Bergsteiger und Weltbild
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Bergsteiger und Weltbild

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON KARL GREITBAUER, WIEN

ZUR FRAGE DER STELLUNG DES HEUTIGEN BERGSTEIGENS IM GEISTIGEN WELTGEFÜGE Dass der Alpinismus der heutigen Zeit in seiner geistigen - das heisst ethischen ( vor allem ), ästhetischen und metaphysischen - Gestalt in eine Phase bedeutender innerer Problematik eingetreten ist, ist wohl längst kein Geheimnis mehr. Gleichgültig nun, ob diese Situation vom einzelnen als erfreulich ( wegen eines Interesses an den dem Bergsteigen innewohnenden ungeklärten tief menschlichen Fragen ) oder als unerfreulich ( wegen einer gewissen Abneigung gegen alle Zerpflückungsver-suche der Ganzheit ihrer sich selbstgenügenden bergsteigerischen Erlebnisse ) angesehen wird, trägt dennoch die gesamte heutige Bergsteigerschaft, auch ungewollt, eine nicht hoch genug einzuschätzende Verantwortung für die weitere Entwicklung der alpinen Idee, die unaufhaltsam und unbe- schadet durch die fruchtlosen Versuche einzelner, sie in Richtung Innerlichkeit ( z.B. romantischer Lebensform ) abzubiegen, sich gradlinig zum reinen Bergsport zu bewegen scheint.

Diese Entwicklung ist von langer Hand. Ihren Ausgang nahm sie - begünstigt durch die seit eh und je florierenden Polemiken um die Äusserlichkeit des Bergsteigens als sportliche oder nicht sportliche Tätigkeit—aus einer in den dreissiger Jahren neu auftauchenden Situation im Alpinismus, deren Problematik von Leo Maduschka in seinem Aufsatz « Bergsteigen und Alpinismus » scharf beleuchtet wurde. Wenn wir die wesentlichen Sätze und die Schlussfolgerung aus dieser Arbeit herausgreifen, so kommen wir zu folgendem Situationsbild:

« In den Alpen sind wir jungen Bergsteiger von heute Epigonen... Unsere Leistungen sind denen der klassischen Zeit zum mindesten ebenbürtig, aber ihre Originalität nimmt von Jahr zu Jahr rapider ab. Die grossen Probleme sind gelöst, selbst die meiste Kleinarbeit schon getan... praktisch ist heute ein Abschluss da... neue Themen sind kaum mehr anzuschlagen, nur Variationen und Breitenentwicklung in jeder Beziehung noch möglich...: Diese und zahlreiche andere Tatsachen sprechen dafür, dass der Alpinismus als entscheidende Erscheinung, als Problem einen Abschluss erreicht hat. » Das ist in lapidaren Worten der Tatbestand, den Maduschka mit der ihm eigenen Schärfe des Blickes für die situativen Gegebenheiten seiner Zeit aufzeigt. Der Schlusssatz dieser kurzen, aber inhaltsschweren Abhandlung soll jedoch den verbleibenden Weg ( den Ausweg ) durch die noch offenen Möglichkeiten in dieser neuartigen Situation im Bergsteigen zeigen. Wir nehmen vorweg, dass Maduschka letztlich gar keinen Weg zeigt, sondern resigniert, obwohl hier eigentlich eine Entwicklung einer neuen Grundeinstellung zum Bergsteigen zumindest im ersten Ansatz zu erwarten wäre:

