes St. Christoph auszunützen. Ein enges Bergtal, gesäumt von Lärchen- und Tannenwäldern mit noch engeren Kehrkurven, brachte uns in das einsame Dörflein am Südwestfuss des gewaltigen Massivs der Meije. Spärlicher Sonnenschein guckte durch die Wolken, wie wir auf dem kleinen Gottesacker nach den Ruhestätten bekannter Bergsteiger Ausschau hielten. Gar mancher Gedenkstein trägt eine symbolisierende Bronze-Eisaxt. Da standen wir vor Emil Zigmondis Grab. Auch der bekannte Emil Solleder fand an der Meije den Bergtod. Die alte Turmuhr schlug und erinnerte uns an des Lebens Vergänglichkeit. Ein Stück Geschichte, Freud und Leid mögen die Bewohner dieses einsamen Bergdorfes schon gesehen haben. Der tiefe sonntägliche Frieden mahnte uns an den hohen Feiertag.

Nach weitern dreissig Autokilometern erreichten wir das bekannte La Grave im Norden der Dau-phine-Königin. Die Szenerie hatte gewechselt. Bunte Wagen und ebenso bunte Skifahrergruppen hatten sich vor den einladenden Hotelterrassen angehäuft. Blendendes Sonnenlicht fiel über die gleissenden Gletscher und Schneehänge der nahen Meije. Der Col du Lautaret, als Übergang nach Briançon, war vom Schnee für den Verkehr noch geschlossen.

Erneut fanden wir Zeit, einen Gang durch das Dorf und über den hochgelegenen Friedhof zu tun. Die apern Südhänge waren noch kahl. Der grelle Sonnenschein könnte bald die ersten Blumen wecken, verriet jedoch eine etwas unstabile Witterung.

Das grosse Abwägen und Packen der Osterrucksäcke war hinten im Talabschluss geschehen. Die gewichtigen Säcke waren endlich geschultert. Wir wandten uns rechts in ein Tal, dessen Grund von riesigen weissen Birken gesäumt ist. Nach gut zwei Stunden, zuletzt über eine steile Rampe und eine riesige Moräne, gelangten wir kurz vor der Nacht zum Refuge Chalet d' Arène.

Auch eine Hütte in den französischen Alpen kann sauber und recht gemütlich sein, wenn der Gardien anwesend ist. Hatten wir im spärlichen Petrollicht von der illustren Gesellschaft am Vorabend zu wenig Notiz genommen, so sollten wir vor dem Aufbruch am Morgen eines andern belehrt werden. Fast eine halbe Stunde mussten und durften wir durch die offene Zimmertüre zusehen, wie eine der netten Damen ihr echt honiggelbes Haar nach allen Regeln der Kunst kämmte und formte. Wir verdrehten die Augen, und das Deckenzusammenlegen wollte bei uns kein Ende nehmen...

« Honiggelb! » so lautete unser Schlachtruf für den Aufstieg in die hohe Steilflanke nach dem Pic Cordier de Neige. Freilich, zuerst mussten wir über den mächtigen Moränenwall in das rechte Zweigtal abfahren, und dann zogen wir unsere Spur an grossen, verschneiten Steinen dem Bachbett entlang, bis über den Glacier des Agneaux die gut 1000 Meter hohe, ungeheuerliche Wand vor uns stand.

Wieder einmal wurde ich bemitleidet, teils abgeschrieben, weil ich noch immer keine Harscheisen an den Ski montiert hatte. Wieder einmal stachelte mich das an, gleich einem wilden Eber in den fast 40 ° steilen Hang vorzustossen. Lange hielt ich eine Nasenlänge Vorsprung, aber diese Steilflucht, diese von Lawinen blank gefegten Couloirs wollten kein Ende nehmen. In der dritten angestrengten Anstiegsstunde zogen wir unsere Schlaufen im Pulverschnee durch den Gletscher nahe dem Col. « Das dürfte am Montag eine tolle Abfahrt geben! » waren wir uns einig.

