Bergfahrten im Gebiet des Hinterrheins
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Bergfahrten im Gebiet des Hinterrheins

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Aus den Erinnerungen eines Bergpfarrers.

Mit 2 Bildern.Von R. Lejeune

( Zürich, Sektion Hinterrhein ). Die Curvèrgruppe.

Wie die Beverinkette das Schams auf der linken westlichen Talseite flankiert und der Piz Beverin dabei die letzte bedeutende Erhebung unter den Bergen des Hinterrheintales bildet, so nimmt der Piz Curvèr, 2976 m, die entsprechende Stellung auf der gegenüberliegenden östlichen Talseite ein. Auch darin lässt sich der Piz Curvèr mit dem Beverin vergleichen, dass er gleich diesem leicht zugänglich ist, wiewohl auch er — ich denke zumal an den Südgrat mit seinem markanten Abbruch — seine imponierende Seite hat. Versteht man unter einer « lohnenden » Besteigung besonders eine solche, die bei bescheidenen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Besteigers diesem doch schönste Eindrücke von der herrlichen Bergwelt zu bieten vermag, dann darf der Piz Curvèr nächst dem Beverin wohl als lohnendster Gipfel des Gebietes angesprochen werden.

Dem Piz Curvèr hat seinerzeit, wenn ich von meiner « Probefahrt » ins Schams über den Carnusapass absehe, meine erste Bergfahrt im Hinterrheingebiet gegolten. Ein klarer Abend im Sommer 1916 liess mich bei einem zufälligen Zusammentreffen mit meinem Kirchenpflegepräsidenten einen gemeinsamen Ausflug auf diesen Gipfel verabreden. Und so stiegen wir denn anderntags in der Morgenfrühe von Andeer über die prächtig gelegenen Pignieuer Maiensässe von Bavugls und die Alpweiden von Neza zur Einsattelung zwischen dem Piz Curvèr und dem ihm westlich vorgelagerten Curvèr pintg da Neza an, von wo der Gipfel leicht über die Nordflanke erreicht wird. Beim Abstieg benützte ich die kurze Wartezeit bis zum Eintreffen meines etwas gemächlicher gehenden Begleiters, um rasch noch dem nahen Curvèr pintg da Neza ( 2729 m ) einen Besuch abzustatten, bevor wir zur Alp Taspin hinunter wanderten. Dass wir gerade noch die nahen Silbergruben aufsuchten, war um so mehr gegeben, als mein Begleiter schon als Besitzer von Silberminen in Mexiko dafür besonderes Interesse zeigte. Die ganze Gegend weist ja überhaupt eine Reihe solcher Gruben auf, die an jene vergangenen Zeiten erinnern, da in diesen stillen Bergtälern ein reges « industrielles » Leben herrschte. So führte mich schon mein gewohnter Gang zur Predigt in Ausserferrera an den Ruinen einer alten, noch bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts betriebenen « Schmelze » vorbei, in der einst das Silbererz, das hoch oben in den Stollen von « Gruaba » gewonnen wurde, geschmolzen ward, wie einen auch heute noch die auffallende Kahlheit in der Umgebung solcher « Hochöfen » an den argen Raubbau gemahnt, der seinerzeit am Waldbestand getrieben wurde. Aber auch oben am Piz Grisch —-über der Alp Sutt Foina, die ähnlich wie das ganze Ferreratal ihren Namen solch einem alten Bergwerk verdankt — und wenig unterhalb des Piz Starlera stösst man noch auf Stollen oder zerfallenes Gemäuer, und bei den deutlichen Spuren einstiger gutangelegter Wege stellt man sich unwillkürlich vor, wie einst die für ihre Kraft bekannten Männer von Ferrera auf diesen Wegen das schwere Erz zu Tale schafften. Nachdem wir uns eine gute Weile in den alten Stollen der Gruben von Taspin herumgetrieben und dabei noch manchen auffallend schweren, von glitzerndem Metall durchsetzten Stein gefunden hatten, wandten wir uns den Maiensässen von Nasch zu und kehrten über Zillis nach Hause zurück.