« Wir sind nicht, wie man aus dem Gesagten vielleicht schliessen könnte, irgendwie pessimistisch angekränkelt; nein, wir sehen vielmehr klar und sachlich, wie heute die Dinge liegen. Dass sie so liegen, das ist eben Schicksal, in das wir uns zu fügen haben. Deswegen sind wir weder passiv, noch lassen wir uns die Freude und die Begeisterung an Tat und Leistung ( seien sie auch nicht immer aus erster Quelle ) nehmen. Die Berge sind noch ebenso schön wie früher, das Erlebnis in ihnen ist das gleich grosse und wundervolle wie einst. Und ausserdem glauben wir, dass es in den Alpen auch für uns noch Aufgaben genug gibt, die ( trotz allem und wenn sie auch nicht Probleme sind, wie sie ein Whymper vorfand ) immer noch genügend Raum und Gelegenheit für persönliche Leistungen bieten. » Aus diesem Schlusssatz Maduschkas in der genannten Arbeit klingt deutlich sein im Innersten verwurzeltes amor fati heraus. Nach aussenhin scheint darüber hinaus diese Lösung aus der neuen Problematik, die Maduschka hier andeutet, am Bergsteigen als Ganzem ( d.h. am innerlichen Verhältnis zu ihm ) nichts oder zumindest nicht viel, beziehungsweise nur Unbedeutendes zu ändern -scheint sie doch eine Überwindung des deutlich gesehenen Verlustes der Problemhaftigkeit des Alpinismus bereits im Ansatz darzustellen. Theoretisch ist aber eine solche Vorstellung nicht haltbar, und es muss, wenn man einer solchen Situation gewahr wird, gefordert werden, dass sie auch eine bedeutende praktische Auswirkung nach sich zieht. Denn die Dynamik des Bergsteigertumes, die bislang in die Problemhaftigkeit des Alpinismus eingeflossen ist, ist mit einem amor fati und verstandesmässigen Wendungen nicht aus der Welt zu schaffen. Hier muss sich notwendig eine dynamisch andersgeartete Richtung im Alpinismus ausbilden - oder aber die alpine Idee gibt die ihr innewohnende spezifisch gerichtete Dynamik vollständig preis und verändert sich als Ganzes.

Beides können wir heute als eingetreten vermerken: es hat sich eine neue dynamische Richtung im Bergsteigen, das Winterbergsteigen, herausgebildet, es wendet sich weiters das bergsteigerische Interesse vermehrt den Weltbergen zu, so dass man heute bereits von einem sommerlichen Ausschwärmen sprechen kann - und es hat sich auf der anderen Seite die bergsteigerische Idee fast schon zum profanen Bergsport gewandelt, hat ihre Persönlichkeitsdynamik abgelegt und ist damit heute entschieden nicht mehr das, was sie früher einmal war. In Maduschkas Arbeit, und zwar in dem den vorangehenden Kassandraruf zuversichtlich übertönenden Schlusssatz, finden wir ungewollt vom Autor diese letztangedeutete Richtung bereits vorgezeichnet: die Richtung zum Bergsport. Und das entsprechende unbewusste Prophetenwort Maduschkas liegt in der Formulierung: « Raum und Gelegenheit für persönliche Leistung. » Dieses unbewusst herausgestellte Faktum der persönlichen Leistung durch Maduschka ist nämlich inzwischen zu einem Faktum im Bergsteigen geworden, welches die endgültige Herabwürdigung des Bergsteigens zum Sport irgendwann einmal herbeizuführen vermag. Denn die verlängerte Existenz der Problemhaftigkeit des Alpinismus durch das Winterbergsteigen und den heutigen Wettlauf auf die ausseralpinen Bergriesen, ist auch nur ein vorübergehendes dynamisches Ventil im Alpinismus: im Winterbergsteigen wiederholt sich dynamisch ( d.h. persönlichkeitsdynamisch ) das gesamte Bergsteigen als solches, und der Run auf die Weltberge, die dortige Erforscher-, Er-schliesser- und Ersteigertätigkeit ist ebenfalls zeitlich begrenzt - und übrig bleibt am Ende wiederum nur der Bergsport, der heute schon durch die mangelnde Breite für die Zugänglichkeit zum Problem dem brüchigen Rest der alpinen Idee nebenherläuft. Denn die heutige Problemhaftigkeit des Alpinismus ist in einer solchen Form existent, die nicht viel mehr als ein blosses Vegetieren ist, ein letztes Aufflackern, wodurch das Bergsteigen scheinbar seine zweite Jugend erlebt - wodurch eine neuerliche Blüte des wahren alten Alpinismus vorgetäuscht wird. Aber es ist eine Scheinblüte: denn gerade die markanten Träger der Problemhaftigkeit des Alpinismus sind es vielfach, die paradoxerweise dem Bergsteigen die äusserstmögliche sportliche Prägung nach aussenhin geben - indem sie den Berg zum sorgfältig und zweckhaft ausgewählten Objekt der Leistung machen, ihr « Training » in den Alpen für « Grösseres » aufnehmen usw.

