Bergsteigererinnerungen. — Der Monte Viso
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Bergsteigererinnerungen. — Der Monte Viso

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Der Monte Viso.

Besteigung durch einen 75jährigen.Von At Wa"

Anfangs Juli 1936 erhielt ich von meinem Freunde und Klubkameraden Emil Erb, dem früheren Zentralpräsidenten des S.A.C., eine Einladung zur Teilnahme an einer längern Reise in die Westalpen, die er als Leiter für die Sektion Uto zusammengestellt hatte. Es war vorgesehen, von Genf aus mittelst Auto diverse Standorte der Westalpen zu besuchen und von ihnen aus grössere und kleinere Besteigungen auszuführen. Als grössere Touren waren vorgesehen: Dôme de Chasseforêt, Pic Coolidge, Pelvoux, Monte Viso und Argenterà. Für ältere Mitglieder waren einige bescheidenere Höhen vorgesehen. Dieses Programm, das in einige mir noch nicht bekannte Gebiete führte, gefiel mir so gut, dass ich schleunigst zusagte. Im stillen hegte ich auch zu gleicher Zeit die Hoffnung, trotz meiner 75 Jahre vielleicht doch die eine oder andere Hochtour mit den Jüngern mitmachen zu können. Den Dôme de Chasseforêt nahm ich aus, da ich ihn bereits kannte. Aus der Literatur wusste ich mich zu erinnern, dass auch 70jährige noch Hochtouren gemacht hatten, so z.B. Weilenmann. Coaz, der Erstbesteiger des Bernina, erklomm diesen Berg 50 Jahre später in seinem 80. Jahre. Führer Gaspard war noch mit 75 Jahren auf der gefürchteten Meije. Ich errechnete die zu überwindenden Höhendifferenzen, die bei Pelvoux und Viso nicht über 1200 m gingen. Da ich im gleichen Jahre von Muralto aus den benachbarten Piz Trosa bestiegen hatte, wobei die Höhendifferenz ca. 1600 m betrug und die Wege auch nicht bequem sind, und vor kurzem auch von Anzonico aus den Piz d' Erra allein bestiegen hatte, wo auch 1400 m Höhendifferenz teilweise pfadlos zu begehen waren, durfte ich erwarten, dem Pelvoux und Viso ebenfalls gewachsen zu sein, wenn ich ein mir zusagendes nicht zu rasches Tempo einschlagen könnte. Als ich dann mit meinen Gefährten, bei denen sich freilich auch die altern Mitglieder befanden, die Tournette bei Annecy bestiegen hatte und am gleichen Tage mit den Jungen von Pralognan noch ins Refuge Felix Faure gestiegen war, hatte ich 2500 m Tagesanstieg hinter mir und durfte mich also als gut eingelaufen betrachten, um so mehr, als ich andern Tags mich wieder ganz frisch fühlte. Ich verzichtete freilich dann auf den Pelvoux, erstens des unsichern Wetters und zweitens der vorauszusehenden schlechten Nachtruhe wegen. Für das Übernachten in der Klubhütte Lemercier, die 16 Plätze hat, hatten nebst unsern Mannen noch andere Klubisten sich gemeldet, 25 im ganzen. Zudem musste der schwere Rucksack mit Steigeisen und Holz von jedem selbst zur Hütte getragen werden, was eine teilweise Übermüdung gebracht hatte. Für den Viso waren die Verhältnisse besser. Hier gab es kein längeres Schneestampfen, die Besteigung bot mehr Abwechslung, und das Nachtquartier war bequem. Es war das in 2640 m Höhe gelegene Rifugio Quintino Sella, das bewirtschaftet war. Die Besteigung selbst galt auch nicht als schwierig, auf keinen Fall durfte sie mit Bergen wie Eiger, Finsteraarhorn, Zinalrothorn etc. verglichen werden. Sollte das Wetter uns günstig sein, so würde uns der Viso mit einer Rundschau erster Güte aufwarten. Zwischen der Dauphiné und den Meeralpen gelegen, am Rande des Alpenwalls in der Nähe von Turin, überragt er in weitem Umkreis seine Nachbarn mit über 300 m. Sein Panorama umfasst die Meeralpen, die Berge der Dauphiné, die Maurienne und Tarantaise; das Mont-Blanc-Massiv, die Walliser Grenzkette gegen Italien, sogar einen Teil der Graubündnerberge und der ferne Adamello sollen bei klarem Wetter erkennbar sein. Ich erinnerte mich, ihn bei vielen Besteigungen in den erwähnten Gruppen gesehen und an seiner pyramidenförmigen Gestalt und seiner vereinsamten Lage stets sofort erkannt zu haben. Er beherrscht auch die grosse piemontesische Ebene mit Turin und fällt von der in der Nähe Turins gelegenen Superga auf, wie der Monte Rosa z.B. vom Dom von Mailand. Leider hat nun gerade diese gegen die Ebene etwas vorgeschobene Lage den Nachteil, dass im Hochsommer die aus der Ebene aufsteigende warme Luft sich an den Hängen des Berges abkühlt und die sich bildenden Nebelmassen den Gipfel des Viso oft schon um 8 Uhr morgens mit einer dichten Kapuze einhüllen. Man muss also stark vom Glück begünstigt sein, wenn einem eine tadellose Rundsicht zuteil wird.