Kurze Zeit darauf sollte ich ganz unvermutet nochmals auf den Piz Curvèr kommen, und zwar auf einer noch weit reizvolleren Route. An einem strahlenden Augustsonntag hatte ich in Obermutten für einen Kollegen zu predigen. Schon der Weg zu diesem hoch über der Viamala gelegenen Sommersitz der Muttner war ein Genuss, und dass ich nach dem Gottesdienst in Die Alpen — 1942 — Les Alpes.23 dem eigenartigen Kirchlein nicht gleich wieder den Heimweg antreten mochte, war gewiss begreiflich. So stieg ich denn erst über die Muttneralp zum Muttnerhorn hinan, womit indessen meine Wanderlust noch nicht befriedigt, sondern im Gegenteil erst recht geweckt wurde. Der feierliche Gehrock schien mir für eine weitere Unternehmung kein unbedingtes Hindernis zu sein, hatte er mich doch schon auf allerlei Fahrten begleitet; eher mochten mich die drei kleinen Birnen, die ich mir am Morgen als einzigen Proviant in die Tasche gesteckt hatte und deren erste ich jetzt als bescheidenes Mittagessen verzehrte, etwas bedenklich stimmen, und auch meinen Pickel, diesen treuen Begleiter auf allen Bergfahrten, vermisste ich empfindlich. Doch — die Freude am Wandern in dieser sonnigen Höhe liess alle Bedenken zurücktreten, und nach kurzer Rast strebte ich in beschleunigtem Tempo über den langen Bergkamm dem Piz Curvèr zu. Fast unmerklich kam ich aus dem Alpgebiet ins eigentliche Berggelände und erreichte bald den Curvèr pintg da Taspin ( 2730 m ). Zur Beschwichtigung meines knurrenden Magens erlaubte ich mir hier die zweite Birne, um aber gleich wieder die hübsche Gratwanderung fortzusetzen, die nicht nur immer wieder schönste landschaftliche Reize bietet — seltsam mutet einen inmitten dieser Bergwelt die einsame Wallfahrtskirche von Ziteil an, die man eine Zeitlang direkt zu Füssen hat —, sondern auch touristisch sich um so anregender gestaltet, je mehr man sich dem Ziele nähert. So gelangte ich denn in raschem Vordringen über den langen Nord- kämm auf den Gipfel des Piz Curvèr, ohne irgendwo auf Schwierigkeiten zu stossen, wenn auch der lange Gehrock für die letzten steileren Partien nicht gerade als geeignetste Bekleidung gelten kann. Für die ganze Wanderung von Obermutten bis zum Gipfel des Curvèr hatte ich nur knapp drei Stunden gebraucht, wobei indessen der Hunger meine Schritte weit eher beschleunigt als gehemmt hat. Bedächtig und gierig zugleich liess ich mir erst meine dritte und letzte Birne schmecken und genoss dann die sonntägliche Feierstunde auf dieser lichten Höhe. Beim Blättern im Gipfelbuch konnte ich zu meiner Überraschung feststellen, dass ich nicht der einzige war, den der strahlende Sonntag auf diesen Gipfel geführt hatte, auch mein wackerer Schuster Vaihinger hatte den Curvèr aufgesucht, und da er wie Hans Sachs neben seiner Schusterei noch der Poesie huldigte, hatte er seinen Gefühlen in empfindsamen Versen Ausdruck gegeben. Wenn er dabei andeutete, dass sich hier oben auf Bergeshöhe noch besser Gottesdienst halten lasse als drunten in der Kirche, so hätte ich selber aus meinem Sonntagserlebnis ihm erzählen können, wie sich auch beides aufs schönste miteinander vereinigen lasse. Was hätte er wohl für Augen gemacht, wenn sein Pfarrer im feierlichen Kirchen-^ rock ihn hier oben bei seiner Verseschmiederei überrascht hätte? Nach längerer Rast, die ich mir mit der Predigt am Vormittag und der anschliessenden Wanderung gewiss redlich verdient hatte, trat ich den Abstieg an. Vor der Hütte von Plaun Schumanet, einem der schönsten Punkte im ganzen Tale, erfrischte ich mich noch mit einer Schüssel Milch, um dann eiligst heimzukehren, hatte ich mich doch auf diesem nicht gerade üblichen Heimweg von Obermutten einigermassen verspätet, so dass meine Leute bereits etwas ungeduldig nach meiner Rückkehr von der Predigt ausschauen mochten.