So sehr man heute auch sagen kann, dass sich der im unbewussten prophetischen Ausspruch Maduschkas niedergelegte Gedanke über Raum und Gelegenheit zu persönlicher Leistung als verbliebene Möglichkeit im Bergsteigen bereits zur konkreten Gestalt des Sportbergsteigers verdichtet hat, über den auch kein Bemühn um die bergsteigerische Tradition durch die Älteren hinwegzutäuschen vermag, so bleibt uns dennoch die Frage, ob die Entwicklung des Bergsteigens ( durch den endgültigen Verlust der Problemhaftigkeit ) zum reinen Bergsport wirklich die einzig mögliche endliche Entwicklung sein soll.

Sicher ist eines: dass bisher mehr schlecht in dieser Richtung gemacht wurde als recht - auch dann, wenn es anders, ideenerhaltend, gemeint war. Denn die jahrzehntelange ( an sich unverständliche Trägheits- ) Einstellung der Bergsteigerschaft zum Bergsteigen als einer Gegebenheit, die « wohl Sport, aber nicht nur Sport » bzw. « mehr als Sport » sein sollte, hat die Entwicklung zur Auffassung zum reinen, absoluten Bergsport hin nur gefördert, ja musste sie notwendig aus weiter unten angeführten Ursachen in dieser Richtung fördern. Gegen diese immer deutlicher werdende Bewegung der alpinen Idee zum nüchternen Bergsport hin waren in der Folge auch alle Versuche, eine Resonanz der Innerlichkeit des Alpinismus durchzusetzen, vergeblich, weil es sich immer nur um einzelne Stimmen einzelner handelte, die trotz aller Beredsamkeit am Ende nicht sagen konnten, worin diese Innerlichkeit im Alpinismus letztlich zu sehen sei - denn dass auch der, der den Bergsport propagierte, ein gewisses Erlebnis hatte, das man von dem der Innerlichkeit nicht einmal qualitativ aus- einanderzuhalten imstande war, stand seit langem fest. Und gleicherweise war auch die Flucht in das Schlagwort der romantischen Lebensform, einer von Maduschka geschaffenen Sicht des Bergsteigens, nicht geeignet, die sportliche Entwicklung hintanzuhalten, da wohl für alles andere im Bergsteigen, nicht aber für die überrealistische alpine Tat selbst der Begriff einer romantischen Lebensform aufrechterhalten werden konnte—und das übrige Bergsteigen ist auch ohne romantische Begrifflichkeit das entscheidende Gegengewicht gegen das extreme Sportbergsteigen.

Dass aber die Prägung für das Bergsteigen ( gut gemeint und niedergelegt bei Maduschka ), dass es wohl Sport, aber zugleich auch mehr als Sport sei, entscheidend nur die Bewusstheit vom Bergsteigen als « Sport » für alle Zeiten fixiert und ausschliesslich das sportliche Moment am Bergsteigen gefördert hat - nicht aber auch die andere Seite dieser Prägung, dieses mysteriöse « mehr als Sport », hat seinen Grund darin, dass dieses angebliche « mehr » eben überhaupt nichts war als ein tragendes Medium für den Begriff Sport, ein denklähmendes Wortgebilde, eine logische Scheuklappe, durch die der Begriff Sport für das Bergsteigen erstmalig voll tragbar wurde. Es ist dieses « mehr als » nämlich nur eine Scheineinsicht in die Materie durch einen leeren Begriff, hinter dem absolut nichts Greifbares, nicht das unbedingt dazugehörige « was » steht. Diese unbeabsichtigte logische Entgleisung Maduschkas stellt einen unbeabsichtigten Demagogismus im Bergsteigen dar, durch den es erstmalig möglich war, den Begriff Sport ins gesamte Bergsteigertum unbeanstandet allgemeingültig einzuschmuggeln und über das gesamte Bergsteigen, von allen bejaht, zu stülpen.

