Bergmusik
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Bergmusik

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Abstieg und anschliessend Abfahrt erfolgen wieder auf gleicher Route. Schon auf dem Suldenferner angelangt, fängt es zu dunkeln an. Leider verlassen wir den Gletscher zu spät und kommen auf die apere Gletscherzunge. Links und rechts ist schwieriges, unübersichtliches und steiles Gelände, das wir vor Einbruch der totalen Dunkelheit unbedingt hinter uns bringen müssen. So ergibt sich ein Wettrennen mit der Zeit. Um halb 9 Uhr abends erreichen wir müde Sulden.

Bergmusik

( Chur ) 4.

Nicht dass wir im Gebirge Musik brauchten 1 Wenn überhaupt Musik, dann dürfte es am ehesten eine Choralmelodie sein, die uns danken hülfe. « Wie herrlich strahlt der Morgenstern »: das dürfte im reinen Bergmorgen ein einfaches Holzinstrument blasen. Oder den Choral, der uns rät, wir sollen unsre Wege dem Herrn befehlen, der den Himmel lenkt: « Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuss gehen kann. » Solche schlichte Melodie spräche das aus, was die Morgenstille sagen möchte. Wir Wanderer verstünden dann um so besser, was der Gletscherbach tost, was der Bergwind durch die Arven harft, wohl gar das Tönen der Sonne, all die wundervolle Naturmusik der Berge.

Liebste Bergmusik ist uns die Stille. Wir fühlen sie. Wir hören sie. Aus ihr werden die Töne. Zu ihr kehren sie zurück. Zum Nichts? Nein, zur Stille, zur « stilleren Stille » ( Haller ). Sie hat Dasein wie die Töne, Dasein auch für uns, zumal im Wechsel mit Tönen und ist ihnen dann zum Verwechseln verwandt.

Für Nietzsche ist der Philosoph ein Einsamer, « ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt », ein Mensch, « um den herum es immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht ». Wir erleben das auf dem Gletscher, hören auch « etwas von dem Widerhall der Öde, etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsich-blicken der Einsamkeit ».

Für den kühnen und zugleich still harmonischen Geist des Landvogts Salomon Landolt in G. Kellers Novelle scheinen die Tages- und Jahreszeiten, « der unablässige Wandel, das Aufglimmen und Verlöschen, Widerhallen und Verklingen der innerlich ruhigen Natur... nur die wechselnden Akkorde desselben Tonstückes zu sein », « ein einziges, aber vom Hauche des Lebens zitterndes und bewegtes Wesen ». Er erlebt am Abend eine Stimmung, in der er « erst recht aufzuleben, ganz Auge zu werden und nur dem stillen Walten der Natur zu lauschen pflegte. Heute aber stimmten ihn die glänzenden Himmelslichter und das leise Walten nah und fern noch feierlicher als gewöhnlich und beinahe etwas weich. » Lauschen dürfen wir also auf das leise, sogar stille Walten der Natur. Lassen wir die Seele durch die Gestirne stimmen! Die Stille gibt den Saiten der Seele Stimmung und wohl auch Stimme.

Im Gebirge, am hohen Mittag, in « des Berges Geisterstunde » ( C. F. Meyer ) umfängt die Stille den ruhenden Menschen um und um an Leib und Seele — ein Schneesturz rauscht über eine Eisnase hinab, schlägt auf — Stille ist wieder da, stillere Stille und stärkere — packen kann sie den Einsamen — ein Kuhglockenton hallt von der Alp herauf — traulich ist dann wieder die Stille.

Wo ist der Wasserfall, der jetzt in die Stille töntjetzt tönt er nicht mehr — Stille — tönt wieder ein seltsam gesammelt schwellendes Geräusche — schweigt noch wunderbarer.

Dich aber findet das Auge, der du mit schrillem Pfiff die Stille und mich erschreckst, Mungg auf kurzen Beinen! Zugegeben: dein Pfiff ist lauter als die Stille. Du möchtest sogar behaupten, die Stille sei überhaupt stille. Nimm die Antwort: du hörst sie nicht, weil du ein Pfeifer bist! Wahrscheinlich hast du auch noch nie die Musik der Sterne gehört, du fetter Schnarcher, noch nie, du Siebenschläfer, die Musik des Sonnenaufgangs:

Die Sonne tönt nach alter Weise In Brudersphären " Wettgesang, Und ihre vorgeschriebne Reise Vollendet sie mit Donnergang.