Der dem Curvèr vorgelagerte Piz la Tschera ( 2626 m ) nimmt sich zwar — von Andeer aus betrachtet — sehr schön aus und zumal an klaren Winterabenden leuchtet er ganz wundersam über dem schattigen Tale. Sobald man aber eine gewisse Höhe erreicht hat, verliert er den Charakter eines selbständigen Gipfels und mutet einen nur als vorgeschobene Bastion der Curvèr- kette an. Schon der Blick von dieser exponierten Terrasse ins Tal hinunter lohnt indessen eine Besteigung sehr wohl, und verschiedentlich führte ich denn auch unsere Gäste über die Maiensässe von Bagnusch und die Alp Albin auf diesen Punkt, um dann jeweils über Alp Neza und Bavugls abzusteigen. Touristisch interessanter war eine Besteigung des Piz la Tschera über den Nordgrat, die ich am 9. Juli 1923 ausführte, nachdem mich die hübsche Linie dieses Grates längst schon zu solch einem Versuche angeregt hatte.Vom Pignieuer Maiensässweg aus schwenkte ich zu den Hütten von Selvanera ab, gewann von hier aus den vom Gipfel in nordwestlicher Richtung verlaufenden Rand des Hangs und folgte dann — mich stets an diese stumpfe Kante haltend — dem schwach ausgeprägten Grate bis zum Gipfel. Abgesehen von einer kleineren Wandstufe, die etwelche Kletterei erfordert, bietet auch diese Route keinerlei Schwierigkeiten, zumal auch jederzeit ein Ausweichen in die harmlose Nordflanke des Berges möglich wäre.Vom Gipfel aus wanderte ich über den breiten Rücken des Berges ostwärts erst zu Punkt 2703 m, um dann den vom Curvèr herkommenden Grat zu gewinnen. Anfänglich hatte ich noch im Sinn, mich über diesen Grat dem Curvèr zuzuwenden und womöglich dessen Südgrat in Angriff zu nehmen, doch gab ich diesen Plan wieder auf, da es für solch ein ernsthaftes Unternehmen bereits reichlich spät war und mir angesichts der ganzen Problematik des entscheidenden Gratstückes momentan auch der richtige Schwung fehlte. So genoss ich denn — auf weitere Unternehmungen verzichtend — in aller Musse den wahrhaft grandiosen Blick auf den nahen Piz la Forbisch und kehrte dann im Abend- schein über Alp Albin nach Andeer zurück.

Nur wenig südlich der zuletzt erwähnten Graterhebung erhebt sich der mit seinen Kalkzacken ganz an die Splügener Kalkberge erinnernde Gurschus ( 2885 m ), der sich zumal in der Abendsonne von den Andeerer Maiensässen wie auch von der Talstrasse nach Sufers aus recht ansehnlich präsentiert: Erstmals suchte ich diese Gruppe im Sommer 1921 in einem meiner beliebten Nachmittagssprünge auf. Über Bagnusch und die schön gelegenen Alpen Albin, Tobel und Andies näherte ich mich dem westlichen Ausläufer des Berges, erreichte ohne Schwierigkeiten den westlichen Eckpfeiler der Kette, P. 2673 m, und folgte dem genau in östlicher Richtung sich hinziehenden Grate bis zur Einsattelung vor dem wesentlich höheren mittleren Gurschus'- gipfel. Da bei der vorgerückten Stunde nicht mehr an eine Überkletterung der beiden annähernd gleichhohen Hauptgipfel zu denken war — die Sonne erreichte eben den Horizont —, versparte ich die Längstraversierung der ganzen Gurschusgruppe auf einen späteren Zeitpunkt und trat für diesmal, zum Wasserboden absteigend, den Heimweg an.