Dass diese Scheineinsicht durch einen leeren Begriff ausgerechnet von Maduschka fixiert werden musste, dass ausgerechnet von ihm eine quantitative Aussage qualitativen Eingang in die Ideologie des Bergsteigens fand, kann von uns heute nur als eine jener Ironien des Schicksals angesehen werden, wie es diese immer wieder in der Geschichte gibt: denn Maduschka war es ja gerade, der sich entschieden gegen das rein Sportliche im Bergsteigen stellte, dass er sogar die romantische Lebensform, die ihm persönlich für die alpine Tat gar nicht aus dem Herzen kam, sondern die ihm nur allgemein menschlich, bildungs- und verstandesmässig nahestand, und die er aus der Gegebenheit des Bergwanderns zum extremen Bergsteigen hinüberzog, gegen den Sport indirekt ins Treffen führte, um so auch in allem extremen Bergsteigen die immanente Erlebnisgrösse herauszukehren.

Wenn demnach also dieses « mehr als Sport » eine absolut logische Niete ist, die nur durch ihr gefühlsansprechendes Gewicht sich als « Etwas»(und sogar als etwas sehr Bedeutendes ) behaupten konnte, dann müssen wir uns wirklich fragen, ob es jetzt überhaupt noch etwas geben könnte, was das Bergsteigen morgen, nachdem die Problemhaftigkeit als bedeutungsgebendes und persönlich-keitsdynamisches Moment im Bergsteigen endgültig weggefallen ist, ausser Bergsport noch sein mag.

Einen ersten Gesichtspunkt in dieser Frage findet man in dem sogenannten Wegfall der Problemhaftigkeit selbst. Denn dieser Wegfall ist auch nicht ganz so absolut, wie es beim ersten Hinsehen den Anschein hat. Man findet bei genauerer Betrachtung nämlich gerade hierin eine gewisse Relativität, da dieser Wegfall nur die Originalität des Problems, nicht aber dieses selbst betrifft: Problem ist jede Wand nach wie vor für jeden neuen Begeher, da er ja nur weiss, dass dieses Problem lösbar ist, und nicht aber auch die Lösung kennt ( oder nur beiläufig kennt, je nach Ausführlichkeit der Wegbeschreibung ). Daraus kann man ersehen, dass die Aufgabenstellung mit der Originalität des Problems nicht viel zu tun hat. Hier hat Maduschka also keineswegs recht, wenn er sagt, dass eine Bergfahrt heute, vom Problem aus gesehen, nichts mehr bedeutet; denn immerhin wird das gleicherweise bestehende An-sich-Problem jedesmal von jedem Bergsteiger neuerlich Zug um Zug gelöst, aus der kompakten Oberflächenstruktur der Wand wird immer das Struktogramm der spezifischen Wegführung aufs neue komponiert. Das ist absolute Problemleistung im Bergsteigen, und die Wand ist damit zwar nicht mehr äusseres Problem für alle, aber stets und unabsprechbar An-sich-Problem für den Einzelnen. Und diese unabweisbar bestehende Problemhaftigkeit aller Wände ist damit auch heute noch durchaus geistige; und zwar architektonische Aufgabenstellung im Bergsteigen, und auf dieses Faktum im extremen Bergsteigen bezieht sich auch unserer Meinung nach dieses gewisse Leistungserlebnis im Bergsteigen, gleichgültig, ob man dieses Strukturproblem als überhaupt erster oder als erster oder zweiter einer jeweiligen Seilschaft löst. In diesem subjektiv-bergsteigerischen Erlebnis sehen wir das Basiserlebnis allen extremen Bergsteigens. Und hierin haben wir bereits auch ein entscheidendes Gegengewicht gegen die Auffassung des rein Sportlichen im Bergsteigen bzw. auch dieses gefühlsmässige « mehr als Sport »: es ist die geistig-konstruktive Leistung im Bergsteigen, die Strukturauflösung der geschlossenen Wand zur subjektiven Gangbarkeit.