Wir waren hoffnungsfreudig punkto Witterung den 27. Juli abends nach 4 Uhr in Crissolo, einer italienischen Sommerfrische auf ca. 1300 m Höhe, angekommen, von welcher Talstation aus die Besteigung des Berges gewöhnlich ausgeführt wird. Der Gipfel des Viso ist von diesem Orte aus nicht sichtbar, er wäre es übrigens ohnedies nicht gewesen, da eine dichte Nebelschicht, die ca. 100 m oberhalb der Ortschaft begann, alles in ein graues, undurchdringliches Dunkel hüllte. Es waren die aus der Ebene aufgestiegenen Dünste. Um nicht zu spät in das in 2640 m Höhe gelegene Rifugio Quintino Sella zu kommen und um wegen meines langsamem Tempos einen Vorsprung vor meinen rascher gehenden Kameraden zu erwischen, schulterte ich sofort nach der Ankunft meinen Rucksack, liess die andern ihre Quartiere suchen und brach allein als Erster auf. Ich war kaum 50 m angestiegen, als Dr. H. König mir winkte, noch einmal hinunter zu kommen. « Du Stürmi, hesch nit ghört, dass me d'Ruckseck im ene Multier ufladet? » Mit diesen Worten nahm er mir den Rucksack ab, und angenehm erleichtert begann ich den Anstieg von neuem. Es war anscheinend unvorsichtig von mir, allein und ohne Karte auf unbekanntem Terrain anzusteigen, aber der Weg zur Hütte ist sehr gut markiert, jedenfalls wohl dieser häufigen Nebel wegen, und auf den Alpweiden, wo solche Wege oft ganz undeutlich werden, zeigte eine ununterbrochene Reihe weisser Steine die Richtung an, so dass ein Fehlgehen ausgeschlossen war. Wohnungen, Ställe, Stadel waren bald nach dem Anstieg ganz zurückgeblieben, kein menschliches Wesen war im dunkeln Grau mir begegnet, und ich war schon 1 % Stunden in gutem Tempo angestiegen, als ich aus der Tiefe Stimmen vernahm. Es waren zwei meiner Gefährten, die mich bald einholten und überholten, um im Rifugio für die später ankommenden einen warmen Tee bereit zu halten. In etwas über 2000 m Höhe blieben dann die Nebel plötzlich zurück; man betrat eine Art Mulde, die über teilweise sumpfigen Boden zu gestuftem, mit Schutterrassen unterbrochenem Fels führte, wo Schnee den Pfad vielfach verdeckte. Erst nach Überwindung dieser etwa 100 m betragenden Strecke wurde auf einmal die gastliche Hütte in ganz naher Entfernung sichtbar, bevor die völlige Dunkelheit ihren Einzug gehalten hatte.