Gleich im folgenden Sommer, am 17. August 1922, machte ich mich an dieses immerhin recht lohnende Unternehmen. In Begleitung meines Freundes Benedikt Mani, den es gleich mir von Andeer derweil an die Ufer des Bodensees verschlagen, gleich mir aber alljährlich für die Ferienzeit zurück ins heimatliche Andeer gezogen hatte, stieg ich über Albin und den Wasserboden zu jener Einsattelung im Gurschuskamm an, in welcher ich bei meinem früheren Besuch die Traversierung hatte abbrechen müssen. Von hier aus überkletterten wir erst den unquotierten westlichen Gipfel, sodann den eigentlichen Hauptgipfel ( 2885 m ), um schliesslich bei P. 2714 diese West-Ost-Traversierung der ganzen Kette zu beenden. Als hier an diesem wunderbar klaren Abend der Piz la Forbisch zum Greifen nahe vor uns stand und seine wuchtige Westwand in der Abendsonne ganz wundersam leuchtete, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und fasste den in solcher Improvisation beinahe abenteuerlichen Entschluss, mich noch an eine Besteigung dieses kühnen Berges zu machen, der mir längst schon als eines der lockendsten Ziele in der weiteren Umgebung erschienen war. Rasch liess ich mir von meinem Begleiter den kümmerlichen Rest unseres Tagesproviants geben — gerne hätte ich mir zur Komplettierung meiner höchst primitiven Bekleidung bei ihm noch anderes geborgt, wenn er nicht ähnlich dürftig wie ich selbst ausgerüstet gewesen wäre, dann sandte ich ihn mit meinen Grüssen an meine Leute nach Andeer zurück, während ich meinerseits im raschesten Tempo, dessen ich fähig war, dem neuen Ziele entgegenstrebte. Doch, wie sehr ich auch meine Schritte beschleunigte, als ich über das Schmorrasjoch und den Hängen ob der Alp Schmorras entlang südwärts eilte — im Wettlauf mit der einbrechenden Dunkelheit erwies ich mich als der langsamere, und als ich mich am Saletschajoch vorbei dem Starlerapass näherte, lag bereits tiefes Dunkel über der Gegend. So musste ich denn den Gedanken, noch über die Fuorcla da Curtins in die Val Gronda und nach Faller, dem gegebenen Ausgangspunkt für eine Besteigung des Forbisch, vorzudringen, aufgeben, hatte ich doch nicht einmal das neue Blatt des Siegfriedatlas bei mir, nachdem ich meiner Andeerer Karte regelrecht « entlaufen » war, von einer Laterne ganz zu schweigen. Von der Unternehmungslust und dem Lauf über Berg und Tal reichlich mit innerer Wärme ausgestattet, suchte ich mich erst notdürftig für ein Biwak einzurichten, und da ich ausser meiner dünnen, zerrissenen Windjacke nichts bei mir hatte, behalf ich mir mit dem Rucksack für die Füsse und den Wadenbinden für den Körper, was sich anfänglich recht ordentlich zu bewähren schien. In der empfindlichen Kälte der klaren Sternennacht — befand ich mich doch auf dem Starlerapass auf den Meter genau auf Säntishöhekühlte sich indessen mein Wärmevorrat fühlbar ab, und schliesslich hielt ich es doch für ratsamer — schon im Hinblick auf die Anforderungen des folgenden Tages —, mich nach einem Unterschlupf umzusehen. So stieg ich denn — ungern genug — die mehr als 400 Meter zur Alp Starlera hinunter, wo die Sennen dem späten nächtlichen Gast freundliche Aufnahme gewährten. Wie ich anderntags schon in der Morgenfrühe wieder auf der Höhe des Starlerapasses stand, um meine unliebsam unterbrochene Fahrt fortzusetzen, mag später in anderem Zusammenhang berichtet werden, angedeutet sei hier nur, dass aus der ursprünglichen bescheidenen Tagestour in stets erneuerter Improvisation eine fünftägige herrliche Bergrundfahrt wurde, die mich nicht nur auf den Piz la Forbisch brachte, sondern auch noch über den Piz Piatta ins Avers führte und erst über den Piz Timun wieder nach Andeer zurückkehren liess.

Piz Grisch.

Zu den schönsten Gipfeln in der näheren Umgebung von Andeer gehört zweifellos der Piz Grisch, dessen edle Form ich immer wieder bei meinen allwöchentlichen Gängen nach Ausserferrera vor Augen hatte.Von einer Besteigung des Piz Grisch war damals in Andeer nichts bekannt, ja mein guter Alpenklübler Vaihinger schüttelte über das Vorhaben seines wagemutigen Pfarrherrn wieder einmal bedenklich den Kopf und erzählte mir, wie ihm zweimal ein Misserfolg beschieden war, als er mit einem Thusner Bergfreund sich einst an diesen Berg heranmachte, um das eine Mal von Sutt Foina aus eine Besteigung über den Westgrat, das andere Mal von Alp Moos aus von Osten her zu versuchen. Gerade diese beiden Misserfolge des einzigen ernsthaften Alpinisten unter den Dorfbewohnern mögen zu der Meinung Anlass gegeben haben, dass der Piz Grisch ein besonders schwer zugänglicher Geselle sei. Nun, diese Bedenken konnten mich von einem eigenen Versuche nicht abhalten, und wenn ich jeweils auf dem Weg zu Predigt oder Unterricht in Ausserferrera den Piz Grisch näher musterte, schien mir jedenfalls der gegen Sutt Foina vorspringende Nordgrat gute Aussichten für die Gewinnung des im oberen Teil bestimmt gangbaren Westgrates zu bieten.