Was zum zweiten aber ganz entschieden gegen die Sportauffassung des Bergsteigens spricht, ist die Eigentümlichkeit, dass für den sich dem Bergsteigen zuwendenden jungen Menschen das Bergsteigen niemals den Charakter einer Sportdisziplin hat. Für die jungen Bergsteiger ist Bergsteigen nicht sportliche Leistung sondern Persönlichkeitsleistung - und dies aus gutem Grund: weil, wie die Psychologie nachweist, für den dynamisch lebendigeren jungen Menschen aus Gründen des obligaten Schicksals dieser Entwicklungsjahre, nicht für voll genommen zu werden, eine ausgeprägte Persönlichkeitstendenz, d.h. Gestalttendenz besteht. Und die Zuwendung zum Bergsteigen erfolgt bei solchen jungen Menschen ( neben Milieu- und sonstigen Lebensbedingtheiten ) zum guten Teil und dynamisch dominierend wegen der deutlich sichtbaren Leistungsgestalt des Bergsteigers, die stärksten Persönlichkeitscharakter ausstrahlt. Diese Dinge haben mit Sport nichts zu tun, und man kann infolgedessen Bergsteigen nicht verallgemeinernd Sport nennen, wenn solche Persönlichkeits-spannungen darin eine tragende Rolle bei der Front des Nachwuchses spielen und dort dynamisch relevant sind.

Aber nicht nur für den jungen Bergsteiger, sondern auch für den reifen lassen sich Momente ins Treffen führen, die im Bergsteigen ganz wesentliche und bedingende Gegebenheiten sind und neben dem Leistungserlebnis das grosse metaphysische Erlebnis des Bergsteigens ausmachen: wir meinen das spezifisch bergsteigerische Erlebnis der Grenzsituation von Sein und Nichts, das Erleben des Existierens an der vertikalen Grenze zwischen Sein und möglichem Nichtsein. Dieses stark persönlichkeitsbildende Moment im Bergsteigen entsteht hier von innen heraus und hat im fraglich persönlichkeitsbildenden Moment des mehr ungegenständlichen, äusserlichen fair play des Sportes kein Gegenstück. Hier, in diesem bewussten oder unbewussten Erlebnis der spezifisch bergsteigerischen Grenzsituation, besitzt das Bergsteigen seine jenseits des Pragmatismus des Daseins liegenden tief menschlichen Ideen werte, die den philosophischen Ideen einer Stoa, den Gedanken der indischen Philosophien, des Piatonismus und den Gedanken eines Augustinus ungemein nahestehen und die identisch bezeichnet werden können mit den Gedanken der heutigen Existenzphilosophie: die bodenlose Tiefe unter dem Bergsteigerin der Wand gebiert das Denken des Nichts als eines Etwas, welches das Sein radikal in Frage stellt, und setzt damit das Denken über das Sein in Bewegung. Die Genügsamkeit des Bergsteigers, die Bescheidenheit ( d.h. eigentlich Bescheidung ), die Einfachheit und Lauterkeit, jene Charakteristika des « wahren » ( d.h. zum Denken über das Sein gekommenen ) Bergsteigers, gründen letztlich im Erkennen und Erleben der Grenzsituation des Seins.