Am Mittag hatten wir es geschafft. Noch schien die Sonne über die rasch aufziehenden Talnebel. Tief unter uns lag der Glacier Blanc. Unwahrscheinlich wuchtig ragt hier der einzige Viertausender des Dauphiné, die Barre des Ecrins, in vollendeter Formschönheit in den Himmel. Dieses Bild und die darauffolgende Gipfelrast auf dem Pic Cordier de Neige, 3613 m, können eine Reise hierher allein schon rechtfertigen.

Als wir am Nachmittag durch das Fenster der tiefverschneiten Hütte auf dem Glacier Blanc stiegen, hatte bereits leichtes Schneetreiben eingesetzt. Der freundliche Hüttenwart hiess uns als einzige Gäste in seinem grossen Haus willkommen. Der später eintreffende Träger berichtete von einem Unfall seines Begleiters. Am Moränenübergang muss dieser über steile Platten gestürzt sein und mit erheblichen Wunden den Rückweg angetreten haben. Der Abstieg Richtung Briançon dürfte bei winterlichen Verhältnissen nicht einfach sein. Das Wetter war inzwischen endgültig zusammengebrochen, und mit dem zunehmenden Neuschnee wurde unsere Rückkehr nach La Grave immer fraglicher.

Der Schneefall aus dem Nebel hielt auch am andern Morgen noch an. Der Zuwachs mochte hier rund 30 cm betragen haben. Für den sehr steilen Übergang beim Pic Cordier de Neige war es das Äusserste, um ohne grössere Lawinengefahr wegzukommen. Ein Schimmer von Sonnenlicht liess uns zum Entschluss kommen, aufzubrechen.

« Adieu guter Gardien! » - Unsere Spur schlängelte sich bald über die seitlichen Steilhänge des Gletschers empor. Gegen Mittag näherten wir uns, etwas misstrauisch, den Felsen unter dem gut 3000 Meter hohen Col. Noch hatten sich keine Rutscher angezeigt, und gerade darum waren wir neugierig, was die gewaltigen Steilhänge auf der andern Seite aufweisen konnten.

Mir war ganz schwindlig nach den ersten paar vorsichtigen Schwüngen im Nebel. Fast doppelt so hoch lag der Neuschnee hier auf der Nordseite. Beim nächsten Stemmbogen bemerkte ich mit Entsetzen, wie sich der ganze Hang zu meiner Rechten zu bewegen begann. Ich hatte Angst, obwohl wir längst mit so etwas rechnen mussten. Aber es geschah nichts. Das undefinierbare Grau blieb mit mir stehen. Einig waren wir uns aber gleich darüber, dass wenigstens der Vorausfahrende die mitgeführte Reepschnur anhängen sollte. Der viele Schnee hemmte unsere Fahrt und liess uns so die Steilheit weniger ahnen. Wir wagten einander nicht laut zu rufen, obwohl wir uns nicht verlieren durften. Mit einemmal standen wir über einem wilden Gletscherabbruch. Wahrscheinlich waren wir zu weit nach links geraten. Ein paar schwarzgähnender Spalten wegen verbanden wir uns ganz widerstandslos mit dem Seil. Allein hätte einem hier unheimlich werden müssen; aber da waren ja die bewährten Kameraden. Ansteigend verliessen wir den Eisbruch. Weiter ging die gefährliche, spannungsgeladene Abfahrt. Längst gab es kein Zurück mehr. Da und dort fing es wieder an zu rutschen. Wenn nur der dichte Nebel nicht gewesen wäre.