Ein Erzengel ist es freilich, der am Anfang der Faustdichtung so bewundernd ergriffen betet, aber aus dem Herzen Goethes, also eines Menschen. Beethoven hörte tatsächlich das Heraufkommen der Sonne als Musik, während ein Höfling mit Recht behauptete, er höre nichts. « Tönend wird für Geistesohren » auch zu Beginn des zweiten Faustteils der junge Tag geboren. Zu beachten: « für Geistesohren », also nicht für unsere Leibesohren, doch weiterhin zu bedenken: Geist haben wir und lassen uns begeistern. Warum sollten wir nicht, wenn wir still und ehrfürchtig sind, etwas hören dürfen von der Sonnenmusik? Auch in der Bergnacht unter dem gestirnten Himmel kann es in unserer Seele schwingen und klingen, vielleicht schwingt es sogar im Ohr, klingt dort — oder ist das Klingen oben in den Gestirnen«wirk-lich»wirken und bewirken sie doch das Klingen in uns. Also Mut! wir hören sie einmal. Nein, mit Mut ist 's nicht getan: Demut, Stille.

Dass durch den Gang der Weltkörper eine himmlische Musik entstehe, wusste Pythagoras, der doch ein Mathematiker, also vermutlich nicht auf den Kopf gefallen war. Gerade er, der als Mathematiker besondern Sinn für das Gesetzmässige, das « Vorgeschriebene » der Gestirnbahnen hatte, gerade er wusste auch von Sphärenmusik. Wenn Saiten sich bewegen, dann tönen sie: also tönen auch Gestirne, die sich bewegen! ( falls sie Luft um sich hätten, wendet Schulverstand ein ). Man kann die Sphärenharmonie gleichnishaft meinen oder den Gestirnen wirkliche Töne zumuten. Der fühlende, staunende, denkende Mensch ist ergriffen vom Wunder des Weltalls, ergriffen auch vom Wunder musikalischer Harmonie. In beidem berührt ihn die ordnende Macht der Gottheit. Beides verbindet sich in seinem Innern. Er fühlt und hört unsere Musik als Abbild der Himmelsmusik, fühlt und hört unsere Musik ins Weltall hinein. Als einsame Wanderer im Gebirge hören wir das Tönen der Gestirne wohl dann und wann, wenn es auch nicht beweisbar ist. « Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio! » Beiläufig: Nordlichtgeräusche behaupten Wissenschaftler allen Ernstes.

Übers Bohnenlied geht es vermutlich, wenn jemand Pflanzen und Musik verbindet: Harmonia Plantarum heisst ein stattlicher Band, nicht vor Jahrhunderten von einem Mystiker geschrieben, ein 1943 in Basel gedrucktes Buch von Hans Kayser. Er geht weiter auf schon lange gewagten Forscherwegen. Newton versuchte unter anderm die wichtigsten Linien des Sonnenspektrums mit der Tonleiter der Musik zu vergleichen. Ernste Forschung stellt eine Drei-klangsstruktur des Erdinnern fest. Im Kristallaufbau wirken die selben Wert-formen, mittels deren unsere Seele die Tonverhältnisse beurteilt. Zeichnet man sämtliche Töne innerhalb einer Oktave graphisch auf, so erhält man die Form eines Urblattes. Der Biologe v. Uexküll spricht von der « Urpartitur » des Lebewesens; seine Theoretische Biologie ist voll von Analogien zur Tektonik der Musik. Der Biologie ist von altersher der Ausdruck « Wachstums-melodik » geläufig. Seit Jahrhunderten vergleicht man Pflanzenblüte und Melodie. Etwas mit Musik eng Verwandtes formt die Natur und auch die Menschenseele. Man stösst auf einen Urgrund tönender Gestalten, welche die Welt im Innersten gestalten. Grund genug, zur Weltanschauung die Welt-anhörung zu gesellen. Um solche bemüht sich seit Jahren Hans Kayser mit Forschereifer und feinem Empfinden. In einem Büchlein von 1946 braucht er das griechische Wort Akróasis, d.h. Anhörung, für seine « Lehre von der Harmonik der Welt », von den Konsonanzen und Dissonanzen der Welt. Die musikalischen Ausdrücke sind nicht etwa im landläufigen übertragenen Sinn gemeint, sondern ganz musiknahe: um Musikhaftes im Kern der Naturwesen geht es.