So brach ich denn am 24. September 1917 um 5 Uhr morgens in Andeer auf und stieg zunächst zu dem kleinen, sehr hübsch gelegenen Cresta sur Ferrera hinauf, das meinen Ferrerern als Maiensäss diente, mit seinem schlichten Kirchlein aber ein eigentliches Bergdörfchen bildet. Dieses Cresta gehörte gewissermassen auch noch zu meinem Pfarrbereich, hatte ich doch im Sommer während des Bergheuets einmal hier oben zu predigen, wobei wir entweder das im Innern höchst primitive Kirchlein benützten oder bei gutem Wetter uns auf der Wiese vor der Kirche lagerten. Von hier erreichte ich rasch die Alp Sutt Foina, von der ein noch deutlich sichtbarer Weg zu den alten Gruben und einigen dürftigen Trümmern des einstigen Bergwerks hinaufführt. Nun hielt ich mich erst direkt gegen den Sutt-Foina-Gletscher, wandte mich dann, sobald ich die unterste Wandstufe unter mir hatte, über Geröll und Firn ansteigend dem erwähnten Nordgrat zu und folgte diesem in hübscher, stellenweise etwas exponierter, aber nie schwieriger Kletterei bis zu seiner Vereinigung mit dem vom Crap la Mazza kommenden Westgrat des Grisch. Ohne je auf ernsthafte Schwierigkeiten zu stossen, gelangte ich über diesen Grat erst zum westlichen Vorgipfel, dann zum Hauptgipfel des Grisch. Der Gipfel wies keine Spuren einer früheren Besteigung auf, es sei denn, dass ein kleines Häufchen nahe beisammen liegender Steine von einem eingestürzten Steinmännchen hergerührt haben sollte. So baute ich denn zunächst einen Steinmann und genoss während der schönen Gipfelrast die herrliche Aussicht, bei der zumal die schöne Val di Lei mit dem Pizzo Stella als krönendem Abschluss meine Blicke fesselte. Dieses abgeschiedene, vermutlich auf Grund irgendeiner komplizierten Vorgeschichte zu Italien gehörende Alpental enthüllte mir erstmals hier oben seinen Reiz, nimmt doch der Wanderer auf der ins Avers führenden Talstrasse von dem ganzen schönen und weiten Tal nichts als eine enge Schlucht wahr, durch die sich der Reno di Lei den Weg zum Avner Rhein erzwingt. Für den Abstieg wählte ich nach einigem Schwanken — den verlockenden Nordostgrat mit seinen etwas problematischen Stellen für ein späteres Unternehmen aufsparend — den schwach ausgeprägten Südostgrat, der mich — wie ich vorschnell wähnte — leicht zu P. 2837 und dem Verbindungsgrat zum Piz Alv hinunter führen sollte, von wo ich über Alp Moos heimzukehren gedachte. Tatsächlich näherte ich mich rasch dem erwähnten Punkte als meinem nächsten Ziele, als plötzlich eine tiefe, unüberwindliche Kluft jedem weiteren Vordringen Halt gebot und den erst so harmlos scheinenden Abstieg über die Südwand auf einmal zu einem recht fragwürdigen Unternehmen machte. Jetzt erinnerte ich mich auch, dass Freund Vaihinger von solch einer Kluft gesprochen hatte, offenbar war er bei seinem Besteigungsversuch von Osten her vor diesem Hindernis zur Umkehr gezwungen worden. Schon rechnete ich mit der Möglichkeit, wieder zum Gipfel zurückkehren und den Abstieg über meine Anstiegsroute nehmen zu müssen, als sich mir noch ein Ausweg zeigte, auf dem ich den einmal begonnenen Abstieg über die Südwand zu Ende führen konnte. Nur leicht absteigend folgte ich einem Schuttband in westlicher Richtung und gelangte so in eine grosse, mit Schnee und Geröll gefüllte Mulde, von deren tiefstem Punkt aus ich unter Ausnützung winziger Grasfleckchen und Schutt- plätzchen die Wandstufe ohne Schwierigkeit, wenn auch auf etwas heikel-subtile Weise überwinden konnte. In wenigen Minuten erreichte ich nun den Piz Starlera ( 2727 m ), von dem aus ich die soeben bezwungene und vermutlich erstmals begangene Südwand aufs beste überblicken und mir eine kleine Skizze von meiner Abstiegsroute machen konnte.Vom Piz Starlera stieg ich zunächst zu dem weiten Geröllfeld südwestlich vom Grisch ab, durchquerte dasselbe und gewann den kleinen Einschnitt zwischen dem jäh abfallenden Westgrat des Grisch und dem Crap la Mazza ( 2819 m ), von wo mich wenige Schritte auf letzteren, eine herrlich gelegene vorgeschobene Bastion des Grisch-massivs, führten. In den letzten Strahlen der Abendsonne hielt ich auf diesem wundervollen Aussichtspunkt zum Abschluss der wohlgelungenen Tour noch eine schöne Rast, um dann sehr rasch — in genau zwei Stunden —-nach Andeer zurückzukehren.