Endlich wurde es etwas heller. Das 45 ° steile Couloir leitet hier in die nächsten Hänge über. Vom Seil gelöst, geradezu fluchtartig, stach Erich gegen die enge Kehle. Diese wuchtige Einfahrt löste die grossen Schneemassen, welche lautlos unter ihm abfuhren. Was dann noch nachglitt, regulierte gerade unser Abrutschen. Hier war der Schnee noch schwerer und gefährlicher. Die eigentlichen Rinnen querten wir deshalb in Schussfahrten, um immer wieder auf leichten Kräten anzuhalten, um Übersicht zu gewinnen. Unsäglich erleichtert verliessen wir die letzte Steilrampe, vorwärts blickend, um nicht an den alten Lawinenkegeln zu stürzen, zurückschauend, dass das Wunder einer unfallfreien Abfahrt auch in den letzten steilen Metern wahr geblieben ist.

Mit dem Gefühl, eine grosse, schwierige Bergfahrt hinter uns zu haben, rissen wir einen Spurt über die hohe Moräne zum Refuge Chalet d' Arène. Da und dort öffnete sich wieder eine der Kammertüren, aber nirgends kämmte eine Holde ihr honiggelbes Haar. Wir hatten uns entschlossen, bei diesen Witterungsverhältnissen uns auf die Heimfahrt und den Ausklang vorzubereiten.

Am frühen Nachmittag gelangten wir am Fusse des Lautaret-Passes zu Erichs Wagen. Er war zum guten Glück nicht eingefroren und trug uns in Windeseile ohne Halt bis kurz vor Grenoble. Abseits, an einem breiten Fluss, retablierten wir uns im fliessenden kalten Wasser für das bevorstehende « Nachtleben » in der Stadt. Um dem Tourenbudget noch einen Vorsprung zu geben, verpflegten wir uns aus den noch halbgefüllten Rucksäcken im freien Feld.

Es war gerade am Einnachten, als wir auf der grossen Achterbahn des riesigen Osterjahrmarktes eintrafen. Obwohl mir von der Abfahrt im Nebel immer noch etwas schwindlig war, sollte ich in ein solches Höllengefährt steigen. Ich tat es mit der Bedingung, den hintersten der drei Sitze zu besetzen, um eventuelle Folgen nach vorn weiterzugeben. Die Achterbahn wurde von uns mehrmals frequentiert, so dass der Rest unserer Fränkli nur noch für den Eintritt zum Besuch einer grossen Negerjazzband hinreichteDie Turmuhr schlug Mitternacht, wie wir uns auf einer breiten Terrasse der alten Festung hoch über der Isère für die Nachtruhe im « Caravan » einrichteten. Leise rauschten die Blätter der schützenden Kastanienallee im Wetterwind. Das Lichtermeer über dem mattglänzenden Wasser zeigte noch das pulsierende Leben der Stadt. Fern glaubten wir das Rollen der Achterbahn zu hören. Oder war es das Grollen der Lawinen am Pic Cordier de Neige, vielleicht nur der Wirbel des schwarzen Drummers im weissen FrackWir schliefen bald ein. Anscheinend war die Welt mit uns zufrieden und wir auch mit ihr. Auch der folgende Ostermontag hiess Heimkehr und Ausklang. Für uns lag im Dauphiné zuviel Neuschnee.

Der Westgipfel im Pacchatal Es gibt Gipfelarten, die liegen für immer im Schatten ihrer ranghöheren Trabanten. Diese Kleinen unter den Grossen sind aber auch da; werden am Rande der Welt entweder für immer vergessen oder dienen frechen Eindringlingen zu Trainingszwecken. Fragen wir aber einmal unser Herz nach diesem oder jenem Gipfelerlebnis, dann müssen wir uns ganz ehrlich gestehen, dass die Bergfahrt auf dem Weg zu einem kleineren Gipfel in ihrer Harmonie oft den nachhaltigeren Eindruck hinterlässt. Ist es die Einsamkeit abseits der bekannten Route oder das Gewisse, hier erstmals und nie wieder zu sein, oder ist es vielleicht das Mass des kämpferischen Einsatzes, welchen man zum vornherein ganz aus eigenem Willen auf sich genommen hat? Es mag als das stille Glück bezeichnet werden, das kaum eine Tagebuchaufzeichnung, noch weniger ein öffentliches Echo beansprucht. Es ist einfach eine Bergfahrt, an welcher man sich ganz allein mit seinem Seilgefährten freut und sie mit ihm teilt.