Denkerisch zwingend überzeugen kann man nun freilich nicht mit Analogien. Aber ist es nicht gerade ein ganz ernstes Denken, das sich nicht die letzte Entscheidung zutraut, Unbewiesenes nicht kurzweg als unwirklich oder gar unmöglich abtut?

Eine wunderbar gestaltete, wunderbar farbige, wunderbar duftende Alpenblume — darf eine wunderbar feine Melodie in sich haben. Wir dürfen sie zu hören wünschen, zu hören wähnen, vielleicht einmal in einer begnadeten Bergstunde hören. Und wenn es Traum wäre, erlebt wäre es. Und wäre wohl gar ein Stücklein sonst verschlossener Wirklichkeit. Empfindet ein Glücklicher die Farben«harmonie » einer blühenden Bergwiese sogar ohrenmässig, dann wollen wir ihn nicht schulmeistern, er nehme ein Bild der Sprache zu ernst; sonst könnte er erwidern: die Sprache ist weiser als ihr.

Die Stille des Gebirges ist der rechte Ort für das Lauschen auf die Harmonien der Natur. Wenn wir ihr gehören, lässt sie uns wohl einmal hören, was wir ahnen.

In der sanft herabgleitenden Linie eines Berges kann man das leise Verklingen eines Tones empfinden. Heinrich Wölfflin schreibt in seiner Dissertation « Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur » ( 1886 ) sehr fein über Analogien der Empfindung, z.B. Verwandtschaft zwischen tiefen Tönen und dunkeln Farben, die als reine Empfindungen betrachtet kein Gemeinsames haben, vermöge ihres gleichen ernsten Gefühlstons uns aber verwandt erscheinen. Unter den « Analogien der Linienempfindung » ist am deutlichsten die Analogie mit Tönen. Dabei wirkt mit, was wir an der eigenen Stimme über Tonbildung erfahren. « So beurteilt jedermann eine Linie mit kurzen kleinen Wellen als tremulierend in hoher Lage, weite Schwingungen von geringer Höhe als dumpf hohles Summen. Zickzack .rasselt und klirrt wie Waffenlärm'( Jacob Burckhardt ), sehr spitz wirkt er gleich schneidenden Pfeifentönen. Die Gerade ist ganz still. » Spassig nimmt Spitteler die Analogien, wenn er über Gustav erzählt: « In seinem Herzen fing der Sonnenschein an zu singen und das Strahlen-gold setzte sich in Dreiklänge um, gemäss dem Freihandelssystem und Tausch-und Zollverein, welcher durch das ganze grosse Bundesstaatengebiet der Schönheit herrscht. » Wer an der Musik der Gestirne vorläufig ( bescheiden oder hochnäsig ) zweifelt, der glaubt doch an die Musik der Vögel. Da piepst es, zwitschert, trillert, rukt, kollert, krächzt, alles von Herzen beherzt, falls man es nicht beseelt nennen darf, obwohl es Ausdruck des Innern ist.

Das « unendliche Waldkonzert » freilich, das Tschudi im « Tierleben » veranstaltet — wer hört es heutzutage? Fehlt es nur an den Ohren? Die Sänger fehlen; nicht ganz, aber vielen hat man das Singen verleidet, ihre Nesthecke gerodet und geraubt, ihr Futter chemisch vergiftet, ihnen die Kehle geschnürt, durchschnitten. Jeder von uns weiss einen Waldwinkel, einen Feld-und Alpweg, wo ihm wehe wird, weil es dort so wirtschaftlich weise geworden ist und ohne Vogelsang. Vielleicht dürfen wir einmal einem von Wald-rebenranken umwucherten Dorngestrüpp das Dasein verlängern, ein paar Vögelchen Leben und Lied retten.

Vogelfreunde, Naturkundige, Forscher, Musiker haben Vogelstimmen in Notenbildern dargestellt. Eduard Mörike ( der im Knarren einer Gartentüre eine Melodie aus einer Mozartarie hörte ) erfand eine besondere Notenschrift für die Musik der Stare. Meister der Musik lassen Vöglein im Tonwerk mitwirken, zum Beispiel R. Wagner im « Siegfried », lieblich schön einfach vor allem Beethoven in der Pastoralsinfonie.