Das Rifugio Quintino Sella ist ein zweistöckiges aus Stein errichtetes Gebäude, also keine alltägliche Hütte, das von einem Hüttenwart betrieben wird, der freilich zurzeit abwesend war. Er war verbeiständet von zwei weiblichen Personen, Strohwitwen. Man erhält volle Verpflegung und Proviant, schläft in guten Feldbetten, alles zu bescheidenen Preisen. S.A.C.-Mitglieder geniessen Rabatt für die Hüttentaxe. Den Viso sieht man von der Herberge aus nicht, er ist verdeckt durch einen höhern vor ihm von Nord nach Süd streichenden Felsgrat, um den auch die Nebel strichen. Doch morgens um 4% Uhr beim Aufbruch war alles klar, die Luft frisch. Über Schneereste, Geröll, Rasenpartien mit Fels durchsetzt, führte ein Steiglein, im obern Teil recht steil, durch ein Lawinencouloir zu einer Einsattlung des oben erwähnten Felsgrates, dem Col de Sagnette, von wo der Viso zum erstenmal sichtbar wurde. Im Glänze der Morgensonne schweifte südwärts der Blick über ein zahlloses Heer ziemlich gleichgeformter Bergspitzen von annähernd gleicher Höhe, aus dem sich nur einige markantere höhere und dominierende Gipfelgestalten erhoben, so die Argenterà und der Mont Clapier. Uns gegenüber zieht sich vom Viso ein zerzackter, ruinenhafter, schwarzer Felsgrat hinab, der mit dem von uns erreichten Grat eine Mulde bildet, die mit Schnee gefüllt zuerst sanft, dann steiler gegen den die Mulde nordwärts abschliessenden Felsturm des Viso ansteigt. Dieser Felsturm ( besser Felspyramide ) ist von zahlreichen zwischen zerborstenen, rotbraunen Felsbastionen zu Tal sich senkenden, meist mit Schnee erfüllten Couloirs durchzogen, durch welche der Aufstieg ausgeführt wird. Wir rasteten auf dem Col, stiegen dann in die Schneemulde ab und über hartgefrornen Schnee an gegen die Felsen des Viso. Die zwei ersten Seilschaften hatten Steigeisen, die dritte, die unsere, rückte etwas langsamer ohne solche bergan. Bei den Felsen angekommen, begann die Kletterarbeit. Kleinere Wandpartien wechselten mit Schuttbändern und Couloirs ab, doch war die Kletterei, da Griffe und Tritte reichlich sich fanden, nirgends von besonderer Schwierigkeit, verlangte indessen Vorsicht wegen der Steinfallgefahr durch losgebrochene oder losgetretene Steine für die zuletzt Gehenden, so dass man zeitweise aufeinander warten musste. Da ich seit einigen Jahren keine Klettertouren mehr ausgeführt hatte, begann ich nach und nach als zweiter der letzten, etwas zurückgebliebenen Seilpartie hinter dem führenden Dr. H. König zu ermüden. Der Monte Viso hatte sich während unseres Aufstiegs in Nebel gehüllt, wir waren schon fast sechs Stunden unterwegs, und ich dachte, bei meinem Alter sei es das klügste, an Ort und Stelle zu bleiben und die Rückkehr der andern abzuwarten. Die Spitze war noch etwa 100 m ob unserem Standpunkte. Mein Wunsch fand keine Gegenliebe. Dr. König brummte: « Nüt isch, du chunnsch ufe, sä, nimm e Schluck us der Flasche! » Er offerierte mir seine mit gezuckertem Tee gefüllte Flasche, da die meine sich im Rucksack des Führers befand. Der Schluck, ich nahm zwar drei, und währschafte, wirkte Wunder, es ging wieder ein Stück aufwärts, aber noch zweimal musste die Flasche angesetzt werden, um mich endlich auf die ersehnte Spitze des Viso zu bringen. 6% Stunden für nur 1350 m Anstieg bei fehlenden Schwierigkeiten! Ich musste mich fast schämen, und doch war ich froh, nicht ausgekniffen zu sein; ich würde es nachträglich bereut haben, so nahe dem Ziel die Flinte ins Korn geworfen zu haben. Wir hatten freilich wenig Wetterglück, die Nebel liessen keine Fernsicht zu, und die nähere Umgebung entbehrte des grandiosen Moments. Wie Geister, die sich jagten und verfolgten, sprangen die Nebel bald hierhin, bald dorthin, versteckten sich in den Klüften, wirbelten sich wieder in die Höhe, verschwanden stellenweise an einem Orte, um uns dafür um so stärker an einer andern Stelle zu foppen. Sie schienen zu sagen: O ihr armen Erdbewohner, bleibt, wo ihr hergekommen, dies hier ist unser Reich, unser täglicher Tummelplatz. Wir trotzten ihnen dennoch eine volle Stunde. Ich hatte mich von der Anstrengung des Anstiegs noch nicht voll erholt, und beim Abstieg befiel mich eine Art Gleichgültigkeit, eine Wurstigkeit gegen alles, was da kommen möge. Ich musste meine ganze Energie einsetzen, um sicher und vorsichtig niederzusteigen, und nur die Verantwortlichkeit gegen meine Seilgenossen, die ich nicht einer Gefahr aussetzen durfte, bewahrte mich vor unüberlegten Schritten. So wurde ich doch Meister meiner selbst, und mit dem Gelingen des Abstiegs kehrte auch das Gefühl der Sicherheit wieder und damit die Freude am Erfolg. Auf dem ebenen Gletscher angekommen, konnte man abseilen. Die Kameraden schlugen ein schnelleres Tempo an, ich folgte bedächtiger in Begleitung des Führers, vermied auch das nicht mehr gewohnte Stehendabfahren über die Lawinenreste unterhalb des Col de Sagnette, sondern stieg behutsam Schritt für Schritt die Hänge ab. Ohnedies hatte ich zudem beschlossen, noch eine fernere Nacht im Rifugio zu verbleiben, was auch einer der Jüngern noch tat.

Am Abend leistete ich den beiden Strohwitwen in der Küche, wo es am wärmsten war, Gesellschaft. Sie unterhielten mich mit der Erzählung ihrer Lebensschicksale und dem Betriebe im Rifugio. Am andern Morgen war wider Erwarten schönstes Wetter. Der Abstieg nach Crissolo bot mir und meinem Gefährten den Genuss eines herrlichen Tief- und Weitblicks der grossen Poebene sowie der Umgebung des Viso, und bei der Weiterfahrt im Auto gegen Saluzzo erhob sich machtvoll und glänzend weiss die schlanke Pyramide des Viso, dem Bietschhorn im Aufbau nicht unähnlich, über seine Umgebung, wie ein Bild aus einer andern, überirdischen Welt, ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Nach und nach blieb dann seine königliche Erscheinung zurück, kleiner und kleiner wurde seine Silhouette, und nachdem seine Umgebung hinter dem Grün der Hügel verschwunden war, verschwand auch er als Letzter dem Blick. Uns aber hat dieser Anblick entschädigt für die uns auf seinem Gipfel entgangene Rundschau.

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