Ich wundere mich selber darüber, dass ich in den folgenden Jahren diesen ausserordentlich schönen Berg nicht öfters aufsuchte, zumal ich doch noch eine Besteigung über den Nordostgrat mir aufs Programm gesetzt hatte. Mehr als zwanzig Jahre vergingen, bis ich endlich das Versäumte nachholte, dafür sollten dann aber von den sechs Tagen, die ich im Hinterrheingebiet weilte, nicht weniger als drei dem Piz Grisch und seiner nächsten Umgebung gelten. Im Spätherbst 1940 konnte ich dem Zürcher Nebel für eine Ferienwoche entrinnen, und da man mir von Andeer aus wundervolles Herbstwetter verhiess, zögerte ich nicht, trotz der vorgerückten Jahreszeit und BERGFAHRTEN IM GEBIET DES HINTERRHEINS.293 reichlichen Neuschnees in den Bergen wiederum mein Tal aufzusuchen. Gleich am Tage nach meiner Ankunft, am Vormittag des 17. Oktobers, machte ich mich auf den Weg, um mich zunächst einmal auf einer Rekognoszierungstour über die Schneeverhältnisse zu orientieren. Über Cresta sur Ferrera stieg ich auf wohlvertrautem Wege zur Alp Sutt Foina hinan, und da die tiefverschneite Nordseite des Grisch wenig einladend aussah, setzte ich meine Wanderung bis zu den Hütten von Moos fort. Um noch einen Blick auf die Ost- und Südseite des Berges zu bekommen, wandte ich mich direkt dem Ausläufer des Nordostgrates des Piz Grisch zu, indem ich erst die hartgefrorene Ebene von Moos durchquerte und dann im Neuschnee den Hang hinauf stapfte, als nächstes Ziel mir die letzte Erhebung im Grischgrat wählend, die im Lauf der Jahre gar mit einem Signal versehen worden war. Die nächste, bereits recht imponierende Graterhebung, die mir schon in früheren Jahren durch ihre charakteristische Form aufgefallen war — erinnerte sie mich doch immer an eine in altem, einfachem Stil gebaute Kirche —, umging ich zunächst auf der Ostseite, um gleich hinter dieser Erhebung und ihrem senkrechten Abbruch den Grat wieder durch ein kleines Couloir zu gewinnen. Ein Stück weit folgte ich nun noch dem Nordostgrat des Grisch, gab dies aber bald wieder auf, da der Neuschnee das Klettern stark beeinträchtigte und der nächste mächtige Grataufschwung mir bei diesen winterlichen Verhältnissen recht problematisch erschien. Wieder zum kleinen Sättelchen vor meiner « Kirche » zurückgekehrt, erkletterte ich rasch noch dieses eigenartige Felsgebilde, was sich mittels eines Risses in dem fast senkrechten Abbruch ganz gut bewerkstelligen liess. Meinem Kirchlein — ich nenne diese Graterhebung seither gerne « La Baselgia » — setzte ich an Stelle eines Kreuzes einen kleinen Steinmann auf den flachen Turm, und während meiner Rast überlegte ich, was sich in der knappen Zeit, die mir noch zur Verfügung stand — schon neigte sich die Sonne dem Horizonte zu —, allfällig noch machen liesse. An eine Besteigung des Grisch über den langen Nordostgrat war natürlich nicht mehr zu denken, wenn ich auch eine Möglichkeit entdeckt hatte, den erwähnten grossen Grataufschwung auf einem Schneeband in der Ostflanke zu umgehen, und ein Weiterkommen um so eher annehmen konnte, als ich im Schnee eine Reihe von Gemsspuren bemerkte. Für den Moment aber musste ich mich mit einem bescheideneren Ziele begnügen, wenn ich nicht überhaupt angesichts der vorgerückten Stunde schon den Heimweg antreten wollte. Rasch entschlossen stieg ich zunächst zu dem kleinen Seelein östlich des Grisch hinunter und stapfte dann frohgemut durch den hier recht tiefen Neuschnee zu jenem Punkt 2837 m hinan, den ich einst beim Abstieg über den Südostgrat des Grisch vergeblich zu erreichen versucht hatte. Im wundervollen Abendglanz dieses klaren Herbsttages ging ich dann noch über den hübschen Kamm zum nahen Piz Alu ( 2859 m ) hinüber, dessen Gipfel ich gerade im Augenblick des Sonnenuntergangs erreichte. Einen auch noch so kurzen Aufenthalt auf dem Gipfel durfte ich mir nun freilich nicht mehr erlauben, und wenn ich auch die in herrlichem Alpenglühn leuchtende Berninagruppe keinen Moment aus dem Auge verlor, stieg ich doch in höchstem Eiltempo über den Nordostgrat ab, traver- sierte noch den folgenden gen Norden sich anschliessenden Gipfel — beim Abstieg in die Ostseite ausweichend —, kehrte über die nächste Kammlücke wieder in das weite, zwischen dem Grisch und dem vom Piz Alv nordwärts führenden Gebirgskamm liegende Tal zurück und erreichte gerade im letzten Schimmer der Dämmerung die Alphütten von Moos, die einen jetzt noch verlassener anmuteten als vorher in der Mittagssonne.Von hier aus konnte ich den Alpweg benützen, welchen beizubehalten oder wiederzufinden mich indessen mehrmals einige Mühe kostete, erhellte mir der Mond doch erst von Cresta an meinen Weg, während er all die Zeit zuvor die Gipfel ringsum in geradezu märchenhaftem Glänze leuchten liess.