Dürfen wir uns vom rauschenden Wasser zum Ausdruck « Musik » berauschen lassen? Sollte man sein Rauschen nicht ganz nüchtern ein Geräusch nennen? Im Hören der Wassermusik lassen wir uns durch ernste Naturwissenschaft bestärken. Der Geologe Albert Heim hat mit seinem Bruder, dem Musiker Ernst Heim, die Töne der Wasserfälle untersucht und 1873 der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft darüber einen Vortrag gehalten. Die wandernden, horchenden Brüder beobachteten im Brausen der Wasserfälle zwei nicht harmonierende Tongruppen, des genaueren dann den C-dur-Dreiklang, getrübt durch ein nicht zum Akkorde gehörendes tiefes F. Wohlverstanden: bei allen Wasserfällen war es so. Andere Leute mit musikalischem Gehör bestätigten es genau. Was dann Ernst Heim weiter herausbrachte und dem Bruder mitteilte, das kann uns Bergsteiger das Ohr öffnen und uns manchen Wandergenuss schaffen. Sehr stark hört man das tiefe F; es kann den C-dur-Akkord zudecken, so dass er nicht mehr als Akkord, sondern als schön klingendes Geräusch erscheint. Das F ist ein dumpfer, brum-mender, wie aus grosser Ferne klingender Ton. Er wird um so stärker, je grösser die stürzende Wassermasse ist. Wird uns nicht zumute, als sei das alles aus unserer eigenen Erinnerung geschöpft? Den tiefen Ton hört man noch hinter einer Bergecke oder hinter dichtem Wald und in einer Entfernung, wo die andern Töne nicht mehr vernehmbar sind. Auf den stillen hohen Berggräten vernimmt man vom ganzen Geräusch der Gewässer in der Tiefe kaum mehr den C-dur-Akkord, aber das F als dumpfes Brummen. Fürwahr, das haben wir alles auch schon gespürt! Noch besser merken wir es künftig. Dank den Brüdern Heim! Vom C-dur-Akkord vernehmen wir vor allem C und G; das sehr schwache E verschwindet dem Ohr bei kleinen Wasserfällen fast ganz. In verschiedenen Oktaven wiederholen sich die Töne C, E, G und F bei grossen Wasserfällen. Bei kleiner Wassermasse sind sie eine Oktave oder zwei oder drei Oktaven höher als bei starken Wassern. Fast bei jedem Ton klingen übrigens die Oktaven ein wenig mit. Haupt-tatsache: andere Töne als F und der C-dur-Dreiklang sind nicht zu finden. Das springt in die Augen, wenn man die Notenbilder ansieht, in denen E. Heim die Wasserakkorde verschiedener Bergwasser aufgezeichnet hat. Vier Beispiele:

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O O 1 Der erste Klang ist dem Vorderrhein bei der Brücke unterhalb Truns abgehorcht. Das zweite Beispiel zeigt, wie der Stäuberfall im Maderanertal, der mächtige Ausfluss des Brunnigletschers, musiziert. Dem Fätschbach, Beispiel 3, dem Wasser vom Urnerboden und Claridengletscher, beobachtet nahe bei seinem Zusammenfluss mit der Linth unterhalb des grossen untern Falles, fehlt das E; dafür hat er ein hohes C. Beispiel 4 zeigt, dass das F nicht im Basse liegen muss: der Spritzbach im Maderanertal hat einen besonders feinen, reinen Klang, ähnlich einem Akkord auf einem Saiteninstrument. Welche Entdeckerfreuden haben wir Wanderer noch vor!

« Natürlich » hat auch Beethoven die Wasserharmonie gehört, das C-dur über dem F, und das F als Grundton der Schöpfung empfunden. Die Pastoralsinfonie zeugt dafür. Will man es Zufall nennen, dass diese Sinfonie des Naturlebens und -erlebens gerade in F-dur geschaffen ist und mit dem Zusammenklang FC beginnt? Und nach dem Gewitter mit Donnerrollen und Wassergüssen setzt er unter das C-dur der Hirtenschalmei ( Klarinette ) wieder das gründliche F mit der Quinte C. Zugegeben: es klingt « pastoral ». Aber es tönt noch bedeutender, bedeutsamer: nach dem mächtigen Sturmgewitter wieder und immer noch der unerschütterliche Grund der Natur — wie in der Musik der Bergwasser.

Wahrscheinlich haben die Wasser auch im Rhythmischen ein gemeinsames Urwesen. Kennte man die Urrhythmen des Wassersturzes, des ziehenden Stromes, des reissenden Wildbachs, des Wiesenbachs, des Bächleins: man fände sie auch in der Pastoralsinfonie und in andern Werken hoher Musik.