So geschah das während unserer Höhenangewöhnung auf dem Weg zum Lhotse und Everest. Unsere Mannschaft hatte schon mehrere der umliegenden Fünftausender bestiegen und die erste Stufe des Khumbu-Eisbruchs erreicht, als endlich auch unser vorsorglicher Leiter, Albert Eggler, die Zeit für gegeben fand, einen Gipfeltag für unsere alte Abmachung zu reservieren.

Kaum beachtet, zwischen den beiden Hängegletschern der gewaltigen Nuptseflanke zum Mittelteil des Khumbugletscherstromes hingewandt, steht ein kleiner Doppelgipfel von rund 6000 Meter Höhe. Dieser kleine Berg wurde Nuptse Trikhang genannt und mag im Becken des Basislagers wohl der nächste selbständige Gipfel sein.

Es war an einem Mittag um zwei Uhr, als wir uns nach fünf Stunden Anmarsch über aufgeweichten Neuschnee auf steilen Granitplatten dem felsigen Gipfel näherten. Es kostete uns eine ordentliche Überwindung, an unserm vorgesehenen Ruhetag hieher zu gelangen, denn am Morgen lag das ganze Lager noch in eisigkaltem Neuschnee. Um so mehr freuten wir uns, im ausgesetzten Fels diesem Gipfel den ersten menschlichen Besuch abstatten zu können. Bald hing ich mit den Steigeisen an den Füssen in der 400 Meter hohen Südwestflanke, wo ein Durchkommen doch in Frage stand. Wir kehrten unsere Seilschaft um, und Tuchel fand auf der andern Gratflanke einen Durchschlupf zum nahen Gipfel. Pasang Phutar, unser Sherpa, strahlte und zeigte die ganze Perlenkette seiner weissen Zähne, wie wir uns auf kleinstem Raum der sehr exponierten Bergspitze die Hände reichten.

Ein paar Sonnenstrahlen gönnten uns nicht nur eine aussergewöhnliche Gipfelrast, sondern auch die Ausschau über die tausend blauen Büssereis-Türme des Khumbugletschers. Rückwärts zogen unsere Blicke über den wilden Felsgrat hinauf in die unübersehbare Eisflanke des 2000 Meter höher stehenden Nuptse. Trotz und gerade wegen der Grösse dieses Raumes freuten wir uns an dieser Erstbesteigung. Wir teilten das wenige Essen und Trinken und waren glücklich.

Ebenso aufgeräumt stolperten wir an jenem Abend mit gefrorenem Schuhwerk unseren Zelten und der Nacht entgegen. Ein kleiner Gipfel unter den Sieben- und Achttausender hatte uns froh gemacht.

- Nicht weniger gerne erinnere ich mich einer prächtigen Gipfelfahrt zu Dreien in den peruanischen Anden. Auch dieser einsame Berg steht im Schatten der Grossen und verdient es, dass man einmal etwas über unsere Erwartungen und Erlebnisse bei seiner Erstbesteigung erzählt.

Wir wohnten damals im steilen, punagrasbewachsenen Trichter der grossen Randmoräne des Kaiko- und Mitrigletscherstromes, dessen Umgebung von den Einheimischen die Pucapuca genannt wurde. Das heisst in der einheimischen Quechasprache Rotrot oder Rotherd, wenn wir auf die rostroten Steine der Moräne oder auf die rotbraunen Felsen des gegenüberliegenden Gebirgszuges deuten. Wir suchten hier nicht nur, in den Bereich des bekannten Pumasillo zu gelangen, wir suchten auch die Sonne und hielten Ausschau nach den roten Steinen und den seltenen Bergblumen. Wir beobachteten die Wildtiere, vom kleinen Erdhörnchen ( Chinchilla ) bis zum peruanischen Steinbock ( Cierbo ), und den Flug des stolzen Kondors.