An den folgenden drei Tagen machte ich einen Abstecher ins Rheinwald, wobei ich zur Begleichung einer alten Schuld das Weisshorn und Einshorn bestieg und über San Bernardino sogar bis in die hinterste Region des Hinterrheintales gelangte, für die beiden letzten Tage dieser prächtigen Herbst-woche zog es mich aber nochmals zum Piz Grisch hin, nachdem ich mich ja hatte überzeugen können, dass sich trotz des Schnees noch allerlei erreichen liess. Am Morgen des 21. Oktober brach ich um 8 Uhr von Andeer auf und konnte schon nach knapp drei Stunden eine Rast bei den Erzgruben über Sutt Foina halten, um dann zunächst durch den Neuschnee zum Crap la Mazza ( 2819 m ) hinan zu steigen. Eigentlich hatte ich im Sinn gehabt, von hier zu der fast schneefreien Südseite des Berges vorzudringen und eine Besteigung des Grisch über meine frühere Abstiegsroute zu versuchen, eine kurze Zeitberechnung zeigte mir aber, dass dies an solch einem kurzen Spätherbsttag nicht mehr möglich war, zumal ich im tiefen Neuschnee doch ziemlich viel Zeit verloren hatte. So verweilte ich denn geraume Zeit auf dem schönen Gipfel und genoss ganz einfach die lichte Klarheit und erhabene Stille, die mich hier oben umgab. Gemächlich kehrte ich dann über Sutt Foina nach Cresta zurück, dessen Kirchlein ich gerade erreichte, als die Gipfel des Grisch und der Timunkette in den letzten Strahlen der Abendsonne aufleuchteten. Dieser wundersam klare Abend liess den Wunsch in mir aufsteigen, wenn möglich die Nacht hier oben in Cresta zu verbringen, um anderntags mich nochmals an den Grisch heranzumachen, der mir nach den beiden Annäherungsversuchen als verlockendstes Ziel erschien. So schaute ich mich denn nach einer Unterkunftsmöglichkeit um und fand auch bald in einer der Hütten freundliche Aufnahme, und da seit meiner Andeerer Zeit die Zivilisation in Gestalt einer Telephonleitung bis in dieses kleine Maien-sässdörflein hinauf gedrungen war, konnte ich auch meine Freunde in Andeer über mein Ausbleiben an diesem Abend verständigen. So ersparte ich mir nicht nur den Abstieg nach Andeer, sondern gewann auch für den folgenden Tag etwas Zeit, was mir bei diesen kurzen Herbsttagen besonders wertvoll war.