In dieser Gegebenheit ist Bergsteigen derartig weitab von sportlichen Gedanken und Tendenzen, dass man hier wirklich nicht mehr weiss, in welchen Belangen man den Sport im Bergsteigen noch anerkennen könnte. Diese universalbergsteigerische Gegebenheit des erlebten Existierens an der scharf kontrastierenden Grenze zwischen Sein und Nichts wurde immer schon als spezifisches Moment im Bergsteigen empfunden und verschiedentlich ausgedrückt - am deutlichsten und tref- fendsten in dem bekannten Bild des « Wandeins auf des Messers Schneide ». Und wenn man hier, bei dieser sehr anschaulichen bildlichen Vorstellung des Bergsteigens verharrt und diese überdenkt, wird man finden, dass sich hier wirklich kein Zusammenhang mit sportlichen Momenten ergibt. Bergsteigen ist hier Erlebnis einer Grenzsituation des Seins und als dieses metaphysisches Erlebnis mit nachhaltig daseinsbestimmendem und persönlichkeitsformendem Nachhall. Der alpine Schriftsteller dieser Richtung ist Oskar Erich Meyer - und wer Meyer versteht, besonders was er über die Ewig-Fremden in den grossen Städten sagt, wird nun auch verstehen, dass das bewusste Erleben dieser Grenzsituation von Sein und Nichts im Bergsteigen ihn zu diesen Gedanken führte, die in einer Relativierung der Betriebsamkeit des Daseins gipfeln; und wer Meyer bisher noch nicht recht verstanden hat, findet im Begreifen der spezifisch bergsteigerischen Gegebenheit des Erlebens dieser Grenzsituation den Schlüssel zum Verständnis O. E. Meyers.

Diese Dinge haben, wie gesagt, mit Sport nichts mehr zu tun; wer jedoch trotz allem am äusseren Aspekt des Bergsteigens kleben bleibt und allein aus dem Bewegungsablauf beim Bergsteigen die Zugehörigkeit zum Sport erschliesst, der müsste konsequenterweise auch die Bewegung eines -sagen wir - künstlerischen Tanzes oder eines Dirigenten, die beide gleicherweise einen Erlebnis-inhalt umsetzen, als zum Oberbegriff Sport gehörig einstufen. Dieses Beispiel ist nicht sehr gut, aber es gibt hier eben kein Beispiel, da Bergsteigen als Ausdrucksbewegung des Höhen-Tiefen-Erlebnis bzw. des Erlebnisses von Sein und Nichts, das in allem extremen Bergsteigen zwar nicht bewusst-seinsdominant ist, aber im Erlebnis des Steigens mitschwebt und mitschwingt, eben ebenso einmalig dasteht wie die Ausdrucksbewegung des künstlerischen Tanzes oder des Dirigierens. In diesem höheren Zusammenhang wird das gebrachte Beispiel bzw. der Vergleich erst wesentlich.

Wenn wir schliesslich noch ganz objektiv sein wollen, müssen wir noch dem eventuellen Einwand Raum geben, der darin besteht, dass es bei der Frage des Sportlichen beim Bergsteigen eben ganz darauf ankäme, wie man die Bezeichnung Sport selbst aufzufassen geneigt sei - aber das sind eigentlich längst erledigte Dinge. Denn wenn man Sport nicht in seiner Bedeutung der Gestaltung körperlicher Leistung, sondern in der sehr weiten der ausserberuf lichen Liebhaberei auffasst, dann allerdings passt die Bezeichnung « Sport » bald auf alles, was einer ausserberuf lieh als ständiges Hobby pflegt - ist aber von uns aus in dieser Bedeutung auch keineswegs mehr als unpassend zu beanstanden: denn dann kann man ja nicht mehr sagen, Bergsteigen sei Sport, sondern nur, dass der Sport dieses oder jenes Menschen Bergsteigen sei.