Als ich nach der Besteigung meines ersten Anden-Gipfels oben auf dem steilen Moränenwall sass, glaubte ich in meiner Fantasie, gegenüber im braunen Steinblock am Eingang des wasser-schwarzen Felsüberhangs das scheue Puma zu erkennen. Sachlicher aber spielte ich mit dem Gedanken, in den nächsten Tagen mit meinem Kameraden den Gipfel über den abweisenden roten Felsen erstmals besteigen zu können. Unsere Wahl des Aufstiegs fiel auf die weniger steile vergletscherte Flanke.

Zu fünft, gleich mit der ganzen Mannschaft und einem unserer beiden Träger, überkletterten wir früh morgens den Steilabsturz der Moräne. Wir wandten uns gegen Südwesten, durchquerten den wilden Bergbach und stiegen in scharfem Tempo über die frostbesetzten Punagrashänge. Eigentlich wollten wir unserem zugezogenen Arzt unsere gute Akklimatisation beweisen, doch liess sich Hans niemals von der Spitze verdrängen. Mit den ersten Sonnenstrahlen ergab sich nahe dem Gletscher ein Tenuewechsel, was unsere kleine Gruppe ganz unerwartet auseinanderriss. Drei Kameraden 17 Die Alpen- 1962 - Les Alpes257 bogen stark nach links, während Hans Thönen mit mir und dem Träger das Glück im vertikalen Anstieg weiter suchten. Ein erfolgversprechender Einstieg auf den Gletscher schien an beiden Orten fraglich; nur trug Victorino unser gesamtes Seilwerk mit. Es war ein Grund, ohne zu säumen, gleich dem Fels entlang in der nahen Eisgurgel emporzukommen.

Den getreuen Hochträger mussten wir an das Seil nehmen, und das war gut so, denn bald darauf wurde der Schnee weich und die Spalten gefährlich. Wir umgingen trügerische Schlünde, wir vergassen Raum und Zeit. Feuchter Nebel strich von oben über die Steilflanken und nahm uns jede Übersicht. Nach dem ersten grossen Aufschwung folgte ein rutschgefährdeter Rücken, welcher an einen Grat leitete. Ich spurte unverdrossen. Manchmal reichte der Schnee bis zu den Hüften. In Victorinos schwarzen Augen las man allerlei Zweifel. Uns aber gab der frische Gratwind die Gewissheit, dass es irgendwo gipfelwärts gehen musste.Vorsichtig tappten wir höher, gähnte doch über den rotbraunen Felsen die neblige Leere. Schon ging es dem Mittag entgegen, aber eine unaussprechliche Unruhe, eine grosse Spannung trieb uns weiter.

Wie sich der Grat mit einemmal aufbäumte, machten wir den ersten Halt. Wir befanden uns auf rund 5000 Meter Höhe. Unser Träger gab uns unzweideutig zu verstehen, dass seine Eistechnik in den Anden hier ein Ende habe.Vielleicht war es auch der Nebel oder die nächsten Umrisse eines ausgesetzten Grates mit einer darüberliegenden Eisbarriere, was ihn abhielt. Und was mochten unsere Kameraden tun und denkenUns war es nicht ganz wohl, die Freunde so verloren zu haben und in das Ungewisse zu laufen. Aber es lockte uns, Schritt um Schritt wie an einem grossen Weltberg zu tun. Hier war noch nie ein Mensch gegangen. Auch nach peruanischen Begriffen befanden wir uns am Ende der Welt.

Die kleine Stärkung hatte uns gut getan. Nach einer ausgesetzten Gratkante und einer Querung in die linke Flanke stiessen wir an die eiszapfenbehangene Barriere. Der einzige nicht überhängende Teil war immerhin etwa zehn Meter hoch. Die Eishaken sollten uns darüber hinauf helfen, und zuweilen konnte man sich auch an den unterhöhlten Eiswülsten halten.