Beethoven hat den Bächlein und Bächen zugehört und aufgezeichnet, was er gehört hat. « Natürlich » ertönt das den Bächen Abgelauschte auch in der Pastoralsinfonie, zumal in der « Szene am Bach ». Alles ist da getragen von der Tonbewegung, mit der die Streichinstrumente beginnen, und sie ist aus einer Naturtonskizze von 1803 entsprungen.

Werden wir ärmer, wenn wir von einfachen Urgestalten der Wasserharmonie und des Wasserrhythmus wissen? Sollen wir nicht mehr jeden Wasserfall als Eigenwesen erleben und lieben, seine Eigenart im Tönen wie in Farben und Formen? Alles bleibt ihm, auch uns alles! Die wundertätige Natur spielt ihre ewige Wassermusik auf gar verschiedenen Instrumenten. Felswände sind Dutzende oder Hunderte von Metern hoch, sind glatt, zerrissen, gestuft; reicher, stärker fliesst ein Wasser als das andere, schneller fällt ein Fall, jäher stürzt ein Sturz als ein anderer. Urgestalt, C-dur über F, wird immer wieder Einzelgestalt im Einzelfall, im einzelnen Wasserfall.

Der Frühling weckt die rieselnden, plätschernden, rauschenden, brausenden Wasser. Das Sommerhochgewitter, schaurig schön, Gebirg und Gemüt erschütternder Ausbruch krachender Urnatur, mischt in der Runse und Rufe Gestein und Gewässer zu donnerndem Tosen und Rollen und Kollern.

Allerliebste Nachtmusik ist uns der Gletscherbach, der neben der Klubhütte aus dem Gletschertor zum ersten Sprung über Felsgewände rauscht ( Punteglias !).

Ein andermal rast und rüttelt der einbrechende Föhn am Fensterladen und an unserm Bergvorhaben, pfeift auf uns und alles, was nicht stürmisch sein will. Regen auf das Hüttendach und Regenrauschen ringsherum auf alles Graue. Grün ist trotz Nässe die tiefere Alp, umtönt von feinumnebeltem Kuhglockenklang.

Verheissungsvoll haben die Glocken, Schellen, Plumpen geklungen, als in einer Vorsommernacht das Vieh durch unsre Bergstadt den Alpen zuge-wandelt ist, Hirtenrufe haben dreingetönt und der kommende Bergsteiger-sommer. Ans Herz gerührt hat schon im April der erste Glockenton von den Frühjahrsweiden vor der Stadt. Tröstlicher Ruf war der Glockenton einmal bei Nacht in das Irrsal eines pfadlosen Bergwaldes hinein — aus dunkler Tiefe kommt der Ton über ungastliches Fels- und Fichtenforstgewirr herauf — locken darf er uns nicht; aber so viel trauen wir ihm zu, dass er über Alp und Himmelsrichtung Wahres mitteilt. Das reichste Herdenglockenerleben ist es, wenn nach manchen durchstiegenen Geländestufen, nach manchen durchwanderten Bodenwellen plötzlich mit hundertfachen Tönen die Alp sich auftut.

Bescheiden ist demgegenüber das Aufschlagen der Bergschuhnägel auf die Felsplatten vor der Klubhütte, der Zusammenklang von Pickelspitze und Gestein — und doch liebe, beseelte Musik.

Ein geradezu blechmusikartiger Schluss wäre es nun, wenn aus dem Anstieg zum Berg ein Anmarsch und musikalisch ein Marsch würde oder ein « Einzug der Götter in Walhall ». Der Berggeist winkt ab.

Doch Gleichmass im Anstieg ist naturgemässer Bergsteigerbrauch. Dem ganzen Leib, den Beinen, dem Herzen, dem Ohr, tut dieser Rhythmus wohl, auch der Seele. Das Herz geht seinen treuen Gang, andante, still, ohne seinen Takt zu betonen. Vielleicht pocht es spürbaren Takt etwa in der letzten halben Stunde vor dem Gipfel, aus eigener Unruhe oder von Arm und Bein ein wenig gehetzt: ein paar tiefste Atemzüge der Ruhe geben ihm wieder gesundes Mass, wie etwa im Tonwerk ein paar vollgeschöpfte Horntöne ein kurzes Presto zum Andante zurückführen. Das Herz tut sein ruhig rhythmisches Werk wieder ganz still. Lauschen darf die Seele, was das Gebirge sagt.

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