Ganz zuletzt aber muss man oftmals wirklich glauben, dass es so sehr primitive Menschen gibt, die Bergsteigen in wirklich nicht anderer Auffassung als einer rein sportlichen betreiben und ganz in dieser Weise eingestellt sind. Jedoch darf man sich nicht täuschen lassen: auch im scheinbar primitivsten Erleben liegt soviel unaufgeschlüsselt Verschiedenes an Erlebnisqualität, dass man aus der mangelnden analytischen Mitteilungsfähigkeit nicht schliessen darf, das Naheliegendste und Einleuchtendste, das sich dieser Mensch für sein Bergsteigen aus der Fülle der gebotenen Begriffe auswählt, sei auch das der psychischen Qualität seines Bergsteigens entsprechende: denn wie einer sein Bergsteigen bezeichnet, ist letztlich belanglos, solange er nicht diese Bezeichnung in die bergsteigerische Öffentlichkeit als absolut und einzig möglich hinausträgt. Und dass gerade der primitivere Charakter sich lieber an das Primitivere und Unkomplizierte hält - in unserem Fall an die Bezeichnung Sport für das Bergsteigen, weil er damit etwas Handfestes in der Hand hat, ist bekannt und verständlich und beweist im übrigen gar nichts als bloss wieder die unkomplizierte Mentalität, bei der es allgemein ist, dass sie bei einleuchtender anderer Darstellung die erste Meinung unbeschadet fallen lässt und sich der neuen Einsicht zuwendet.

Durch das Herausheben dieser drei angeführten im Bergsteigen immanenten und das bergsteigerische Erlebnis wesentlich ausmachenden Gegebenheiten:

1. der Erscheinung der architektonischen Bewegungsaufgabe als gleichbleibend geistigem Problem im Bergsteigen; 2. der Erscheinung des Persönlichkeitsfaktors als wesentlichem Moment für den jungen Bergsteiger, und 3. der Erscheinung des Erlebens der existentiellen Grenzsituation von Sein und Nichts beim reifen Bergsteiger, wird der eine primitive Geistigkeit kennzeichnende sportliche Gedanke im Bergsteigen wieder in den Hintergrund geschoben, und man wird wieder in der Lage sein, auf Basis dieser drei Bewusst-heiten die sportliche Leistung im Bergsteigen ( die es natürlich gibt ) entsprechend einzuschätzen und als Minderheit gegen die übrigen Werte des Bergsteigens abzugrenzen.

Gewiss gibt es ausserdem noch Momente, welche ebenfalls als wesentlich und gegen den Sportgedanken im Bergsteigen verwertbar sind - so z.B. die Adlersche Kompensationstheorie, die sich letztlich aber auch auf Gestalttendenzen zurückführen lässt ( und die bei Lammer und bei Dülfer eine bedeutende Rolle gespielt haben dürftejedoch würde ein Eingehen auf diese wie auch ein näheres Eingehen auf die hier aufgezeigten drei logisch-ethisch-ästhetischen ( metaphysischen ) Hauptmomente im Bergsteigen weit über den Charakter eines blossen grundsätzlichen Hinweises, den diese Arbeit ja letztlich darstellt, hinausreichen. Gewollt war mit dem Obigen bloss, in drei Punkten die Anknüpfungsmöglichkeit des Komplexes Bergsteigen an das heutige Weltbild anzudeuten, um zu zeigen, dass in einer diesbezüglichen Allgemeinbeziehbarkeit das extreme Bergsteigen auch heute noch ( in der Zeit der sogenannten Epigonen ) in anderer Gestalt als in der vermeintlich alleinigen der sportlichen Gegebenheit existent ist - und gegenüber dieser sogar wesentlicher und wirklichkeitsnäher: d.h. dass es in der von Leo Maduschka verwendeten Prägung des « mehr als Sport » wirklich mehr als Sport ist.

Und in der geistigen Einstellung auf diese Gewissheit liegt unseres Erachtens die hohe Verantwortung des heutigen Bergsteigertums: die sportliche Entwicklung zu bremsen, die durch Missverständnisse und mangelnde Einsichten, nicht zuletzt aber durch die Maske des « mehr als Sport » vom Stappel gelassen wurde. Denn wenn auch Bergsteigen im innersten Wesen niemals Sport sein kann, so wissen wir doch nur zu gut, dass eine Sache schliesslich immer endgültig jenen Charakter bekommt, unter welcher äusseren Bezeichnung sie im Bewusstsein der Menschheit läuft.

Feedback