Wieder gelangten wir an den Grat. Die Sonne stach durch den Nebel und machte den Schnee « krank ». Ein riesiges « Kraterloch » diente uns zur Sicherung. Falls der Hang oder die Wächte abglitt, wollten wir uns dorthin retten. Aber es geschah nichts. Nach zwei bis drei Seillängen glaubten wir dem Gipfel nahe zu sein. Unser Höhenmeter zeigte 5565 Meter. Weiter hinten senkte sich der Grat zu den Felsen. Standen wir auf einer Wächte über der Leere? Wir rammten zehn Meter unter dieser Kuppe einen Pickel und eine der langen Holzschwirren in die Flanke. Dann erst wollten wir unsern Gipfel erleben, dem wir den Namen Pucapuca mitgebracht hatten. Leider fehlte wegen des Nebels die grossartige Aussicht. Dennoch waren wir glücklich!

Es war zwei Uhr nachmittags, als in Schnee Wind und Nebel die Wimpel vom Gastland Peru und der Heimat flatterten. Wir reichten uns die Hand. Wir dachten an unsere Lieben zu Hause, an die Kameraden des SAC, welche uns ausgesandt hatten und - an den steilen Abstieg...

Vorsichtig gingen wir die ersten Schritte vom Gipfel zurück. Anfangs ging alles gut. Nur an der Eisbarriere wären wir beinahe gestürzt: zum Abseilen wollten nämlich weder die Holzschwirren noch die Eishaken richtig halten. Wir beeilten uns, denn der wartende Victorino hatte sicher längst kalt. Um die Lenden gesichert, liess ich Hans über die senkrechte Stufe gleiten. Plötzlich gab es zum starken Zug am Seil noch einen heftigen Schlag. Es riss mich nach vorn, und blitzschnell, gleich einer gespannten Sehne, sprang mir das Seil über Rücken und Kopf. Ich verspürte einen Schmerz in der linken Schulter, liess jedoch das Seil mit der Rechten nicht fahren. Hans kam im steilen Schnee zum Stoppen. Ein kleiner Eisbalkon war ihm in der Wand unter den Steigeisen weggebrochen. Jetzt konnte ich die steile Rampe erst recht nicht frei hinunterklettern. Nochmals versuchte ich eine der Holzschwirren möglichst tief in das morsche Eis zu setzen. Es sah nicht einladend aus, doch anderseits schnitt das Seil tief ein. Hans stand in Sicherung, und der Nebel formte « jede Tiefe so weich ».

Noch zwei-, dreimal hatten wir abzuseilen, denn unserm durchkühlten Hochträger, der getreulich auf uns gewartet hatte, wollte der Abstieg nicht mehr behagen. Am Seil verliessen wir auch die steile Gletscherkehle. Wir waren deshalb froh, in diesem Nebel gleich im ersten Anlauf die richtige Route auf den Pucapuca gefunden zu haben und nirgends auf eine trügerische Spalte oder Wächte geraten zu sein.

Unten im kalten Bergbach wuschen wir uns die Füsse und wanden die nassen Socken aus. Purpurrot erstrahlten gegenüber dem Rotherd die Filigrangrate des eisüberzogenen Pumasillo. Gleich stieg die Tropennacht aus den tiefen Erosionstälern des Apurimac. Auch dieses kleine Wasser springt und wälzt sich nach vielen Tagen durch den Amazonas in die unermesslichen Urwaldgebiete Brasiliens.

Zwanzig Minuten später kündeten ein paar traute Kerzenlichter aus unserem Zeltlager von menschlichem Dasein in dieser gewaltigen Bergeinsamkeit. Das Sternbild des grossen Bären zitterte im kalten Nachthimmel hinten über dem mondbeschienenen Gletscher, während vorn über dem Eingang des Pacchatales das Kreuz des Südens wachte. Mögen meinen Kameraden und mir noch manche solche Gipfel diesen Frieden schenken.

Feedback