Am Morgen des 22. Oktober verliess ich Cresta bald nach 7 Uhr, von meiner freundlichen Gastgeberin mit einem währschaften Z'morgen gestärkt, und in verhältnismässig kurzer Zeit erreichte ich über Alp Moos jenen Signalpunkt am nordöstlichen Ende des Grischmassivs, der mir der gegebene Ausgangspunkt für mein Unternehmen zu sein schien. Meine Beobachtungen von der ersten Rekognoszierung ausnützend, traversierte ich nun unter meiner Baselgia hindurch zu jenem Schneeband, das auch den Gemsen — wie ich gesehen hatte — als Durchgangspfad zu der geneigten Terrasse in der Ostseite des Grisch diente. Leicht erreichte ich durch einen auffallenden Felseinschnitt die beinahe schneefreie Ostflanke des Berges und gewann über diese in raschem Vordringen den Nordostgrat oberhalb jenes abweisenden Grataufschwungs und dicht hinter ein paar zerborstenen Grattürmen. In sehr anregender Kletterei folgte ich nun dem Grate bis zum Gipfel, nur hin und wieder leicht in die Ostseite ausweichend, wenn der Schnee auf dem Grat dies wünschbar erscheinen liess. Wiederum hatte die Aussicht etwas Überwältigendes, und da die Sonne in diesen Stunden des frühen Nachmittags noch recht ausgiebig strahlte, blieb ich länger oben, als es in diesen kurzen Tagen vielleicht ratsam erscheinen mochte. Beim Abstieg folgte ich erst dem Gipfelgrat bis zum westlichen Vorgipfel, um dann den mir noch unbekannten Grat zu benützen, der von diesem Vorgipfel in genau südlicher Richtung gegen den Pitz Starlera hinunter führt. Ohne im untern Teil jene grosse, leicht zugängliche Mulde zu berühren, von der aus ich bereits früher die unterste Wandstufe hatte überwinden können, erreichte ich unschwer den Fuss der Wand, indem ich erst dem schwach ausgeprägten Grate entlang ging, weiter unten über einen steilen Hang abstieg und zuletzt ein kleines Couloir benützte. Damit war mir der Abstieg über die Südwand des Grisch noch auf einer zweiten, im Vergleich zur früheren eher noch einfacheren Route gelungen und ich durfte in dieser Tour in jeder Hinsicht den krönenden Abschluss dieser sechstägigen Fahrt ins Hinterrheingebiet erblicken. Als ich vom Piz Starlera über das lange Geröllfeld wiederum zum Crap la Mazza anstieg und auf diesem herrlichen Punkte beim Sonnenuntergang noch eine letzte Rast hielt, empfand ich die stille Zwiesprache mit diesen mir so lieben Bergen als ein Abschiednehmen für lange Zeit oder gar — wer weissfür immer. Da ich für den Abstieg nach Sutt Foina meine Spur vom Vortage benützen konnte, kam ich sehr rasch vorwärts und erreichte Cresta schon in einer knappen Stunde. Nach kurzem Abschied von den Leuten, die mir — ohne mich von früher her zu kennen — am Vorabend eine so freundliche Aufnahme gewährt hatten, stieg ich in wundervoller Sternennacht nach Ausserferrera hinunter und wanderte dann auf der mir von unzähligen Amts-gängen so wohlvertrauten Strasse — stets den rauschenden Avner Rhein zur Seite — nach Andeer hinaus, zugleich mit dieser schönsten Bergfahrt diese schönen, vom Wetter so begünstigten Ferientage beschliessend. Dass es am folgenden Tag schneite und der Winter sich über das ganze Tal legte, machte mir den Abschied nur leichter, in mir selber aber glaubte ich noch lange etwas von dem stillen Leuchten und dem wundersamen Glanz zu spüren, der in diesen Herbsttagen über dem Tal und seinen Bergen lag.

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